Jahrbuch
für sexuelle Zwischenstufen.
II. Jahrgang.
I
Rosa Bonheur (nach der letzten Photographie),
berühmte französische Tiermalerin, verstorben im Mai
1899, seelisch und körperlich ausgesprochener Typus
einer sexuellen Zwischenstufe.
Jahrbuch
für
sexuelle Zwischenstufen
mit besonderer Berücksichtigung der
Homosexualität.
Herausgegeben
unter Mitwirkung namhafter Autoren
im Namen des
wissenschaftlich-humanitären Comitöes
von
Dr. med. Magnus Hirschfeld,
prakt. Arzt in Charlottenburg
II. Jahrgang.
Leipzig
Verlag von Max Spohr,
1900.
Inhalts- Verzeichnis.
Die Behandlung der Homosexualität von Dr. Albert
Moll-Berlin 1
Schlitzt § 175 RechtsgilterV 30
Ein bisher ungedrucktes Kapitel Uber Homosexualität aus
der Entdeckung der Seele von Prot Dr. Gustav
Jäger-Stuttgart 53
Päderastie und Tribadie bei den Tieren auf Grund der
Literatur von Prof. Dr. Karsch-Ber lin . . . 126
Säugetiere (Mammalia) 127
Vögel (Aves) 130
Lurche (Amphibia) 136
Insekten (Hexapoda) 136
Spinnentiere (Arachnoidea) 149
Literatur 155
Urteile römisch-katholischer Priester über die Stellung des
Christentums zur staatlichen Bestrafung der gleich-
geschlechtlichen Liebe. Erklärungen römisch-
katholischer Priester 161
Welche Stellung hat die christliche Kirche zu der gleich-
geschlechtlichen Liebe und ihrer staatlichen Be-
strafung einzunehmen? Von einem evange-
lischen Theologen 204
Die Frauenfrage und die sexuellen Zwischenstufen von
Dr. phiL Arduin-Berlin 211
17 Fälle von Koinoidenz von Geistesanomalien mit Pseudo-
hermaphroditismus von Dr. Franz v. Neugebauer-
Warschau 224
Michel Angelo's Urningtum von Dr. jur. N. Prätorius . 254
Georges Eekhoud. (Vorwort.) 268
- ti -
Ün illustre uraniste du XVHe. sieole J6rdme Duquesnoy
par G. Eeckhoud-Brtissel 27?
David und der heilige Angnstin, zwei Bisexuelle . 288
Aus dem Leben eines Homosexuellen, Selbstbiographie . . 295
Ein Fall von Effemination mit Fetischismus .... 324
Die Bibliographie der Homosexualität .für das Jahr 1899,
sowie Nachtrag zu der Bibliographie des ersten
Jahrbuchs von Dr. jur. N. Prätorius . 845
Zeitungsausschnitte 446
Aufruf 475
Abrechnung 479
Die Behandlung der Homosexualität
von
Dr. Albert Moll (Berlin).
Die Frage einer ärztlichen Behandlung des gleich-
geschlechtlichen Triebes ist im Laufe der letzten Jahre
oft erörtert worden. Die frühere Meinung, dass man von
jeder Behandlung absehen solle, hat dabei immer mehr
Anhänger verloren, ohne dass aber hinsichtlich aller ein-
schlägigen Fragen eine Uebereinstimmung erzielt worden
wäre. Die früher vielfach angenommene Unmöglichkeit^
den homosexuellen Trieb in einen heterosexuellen zu ver-
wandeln, hat jedenfalls angesichts einer ganzen Reihe
von Erfahrungen der letzten Jahre ihre Berechtigung
verloren. Am meisten Abneigung gegen eine Behand-
lung findet man wohl bei den Homosexuellen selbst.
Wollte man eine Abstimmung in den Kreisen der Homo-
sexuellen — sowohl der Männer als der Frauen — ver-
anstalten, so würde sich eine überwiegende Majorität
gegen die Behandlung aussprechen. Die meisten Homo-
sexuellen sind weder geneigt, ihren Trieb als einen krimi-
nellen oder unsittlichen noch als einen krankhaften hin-
zustellen, und eine gewisse Anerkennung der pathologischen
Natur ihres Triebes würde anscheinend in der Forderung
ärztlicher Behandlung liegen. Vergessen wir aber nicht,
dass bei den Homosexuellen dieselbe Erscheinung be-
obachtet werden kann, die man so oft im Leben findet,
dass nämlich jeder sich nach seinem individuellen Stand-
Jahrbuch IT. 1
punkt die Welt zurecht legt. Eine wirkliche Objektivi-
tät ist eine seltene Erscheinung. Objektivität ist aber
notwendig, um möglichst vielen gerecht zu werden. Selten
ist jemand dazu geneigt, seine eigenen Handlungen für
krankhaft oder verwerflich zu halten und ihre moralische
oder gerichtliche Verurteilung als berechtigt anzusehen.
Man sucht allerlei Gründe heraus, um zu beweisen, dass
der eigene Standpunkt der richtige sei, und dies ist auch
mit den Homosexuellen der Fall.
Es werden von Homosexuellen Analogien hervor-
gesucht, um zu beweisen, dass ihr Zustand nichts Krank-
haftes sei. Man weist darauf hin, dass es auch bei den
Thieren solche gebe, die unfruchtbar und doch nicht
krank sind, beispielsweise unter den Bienen. Die Natur
habe, so schliessen diese Leute, vielleicht einen bestimmten
Zweck im Auge gehabt, indem sie den Homosexuellen
ihren Trieb gab, ebenso, wie sie eine Absicht gehabt
habe bei den sich nicht fortpflanzenden Bienen. Indessen
darf man mit solchen Analogien nicht zu weit gehen.
Was für die Tiere gilt, braucht nicht für den Menschen
zu gelten. Der Umstand, dass die Natur eine bestimmte
Absicht gehabt habe bei der Schaffung der Homosexuellen
spräche an sich auch gar nicht gegen den Begriff der
Krankhaftigkeit. Es ist gerade in der neueren Zeit viel-
fach die Meinung geäussert worden, dass die Unfrucht-
barkeit mitunter für einen bestimmten Zweck recht vor-
teilhaft sei, trotzdem aber als krankhaft angesehen werden
müsse. Das Studium der Entartung hat ergeben, dass
sich bei den Nachkommen von Nervenkranken mitunter
die Störungen der Vorfahren in erhöhtem Grade bemerk-
bar machen, und dass schliesslich in der zweiten oder
dritten Generation die Entartungserscheinungen so sehr
zunehmen, dass damit auch eine Zeugungsunfähigkeit
einhergeht. Eis stammt etwa von einer hysterischen
Mutter eine Tochter, die in späteren Jahren geisteskrank
— 3 —
wird, und diese Tochter zeugt ein idiotisches Kind, bei
dem eine Fortpflanzungsmögliehkeit überhaupt nicht be-
steht. Es wird angenommen, dass die Natur in solchen
Fällen gewissermaßen eine Selbstkorrektur vornimmt,
um pathologische Individuen an der Fortpflanzung und
Weitervererbung ihrer für die Menschheit schädlichen
Eigenschaften zu verhindern. Daraus geht schon hervor,
dass etwas für die Allgemeinheit zweckmässig, trotzdem
aber beim Individuum krankhaft sein kann. Wenn also
auch die Natur bei den Homosexuellen ebenso eine Ab-
sicht gehabt hat, wie bei der Schaffung nicht fortpflanzungs-
fähiger Bienen, so folgt daraus noch gar nichts gegen
die Krankhaftigkeit dieser Affektion.
Auch der von psychiatrischer Seite gemachte Ein-
wurf, dass die Homosexualität an sich gar nichts Krank-
haftes sei, da sie sich bei vielen durchaus normalen
Schülern fände, entspringt einer irrtümlichen Auffassung.
Eine Erscheinung, die im Alter von IG, 17 Jahren nicht
krankhaft zu sein braucht, kann bei einem dreissigjührigen
Manne krankhaft; sein. Ein geistiges Niveau, das bei
einem dreijährigen Kinde normal ist, werden wir als
krankhaft ansehen müssen, wenn wir es bei einem zehn-
jährigen finden, und ähnlich liegt es mit homosexuellen
Erscheinungen. In der Zeit der frühen Jugend, d. h. der
des nicht differenzierten Geschlechtstriebes, über die ich
noch sprechen werde, kann es in der That vorkommen,
dass homosexuelle Erscheinungen auftreten, die man nicht
als etwas Krankhaftes anzusehen braucht. Ich betrachte
aber die ausgesprochene Homosexualität des erwachsenen
Individuums als eine durchaus pathologische Erscheinung.
In neuerer Zeit ist vielfach versucht worden, die
Homosexualität mit der Hermaphrodisie in Verbindung
zu bringen, indem man darauf hinwies, dass die Rudi-
mente weiblicher Geschlechtsorgane auch beim Manne,
die Rudimente männlicher Geschlechtsorgane auch beim
1*
Weibe uuter normalen Verhältnissen vorhanden sind.
Man hat nun, auf die Keimanlage zurückgehend, hieraus
weitere Schlüsse auch für die Homosexualität zu ziehen
gesucht, indem man sie auf die abnorme Entwicklung
einer Keimanlage zurückführte, die 'sonst latent bliebe.
Nach dieser Theorie, wird angenommen, dass jeder Mann
nicht nur die Keimanlage für weibliche und männliche
Geschlechtsorgane habe, sondern auch für beide Arten
des Triebes, das heisst für den zum Manne und den
zum Weibe. Bei dem normalen Manne blieben aber die
weiblichen Geschlechtsorgane nur rudimentär und ebenso
entsprechend der auf den Mann gerichtete Trieb , bei dem
homosexuellen Manne hingegen entwickele sich im
Widerspruch mit der peripheren Ausbildung der Ge-
schlechtsorgane der Trieb zum Manne, der normaliter
nur latent sei. Umgekehrt läge die Sache beim Weibe,
wo die männlichen Geschlechtsorgane als Rudiment vor-
handen sind, während sich beim homosexuellen Weibe
der Trieb zum Weibe abnormer Weise ausbilde.
Wenn wir uns auf diesen Standpunkt stellen,
werden wir die grosse Verwandtschaft, die die Homo-
sexualität mit gewissen Missbildunge n bietet, aner-
kennen müssen. Ein Mensch, der an den Geschlechts-
teilen äusserlich wie ein Weib gestaltet ist, aber dabei
männliche Hoden hat, wird von uns nicht in dem
gewöhnlichen Sinne als krank bezeichnet werden.
Wohl aber fassen wir derartige Missbildungen unter
dem viel weiteren Begriff des Krankhaften oder
Pathologischen zusammeu, und wir werden gerade solchen
Missbildungen die Homosexualität an die Seite stellen
müssen. Die Disharmonie des Geschlechtstriebes und der
Geschlechtsorgane bietet die grösste Verwandtschaft mit
den Missbildungen dar. Es ist auch bereits die Homo-
sexualität aus diesem Grunde mit der Zwitterbildung
verglichen worden, ja von Eduard von Hartmann
ist sogar der Name Leibseelenzwitter für diese Erscheinung
gebraucht worden.
Der Begriff der Krankhaftigkeit wird mitunter da-
von abhängig gemacht, ob etwas angeboren oder erworben
ist, und gerade für das Geschlechtsleben wird hierauf
besonderes Gewicht gelegt. Man will offenbar Zustände,
die durch grobe Unsittlichkeit und Ausschweifungen ent-
standen sind, nicht mit jenen, die auf einer angeborenen
Disposition beruhen, auf eine Stufe stellen. Nehmen wir
an, dass ein Mann nur Neigung zu unreifen Kindern hat,
und dass ihn allerlei Ausschweifungen zu dieser Neigung
gef ührt haben. Man ist in solchen Fällen nur zu leicht
geneigt, den Betreffenden, wenn er sich an einem Kinde
vergreift, als einen Lüstling, nicht aber als einen patho-
logischen Menschen anzusehen. Indessen kann ich diese
Auffassung nicht für ganz richtig halten. Wenn eine
bestimmte Erscheinung da ist, so kann der Begriff der
Krankhaftigkeit nicht davon abhängen, wie sie entstanden
ist. AVenn ich einen Menschen habe, der blödsinnig ist,
so ist es für die Zurechnung zum Krankhaften gl eichgiltig,
ob bei dem Betreffenden der Blödsinn angeboren oder
sonstwie entstanden ist. Der Begriff des Erworbenen
wird gern mit dem Begriff der Verschuldung zusammen-
gebracht, und damit w T ird ein Moment in die ärztliche
Wissenschaft hineingetragen, das eine moralische, vielleicht
auch eine forensische, jedenfalls aber keine ärztliche Be-
deutung hat. Es mag mir jemand, der eine angeborene
Krankheit hat, sympathischer sein als ein mit einer er-
worbenen Krankheit behafteter, weil er sie nicht selbst
verschuldet hat. Die Krankhaftigkeit des Zustandes darf
aber nicht nach einer derartigen Sympathie oder Anti-
pathie beurteilt werden. Die Differenzen über die Frage
ob die Homosexualität eine angeborene oder erworbene
Erscheinung ist, haben also für die Frage ob sie krank-
haft ist oder nicht, keine Bedeutung.
Ich sprach bereits früher von den Beziehungen der
Homosexualität zu den Missbildungcn. Diese Erörterungen
sind auch für die Frage der ärztlichen Behandlung von
grosser Bedeutung. Denn selbst diejenigen Homosexuellen,
die sich nicht als krank betrachten, werden dann in der
Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung keineswegs
etwas zu sehen brauchen, was ihre Krankheit bewiese.
Man braucht sich dann darüber nicht erst langen Dis-
kussionen hinzugeben, da ja auch Menschen, die nicht in
dem gewöhnlichen Sinne des Wortes krank sind, oft
genug einer ärzlichen Behandlung bedürfen. Jemand, der
eine angeborene Hasenscharte hat, ist nicht krank; aber
die Hasenscharte ist als etwas Krankhaftes anzusehen,
und jedenfalls sind die sozialen Schädigungen durch eine
solche Missbildung derartig grosse, dass der Betreffende
gern von seiner Missbildung befreit sein möchte. Wir
können bei der Homosexualität etwas Aehnliches fest-
stellen. Der Betreffende ist durch die Homosexualität
oft ganz erheblich sozial geschädigt; ob mit Recht oder
mit Unrecht, soll hier nicht untersucht werden, ebenso-
wenig, wie es untersucht werden soll, ob jemand, der
eine Hasenscharte hat, deshalb die Schädigung mit Recht
erfährt. Jedenfalls besteht diese, ohne dass der Betreffende
sie irgendwie verschuldet hätte.
Wenn wir dies berücksichtigen, werden wir auch aus
rein ausser! ichen Gründen die Frage einer Behandlung
der Homosexualität in Erwägung ziehen müssen, und
zwar zunächst ganz unabhängig davon, ob diese krank-
haft ist oder nicht. Thatsächlich ist der Homosexuelle
heute zahlreichen Gefahren ausgesetzt. In den meisten
Kreisen der Heterosexuellen wird schliesslich die Homo-
sexualität oder vielmehr der homosexuelle Geschlechts-
verkehr als etwas besonders Unsittliches angesehen. Der
Betreffende ist in den meisten Kreisen, wenn sein Ver-
kehr bekannt wird, sozial geächtet. Auch Männer, die
im heterosexuellen Verkehr die perversesten Handlungen
für erlaubt halten und selbst ausführen, erblicken in dem
homosexuellen Verkehr von Männern oder auch von
Frauen etwas Verdammenswertes. Sogar in den Kreisen
der prostituirten Frauen, wo die Homosexualität stark
blüht, wird der homosexuelle Verkehr geächtet, und manche
Prostituirte sucht ihn Anderen gegenüber zu verschweigen,
bloss aus Furcht, sonst besonders vei achtet zu werden.
Teilweise hat sich zwar in den Ki eisen gebildeter Männer
der Abscheu gegen den homosexuellen Verkehr im Laufe
dor letzten Jahre, und zwar auf Grund der wissenshaft-
lichen Forschungen, etwas gemindert, aber bei der Masse
des Volkes besteht er zweifellos nach wie vor.
Wir haben ferner mit der Thatsache zu rechnen,
dass mancher homosexuelle Verkehr immer noch unter
Strafe gestellt ist, so dass hieraus für den Homosexuellen
besondere Schwierigkeiten hervorgehen. Von dieser
Furcht vor Strafe oder gesellschaftlicher Aechtung leben
eine ganze Anzahl Menschen, die die Angst der Homo-
sexuellen zu allerlei Erpressungen benutzen. Mehrfach
ist bereits ein vollständiger Vermögensverlust Homo-
sexueller dadurch herbeigeführt worden. Diese fort-
währenden Aufregungen, die die Furcht vor Erpressungen
Strafen u. s. w. mit sich bringt, sind natürlich auch in
gesundheitlicher Beziehung nicht gleichgültig. Manche
neurasthenische Erscheinung, die sich bei Homosexuellen
findet, darf auf diese beständigen Erregungen zurückge-
führt werden. Zwar gehen viele nervöse Symptome aus
der allgemeinen neuropathischen und psychopathischen
Konstitution einer grossen Zahl Homosexueller hervor;
es ist aber nicht mit Unrecht darauf hingewiesen worden,
dass diese fortwährende Angst vor Entdeckung auch
einen Teil der Ursachen bildet. Endlich werden wir fest-
stellen müssen, dass, selbst wenn die Vorurteilslosigkeit
noch so gross wird, gewisse Formen der Homosexualität
doch stets unter Strafe gestellt bleiben werden, nämlich
der Verkehr mit Knaben. Es giebt aber eine Anzahl
Homosexueller, die allerdings die Minorität bilden, bei
denen die Neigung auf derartige uureife Individuen ge-
richtet ist, ähnlich wie es Männer mit Neigung zu un-
reifen Mädchen giebt
Alle die.se Momente lassen dem Homosexuellen oft
eine ärztliche Beeinflussung seines Triebes wünschens-
wert erscheinen.
Auch das Unvermögen zahlreicher Homosexueller,
den Koitus mit dem Weibe auszuüben und der Wunsch,
sich einen eigenen Hausstand zu gründen und Nach-
kommenschaft zu zeugen, spielen weiter als Beweggründe
zur ärztlichen Behandlung eine grosse Rolle. In einzelnen
altadeligen Familien kann besonders das letztere Moment
eine hohe Bedeutung gewinnen. Der Wunsch der Ange-
hörigen des Homosexuellen oder der des letzteren selbst,
den Stamm nicht erlöschen zu lassen, bringt das Ver-
langen zur Ehe und zur Fortpflanzung hervor. Nun ist
aber die Homosexualität oft mit einer Impotenz gegen-
über dem weiblichen Geschlecht verbunden, und ganz
besonders ist dies in den schwersten Fällen, wo eine voll-
ständige Umkehrung des Geschlechtstriebes vorliegt, ge-
wöhnlich der Fall. Ein homosexueller Mann, der nur
gegenüber dem erwachsenen reifen Manne sexuelle Em-
pfindungen hat, zeigt häufig grossen Abscheu gegenüber
der körperlichen Berührung durch das Weib. Die Ekel-
gefühle wiegen dann so stark vor, dass selbst unter Zu-
hilfenahme von allerlei Phantasievorstellungen und künst-
lichen Erregungsmitteln eine Erektion, die Vorbedingung
zum Koitus, nicht zu Stande kommt. Jedenfalls giebt
es Fälle, wo die Impotenz gegenüber dem Weibe den
Homosexuellen zum Arzt führt.
Was übrigens den letzteren Fall betrifft, wo sich der
Homosexuelle an den Arzt wendet, um Kinder zeugen zu
— 9 -
können, so muss hier eine besondere Erwägung stattfinden.
Soll der Arzt sein Möglichstes thun, den Homosexuellen
zur Fortpflanzung fähig zu machen oder nicht? Wir
haben zu bedenken, dass die Homosexualität vielfach als
ein Degenerationszeichen, und zwar als ein schweres an-
gesehen wird. Freilich bestreiten viele Homosexuelle
die Berechtigung zu dieser Annahme, und man kann auch
mitunter selbst bei eifrigem Nachforschen in der Familie
keine erblich belastenden Momente finden. Andererseits
aber bin ich auf Grund zahlreicher Erfahrungen zu der
Ueberzeugung gekommen, dass in der Mehrzahl von Fällen,
insbesondere bei einer Umkehrung des Geschlechtstriebes,
schwere belastende Affektionen in der Familie festgestellt
werden können: Geisteskrankheit der Eltern oder eines
derselben, Geisteskrankheit der Geschwister, Selbstmorde?
Zwangsvorstellungen, Hysterie, Epilepsie und das ganze
Heer der übrigen erblichen belastenden Momente finden
sich in mehr oder weniger grosser Zahl. Und wenn wir
bedenken, dass durch die Fortpflanzung des Homosexuellen
die weitere Vererbung, ja die Vermehrung der Belastung
für die Nachkommenschaft zu befürchten ist, so werden
wir uns immerhin die Frage vorzulegen haben, ob wir
Aerzte dazu unsere Hilfe gewähren sollen. Eine kleine
Abschweifung über den Beruf des Arztes mag hier ein-
geschaltet werden.
Hat der Arzt überhaupt die Aufgabe, für das Wohl
der nächsten Generation, die noch gar nicht vorhanden
ist, zu sorgen? Die Stellung des Arztes kann man im
Grossen und Ganzen als ein rein persönliches Vertrags-
verhältniss zwischen ihm und seinem Klienten betrachten.
Der Arzt hat auf Grund dieser Beziehungen für die Ge-
sundheit eines Patienten zu sorgen. Die praktischen Ver-
hältnisse haben allerdings längst zu einer Erweiterung
dieser Aufgabe geführt. Der Geburtshelfer hat die Pflicht,
nicht nur für die Gesundheit der Gebärenden, sondern
— 10 —
auch für die des Kindes nach Möglichkeit Sorge zu tragen.
Hier konnte man aber annehmen, dass die Pflicht, für
das zu gebärende Kind zu sorgen, aus dem Vertragsver-
hältniss hervorgeht, das zwischen dem Arzt und der Ge-
bärenden besteht. Wenn aber das Kind überhaupt noch
nicht gezeugt ist, so liegt die Sache anscheinend anders.
Wir haben aber zu berücksichtigen, dass der Arzt ausser
seiner unmittelbaren Berufspflicht gegenüber seinen Klienten
auch andere Pflichten hat, und zwar hat er besondere
Pflichten gegen den Staat, als Mensch auch allgemeine
moralische Pflichten gegenüber der Gesellschaft. Die An-
zeigepflicht bei Seuchen ist z. B. eine Pflicht, die dem Staate
gegenüber erfüllt wird. Als Mensch hat er für die
Brauchbarkeit der kommenden Generation mit zu sorgen.
Setzen wir einmal folgenden Fall, ohne zunächst zu
berücksichtigen, ob er thatsächlich vorkommt oder nur
theoretisch konstruirbar ist. Es ist bei einer Ehe mit
Sicherheit die Zeugung idiotischer Kinder vorauszu-
sehen; der Ehemann hat den ausgesprochenen Wunsch,
Kinder zu zeugen, die Anwendung von Präservativmitteln
13t also nicht zu erwarten. Es wird unter diesen Um-
ständen gewiss niemand verlangen, dass der Arzt durch
seine Ratschläge die Zeugung noch erleichtert. Minde-
stens wird man den Arzt, der in solchem Falle die Be-
handlung einer Impotenz ablehnt, einen Vorwurf kaum
machen dürfen. Der Arzt sorgt dann allerdings nicht
für die Gesundheit seines Klienten, weil er durch eine
höhere Pflicht davon abgehalten wird. Er erfüllt eine
allgemein menschliche Pflicht, wenn er in einem solchen
Falle die Behandlung verweigert. Er lehnt es gewisser-
maßen ab, den gewünschten Vertrag mit seinem Klienten
einzugehen.
Nehmen wir nun den Fall an, dass ein Homo-
sexueller die Behandlung wünscht, um Kinder zeugen zu
können, der Arzt aber fest überzeugt ist, dass nur schwer
— 11 —
degenerierte Nachkommen gezeugt werden würden. Hat
in diesem Falle der Arzt das Recht, die Behandlung ab-
zulehnen, oder muss er dem Wunsche des Patienten nach-
kommen? Ich habe keinen Zweifel, dass der Arzt sehr
wohl berechtigt ist, die Behandlung abzulehnen; denn er
hat sich weder durch seine Niederlassung, noch auch
sonst irgendwie verpflichtet, Jeden bedingungslos zu be-
handeln ; er wird vielmehr stets seine allgemeinen Beding-
ungen für die Behandlung aufstellen dürfen, und wenn
dies der Fall ist, ist der Arzt auch berechtigt, aus all-
gemein menschlichen Motiven, z. B. wenn er glaubt, dass
aus der Behandlung Unheil hervorgehen muss, diese ab-
zulehnen. In Wirklichkeit wird natürlich kaum jemals
mit Sicherheit vorausgesagt werden können, dass schwere
Degeneration bei den Kindern auftreten wird. Es giebt
aber Fälle, wo dies mit einer grossen Wahrscheinlichkeit
vorausgesehen werden kann: wenn nämlich viele und
schwere belastende Krankheiten in der Familie vorge-
kommen sind und der betreffende Homosexuelle selbst
schwere Degenerationszeichen darbietet. In solchen Fällen
halte ich den Arzt für berechtigt, ja unter Umständen
für verpflichtet, den W r unsch des Patienten abzuschlagen.
Im Grossen und Ganzen wird dies aber kaum oft der
Fall sein. Meistens sind diese oder jene Degenerations-
zeichen in der Familie vorgekommen; aber nur selten
kann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine Degene-
ration der Nachkommen vorausgesagt werden. Daher wird
der Arzt, wenn wir von den oben angedeuteten seltenen
Ausnahmefällen absehen, vom ärztlichen und vom rein
menschlichen Standpunkt aus, durchaus berechtigt sein,
die Homosexualität des Patienten in Behandlung zu neh-
men und den Versuch zu machen, ihn in einen Hetero-
sexuellen zu verwandeln.
* *
*
— 12 —
Mehrfach wurde vorgeschlagen, prophylaktische
Maassregeln zu ergreifen, die die Entwickelung der Homo-
sexualität hindern sollen. Sie lassen sich aber praktisch
nicht so einfach durchführen, abgesehen davon, dass ihr
Wert selbst teilweise noch recht problematisch ist. Es
wird besonders auf eine gute psychische und moralische
Erziehung, auf Vermeidung der Masturbation, auf Ver-
hinderung eines zu ze : tigen Erwachens des Geschlechts-
triebes hingewiesen. Auch der Verkehr mit Mädchen
und besonders die gemeinsame Erziehung mit ihnen wird
angeraten.
Vorbeugungsmassregeln kann man nun gegen die
Homosexualität in zweifacher Weise anwenden; erstens
indem man alle Kinder prophylaktisch erzieht, damit sich
eine Homosexualität nicht entwickelt, und zweitens indem
man bei Kindern, die zur Homosexualität disponiert sind,
in der angedeuteten Weise Massregeln ergreift. Was aber
den letzteren Punkt betrifft, so ist gerade die Feststellung
der Disposition zur Homosexualität nicht ganz leicht.
Dies wird klarer werden, wenn wir uns über die ange-
borene und erworbene Homosexualität aussprechen. Es
werden gewöhnlich diese beiden Formen unterschieden,
doch ist diese strenge Scheidung nicht ganz gerechtfertigt.
Um uns aber zu verständigen, bemerke ich, dass das Wort
„angeboren" nicht ganz genau ist und besser durch das
Wort „ eingeboren* ersetzt wird; auch der normale Ge-
schlechtstrieb ist nicht etwas Angeborenes, sondern höch-
stens kann man sagen, dass die Disposition, die Anlage
dazu angeboren ist. Angeboren kann nur das sein, was
im Augenblicke der Geburt vorhanden ist, nicht aber
das, was sich später entwickelt. So ist auch der Bart
nicht angeboren, die Zähne sind nicht angeboren, sondern
nur die Keime dazu. Diese Scheidung von Angeborenem
und Eingeborenem ist nicht ganz gleichgiltig, weil sonst
nur zu leicht Miss Verständnisse eintreten. Ich erwähnte
— 13 —
eben schon, dass auch der normale Geschlechtstrieb nicht
etwas Angeborenes, sondern etwas Eingeborenes ist, da
er sich ja erst Jahre nach der Geburt entwickelt.
Wir haben zunächst zu untersuchen, ob sich nicht
auch hei angeborener Disposition zum normalen Geschlechts-
trieb ein homosexueller entwickeln kann. Zur Entwicke-
lung des normalen Triebes sind auch bei angeborener An-
lage zu demselben günstige Bedingungen notwendig, ebenso
wie zur Entwickelung der normalen Zähne. Zähne, die
die Neigung haben, gerade zu wachsen, können sich unter
Umständen schief entwickeln, wenn man künstliche Wider-
stände schafft, das heisst die normale Anlage kommt nur
dann zur Entwickelung, wenn auch normale Bedingungen
vorhanden sind, und ebenso können wir annehmen, dass
auch der normale eingeborene Geschlechtstrieb nur dann
zur Entwickelung kommt, wenn günstige Bedingungen
vorhanden sind. Ist dies nicht der Fall, so könnte sehr
wohl durch Einflüsse intra vitam eine Abänderung des
Triebes eintreten. Ein dauerndes Zusammensein mit dem
männlichen Geschlecht könnte bei solcher Disposition
vielleicht dazu führen, dass sich die Heterosexualität nicht
entwickelt. Würde aber nun hieraus etwa jemand den
Schluss ziehen, dass mithin der homosexuelle Trieb etwas
Erworbenes sei, so ist darauf zu erwidern, dass dieser
Schluss gerade verkehrt ist. Denn beim normalen Knaben
führt ein lange dauerndes Zusammensein mit männlichen
Personen durchaus nicht zur Homosexualität. Wenn sich
diese also doch entwickelt, darf eine angeborene Anlage
zu ihr vermutet werden.
Ausserdem sprechen zahlreiche Analogien dafür, dass
man wenigstens in einer grossen Anzahl von Fällen eine
angeborene Anlage für die Homosexualität annehmen
muss. Die Richtung des Geschlechtstriebes gehört zu
den sogenannten sekundären Geschlechtscharakteren, ähn-
lich wie der Bart des Mannes, die Brustdrüse des Weibes,
— 14 —
die spezifisch männliche und spezifisch weibliche Kehl-
kopfbildung usw. usw. Ebenso aber, wie wir finden, dass
auch von diesen körperlichen Geschlechtscharakteren oft
genug der eine oder der andere auf das falsche Geschlecht
übergeht, das heisst sich konträr entwickelt, ebenso können
wir dies auf Grund der Analogie von dem Geschlechts-
triebe a priori vermuten.
Erkennen wir aber auch an, dass die Anlage zu der
Homosexualität angeboren ist, so folgt daraus nicht, dass
sich die Homosexualität entwickeln muss. Aehnlich
vielmehr, wie wir beim normalen Triebe sahen, dass ausser
der angeborenen Anlage günstige Bedingungen im Leben
notwendig sind, um ihn zur Entwickelung kommen zu
lassen, ebenso ist es denkbar, dass auch der homosexuelle
Trieb durch günstige Massnahmen intra vitam an der
Entwickelung gehemmt werden kann, selbst wenn die An-
lage zu ihm vorhanden ist. Dasselbe folgt auch aus der
ärztlichen Umwandlung des homosexuellen Triebes in den
heterosexuellen. Es ist in neuerer Zeit mehrfach von
Erfolgen in dieser Beziehung berichtet worden. Wenn
aber hieraus bedingungslos auf das Erworbene des homo-
sexuellen Triebes geschlossen wird, so ist dies insofern
falsch, als auch eingeborene Eigenschaften zuweilen um-
gewandelt werden können. Man wird daraus ersehen, wie
schwierig es ist, die scharfe Trennung in eingeborene und
erworbene Homosexualität aufrecht zu erhalten. Ohne
eine angeborene Anlage wird sich schwerlich eine Homo-
sexualität entwickeln.
Es ist nun behauptet worden, dass sich durch ge-
eignete prophylaktische Massregeln bei dem Individuum
die Entwickelung der „erworbenen* Homosexualität ver-
hindern lasse. Wir haben aber eben gesehen, dass man
den Wert der prophylaktischen Massregeln für die er-
worbene Form schon deshalb nicht überschätzen darf,
weil die scharfe Trennung in erworbene und angeborene
— 15 —
Homosexualität nicht berechtigt ist. Daraus folgt natür-
lich nicht, dass man keine prophylaktischen Massregeln
ergreifen soll. Denn wie ich bereits erwähnte, können
angeborene Dispositionen durch geeignete Massregeln mit-
unter beeinflusst werden, und in dieser Beziehung ist auch
von anderer Seite vorgeschlagen worden, prophylaktische
Massregeln bei Kindern zu ergreifen, die Neigung zur
Homosexualität zeigen. Aber auch in dieser Hinsicht
müssen wir deshalb vorsichtig sein, weil sich die ange-
borene Disposition zur Homosexualität keineswegs so leicht
feststellen lässt.
Viele Männer und Frauen, die sich später homo-
sexuell entwickelt haben, geben an, dass sie stets in ihrer
Kindheit nur für das gleiche Geschlecht Neigung hatten,
dass sie bereits lange vor der Mannbarkeit derartige
Neigungen gehabt hätten. Man könnte anscheinend hier-
aus schliessen, dass alle Kinder, bei denen sich Neigung
zum gleichen Gechlecht zeigt, als zur Homosexualität
disponierte angesehen werden müssen. Ebenso geben viele
später homosexuell gewordene Männer an, dass sie schon
in der Kindheit das Wesen kleiner Mädchen hatten, sie
hätten mit Puppen gespielt, die wilden Knabenspiele ver-
abscheut, Handarbeiten und dergleichen seien ihre Lieb-
lingsbeschäftigung gewesen. Man hat also hierin an-
scheinend gewisse Anhaltepunkte, die homosexuellen Dis-
positionen fest zu stellen. Was aber die gleichgeschlecht-
lichen homosexuellen Neigungen in der Kindheit betrifft,
so wollen wir nicht vergessen, dass die Kinder sie auf
jede Weise zu verheimlichen suchen, und es wird jeden-
falls in zahlreichen Fallen gar nicht leicht sein, bei den
leidenschaftlichen Freundschaften zwischen Knaben oder
auch den leidenschaftlichen Neigungen eines Knaben zu
seinem Lehrer den sexuellen Hintergrund fest zu stellen.
Hierzu kommt aber noch ganz besonders der Umstand,
dass homosexuelle Neigungen in der Kindheit und mädchen-
— 16 —
hafte Neigungen von Knaben, knabenhafte von Mädchen
keine homosexuelle Disposition für später verraten. Es
wurde in neuerer Zeit, besonders von Max Dessoir, darauf
hingewiesen, dass der Geschlechtstrieb zwei Perioden dar-
bietet, eine, wo er undifferenziert ist, und eine andere, wo
er differenziert ist. Vor der Pubertät, manchmal auch
während der ersten Jahre derselben, zeigt sich der un-
differenzierte Geschlechtstrieb. Die sexuelle Neigung des
Betreffenden richtet sich dann auf irgend ein beliebiges
Objekt, mag es ein Mann oder ein Weib, ein Knabe oder
ein Mädchen sein; ja selbst Thiere sind nicht ausge-
schlossen. Nur vom Zufall soll es abhängen, wohin sich
der Trieb wendet Aus diesem undifferenzierten Ge-
schlechtsgefühl entwickelt sich später das differenzierte,
indem um die Zeit der Pubertät herum beim normalen
Menschen die Neigung zum anderen Geschlecht mächtig
hervorbricht Die früheren gleichgeschlechtlichen Neig-
ungen des betreffenden Knaben haben also keine Be-
deutung für die spätere Homosexualität; sie waren viel-
leicht nur dem Zufalle zuzuschreiben. Würde man nun
bei irgend welchen Knaben solche homosexuellen Leiden-
schaften im Alter von 12, 13, 14, 15 Jahren finden, so
geht daraus noch nicht hervor, dass der Betreffende zur
Homosexualität disponiert ist Wir haben fest zu halten,
dass nicht der heterosexuelle Trieb als solcher, sondern
nur die Anlage dazu angeboren ist, und die heterosexuelle
Anlage zeigt sich gerade darin, dass zur Zeit der Pubertät
der heterosexuelle Trieb mächtig durchbricht. Jedenfalls
ersieht man daraus die grossen Schwierigkeiten, die eine
Erkennung der homosexuellen Disposition bietet Hinzu-
kommt mit Rücksicht auf die Häufigkeit, mit der Homo-
sexuelle angeben, dass sie immer, auch vor der Pubertät
homosexuell gefühlt hätten, ein anderes Moment, worauf
gleichfalls hingewiesen werden muss. Jeder Mensch er-
innert sich mit Vorliebe dessen, was ein besonderes In-
— 17 —
teresse für ihn bietet. Homosexuelle Leidenschaften des
Knaben bieten dem homosexuellen Jüngling und dem Manne
viel mehr Interesse dar als die heterosexuellen Neigungen
in der Kindheit; daher werden die letzteren viel leichter
vergessen als die ersteren, und der Betreffende, der immer
davon spricht, er habe in der Kindheit homosexuell ge-
fühlt, hat in Wirklichkeit oft das heterosexuelle Fühlen
nur vergessen. Es ist eben zu betonen, dass auch bei
angeborener Homosexualität der Geschlechtstrieb zunächst
noch durchaus undifferenziert sein kann, dass vor der
Pubertät noch allerlei Neigungen zum anderen Geschlecht
bestehen können, während sich erst später die Neigung
zum gleichen Geschlecht deutlich ausbildet, obwohl sie
auf einer angeborenen Anlage beruht.
Wir haben gesehen, dass man sehr schwer die ange-
borene Disposition zur Homosexualität mit einiger Sicher-
heit in der Kindheit zu erkennen vermag. Wenn man
also die angedeuteten prophylaktischen Massregeln er-
greifen will, so wird man dies gegenüber allen Kindern
thun mülsen. Mit dieser Auffassung harmoniert es natür-
lich auch vollständig, dass man allerlei weibische Eigen-
tümlichkeiten von Knaben, und ebenso männliche der
Mädchen unterdrükt; denn man hat die Nichtentwickelung
solcher Eigenschaften bei allen Kindern zu beachten.
Wenn also Knaben sich gern mit weiblichen Toiletten-
gegenständen beschäftigen, so hat man dies möglichst zu
verhindern, und ebenso hat man auf andere derartige
Vorkommnisse zu achten. Denn wenn auch solche Dinge
vor der Mannbarkeit nicht als ein sicheres Zeichen für
die Entwickelung der Homosexualität angesehen werden
dürfen, so ist es doch möglich, dass hierin mit einer ge-
wissen W ahrscheinlicbkeit eine Disposition zur Homo-
sexualität erblickt werden darf. Jedenfalls wird man
schon auf Grund theoretischer Erwägungen solche ver-
kehrte Eigenschaften möglichst unterdrücken müssen.
Jahrbuch II. * * * 2
— 18 —
Ich habe früher verschiedene Motive erwähnt, die
den Homosexuellen zur ärztlichen Behandlung fuhren.
Wir haben hierin schon einen deutlichen Hinweis darauf,
dass wir die Fälle nicht schablonenmässig in gleicher
Weisse abthun dürfen. Während in dem einen Fall der
Wunsch, den homosexuellen Trieb beseitigt oder doch
gemildert zu sehen, den Homosexuellen zum Arzt fuhrt,
ist es in dem anderen der Wunsch, heterosexuell ver-
kehren zu können.
Wenn wir nun an eine Umwandlung des homosexuellen
Geschlechtstriebes denken, so werden wir selbstverständ-
lich in erster Linie psychische Mittel in Anwendung ziehen
müssen. Zwei Dinge sind es insbesondere, die hier in Be-
tracht kommen : erstens die Selbsterziehung des Patienten,
und zweitens die Suggestionsbehandlung. Es geht vielen
Homosexuellen so wie manchen anderen Patienten, dass
sie, wenn sie eine Umwandlung des perversen Triebes
wünschen, dies ganz und gar ohne ihr eigenes Zuthun
geschehen lassen möchten. Gewissennassen durch eine
Fremdsuggestion soll die Umwandlung bewirkt werden.
Diese Art der Umwandlung wäre allerdings sehr bequem;
sie beruht aber oft auf einer Selbsttäuschung. Es ist
unbedingt erforderlich, dass die Suggestionsbehandlung
durch die Selbsterziehung des Patienten ergänzt werde
und hierzu gehört, dass er sich nie willkürlich seinen
perversen Gedanken hingiebt.
Wenn wir uns das psychische sexuelle Leben der
Menschen ansehen, so zeigt sich sowohl für die meisten
Perversen wie für die meisten Normalen Folgendes. Es
treten öfters sexuelle Gedanken auf, die dem Geschlechts-
trieb des Betreffenden entsprechen. Es kann vorkommen,
dass diese Gedanken mit einer solchen Macht auf die
Person einstürmen, dass selbst der festeste Vorsatz sie
nicht zu unterdrücken vermag; es kommt aber auch gar
nicht so selten vor, dass sich der Betreffende, nur weil er
— 19 —
gerade Zeit und Lust hat, vielleicht weil er sich gerade
langweilt, seinen sexuellen Gedanken hingiebt. Diesen
Vorgang hat Hufeland als geistige Onanie bezeichnet.
Bei dieser geistigen Onanie giebt sich nun Jeder selbst-
verständlich den ihm persönlich sympathischsten Gedanken
hin : der Heterosexuelle wird sich ein ihm sympathisches
Weib vorstellen, der Homosexuelle einen ihm sympathi-
schen Mann. Wenn es gelingen soll, die Verbindung
zwischen organischem Geschlechtsleben und Vorstellung
des Mannes zu beseitigen, so wird es natürlich notwendig
sein, dass der Betreffende selbst nach dieser Richtung hin
alles Mögliche thut. Es muss ihm eingeschärft werden,
dass er sich niemals willkürlich homosexuellen Gedanken
hingebe. Drängen diese unwillkürlich auf ihn ein, so
kann er sich ihrer freilich nicht erwehren, und dies wird
oft genug der Fall sein. Aber die willkürliche geistige
Onanie mit den perversen Gedanken muss durchaus be-
kämpft werden, wenn dies auch bisweilen nur unter Ueber-
windung grosser Schwierigkeiten gelingt.
Besonders werden diese Schwierigkeiten dann vor-
handen sein, wenn der Betreffende eine innige Liebe zu
einem Manne gefasst hat. Denn der Gedanke an den
Geliebten wird ihm dann viel zu teuer sein, als dass er
sich leichten Herzens entschlösse, ihn freiwillig aufzugeben.
Die Vorstellung des Geliebten bietet für ihn, selbst wenn
er keine Gegenliebe findet, so viel Heiz, dass er sich
immer und immer wieder diesen Gedanken hingeben
wird. Es ist allerdings auch nicht gerade wahrscheinlich,
dass sich ein solcher Mann an den Arzt wendet, um von
seiner Liebesleidenschaft geheilt zu sein. Wenigstens
dürfte dieser Fall nur verhältnismässig selten vorkommen.
Am ehesten ist es dann noch zu erwarten, wenn der
Betreffende durch seine Vorstellungen von jeder ernsten
Arbeit abgezogen wird, so dass er sich an jeder Thütig-
kcit gehindert sieht.
— 20 -
In neuerer Zeit ist zur Bekämpfung der sexuellen
Perversionen die Suggestionsbehandlung und be-
sonders die in der Hypnose vorgeschlagen worden.
Sicherlich kann man in einer Reihe von Fällen gute
Resultate damit erzielen; nur wird man stets auf eine
Gesamtbehandlung sein Augenmerk zu richten haben.
Der Homosexuelle selbst wird sich sagen müssen, dass
er bei der Suggestionsbehandlung nicht thun und lassen
kann, was er will, sondern dass diese nur einen Teil der
gesamten Therapie ausmacht. Unter solcher Voraus-
setzung kann die hypnotische Behandlung mit gutem
Erfolg angewendet werden. Dieser wird nicht selten von
der Tiefe der Hypnose abhängig sein. Ein deutlicher
Horror feminae wird sich nicht leicht in einer oberfläch-
lichen Hypnose beseitigen lassen. Hingegen kann bei
starker Empfänglichkeit sehr wohl ein Erfolg erzielt
werden. Aber man stelle ihn sich nicht zu leicht vor,
und glaube nicht etwa, dass man durch planloses Sugge-
rieren zu wesentlichen Erfolgen kommen wird.
Es wird von einzelnen Aerzten den Homosexuellen
empfohlen, sexuellen Verkehr mit dem weib-
lichen Geschlecht, natürlich ausserhalb der Ehe,
zu suchen. Man erteilt ihnen den Rat, in Bordelle zu
gehen, oder sonst heterosexuellen Verkehr zu suchen.
Dies soll wesentlich zur Umwandlung des Geschlechts-
triebes beitragen.
Die sittliche Bedeutung dieser Frage will ich hier
ausser Acht lassen, und zwar aus mehren Gründen. Ich
müsste sonst zunächst eine Auseinandersetzung darüber
machen, ob der sexuelle Verkehr eines Unverheirateten
mit einer Puella publica, deren Gewerbe gewissennassen
vom Staate sanktioniert ist, — er nimmt ja Steuern von
ihr — sittlich überhaupt so sehr verurteilt werden kann.
Ich müsste ferner erörtern, ob die Ehe nicht sittlich
mitunter tiefer steht (z. B. wenn es sich um eine reine
Geldheirat handelt), als der Geschlechtsverkehr zweier
Unverheirateter, die einander lieben, aber aus irgend
welchen Gründen eine Ehe nicht eingehen können. Wenn
man aber auch selbst vom sittlichen Standpunkt aus
jeden ausserehelichen Verkehr bekämpft, so wird sich
daran doch noch die weitere Frage knüpfen, ob nicht
eine sonst anfechtbare Handlung dadurch, dass sie einem
hohen Zwecke dient, gerechtfertigt werden kann, das
heisst, ob in dem vorliegenden Falle ein ausserehelicher
Verkehr seine Entschuldigung darin findet, dass er der
Herstellung der Gesundheit dient. Wohl weiss ich, dass
strenge Moraltheoretiker, ganz abgesehen von dem grossen
Heer der Heuchler, diese Frage verneinen würde. Eine
ausführliche Besprechung der Frage würde aber vom
Thema zu sehr ablenken, und ich möchte deshalb diese
rein ethischen Fragen hier möglichst unerörtert lassen
und will mich lediglich auf den medizinischen Stand-
punkt beschränken.
In dieser Beziehung muss doch der planlos gegebene
Rat, Bordelle zu besuchen, mit Misstrauen betrachtet
werden. Berücksichtigen wir zunächst die Infektions-
gefahr. Ich gebe ohne Weiteres zu, dass die Gefahren
in Bordellen und bei der polizeilich überwachten Prosti-
tution oft geringer sind als wenn ein sonstiger ausser-
ehelicher Geschlechtsverkehr stattfindet; denn gerade in
dem letzteren Falle ist die Infektionsgefahr mitunter be-
sonders gross. Bei vielen polizeilich nicht überwachten
weiblichen Personen ist eine Infektion vorhanden, die oft
Wochen, Monate und Jahre besteht, ohne dass die Be-
treffende ihren Verkehr aufgiebt. Thatsächlich fällt hier
jede Kontrolle weg. Die polizeilich kontrollierten Mädchen
ergreifen auch mehr Vorsieh tsinassregeln gegen eine In-
fektion, die andere unterlassen. Aber eine gewisse Gefahr
besteht nichtsdestoweniger auch bei ihnen. Ich muss
gestehen, dass mir die Homosexualität immer noch ein
geringeres Uebel zu sein scheint als eine Infektion mit
Syphilis. Ja selbst die Infektion mit einem Tripper ist
keineswegs etwas so Harmloses, wie es gewöhnlich dar-
gestellt wird. So kann der chronische Tripper zu schweren
Belästigungen führen. Die Veränderungen, die der Tripper
bei dem Fortschreiten in der Blase herbeiführt, können
selbst Veranlassung zu lebensgefährlichen Zuständen werden.
Man wird also fast in allen Fällen den. ausserehe-
lichen Verkehr mit einer weiblichen Person als eine ge-
wisse Gefahr betrachten müssen. Ganz abgesehen davon
aber bin ich der Ansicht, dass der medizinische Nutzen
ein viel geringerer ist, als einzelne Autoren es darstellen.
Ernstlich zu glauben, dass sich ein Homosexueller durch
einen gezwungenen sexuellen Verkehr mit einer weiblichen
Person in einen Heterosexuellen verwandelt, verrät eine
gewisse Naivetät der Anschauung. Der Betreffende ver-
schafft sich irgendwie eine künstliche Erektion, sei es
durch Friktionen seitens des Weibes, sei es durch Vor-
stellung eines Mannes oder durch Alkohol. Er entleert
den Samen in die Scheide des Weibes unter denselben
Bedingungen, wie es der Onanist thut. Wenn die Er-
regung, wie es in diesem Falle geschieht, künstlich her-
vorgerufen wird, so kommt das zu Stande, was ein Per-
verser einmal richtig als Onania per vaginam bezeichnete.
Wie dabei eine Umwandlung des Triebes zu Stande
kommen soll, ist und bleibt rätselhaft. Einzelne Fälle,
die in dieser Weise gedeutet werden, vertragen keine
ernste Kritik. Sie sind zum Teil in so oberflächlicher
und unkritischer Weise zusammengestellt, dass es sich
nicht lohnt, darauf einzugehen. Ebensowenig, wie ein
normaler Heterosexueller dadurch in einen Homosexuellen
verwaudelt wird, dass er gelegentlich mit einem anderen
Manne Masturbation treibt, ebensowenig wird bei einem
Homosexuellen die entsprechende Umänderung in einen
Heterosexuellen auf dem genannten Wege erfolgen.
— 23 —
Das Erste muss stets die Herstellung des hetero-
sexuellen Triebes sein. Hinzukommt, dass der Be-
treffende sich sonst nur all zu leicht bei den Koitus-
versuchen als impotent erweist; und dass die hierbei ent-
stehende Depression nicht gerade sehr heilsam auf seine
Konstitution wirkt, braucht kaum erwähnt zu werden.
Höchstens wäre die Frage zu erörtern, ob man, wenn
sich irgend welche heterosexuelle Empfindungen geltend
machen, den sexuellen Verkehr mit dem weiblichen Ge-
schlecht gestatten soll. Wenn man diesen Rat giebt, so
wird unter Umständen ein gewisser Vorteil, der aus dem
Verkehr hervorgeht, nicht geleugnet werden können,
weil der Betreffende seine sexuellen organischen Gefühle
immer mehr mit den normalen Vorstellungen assoziiert.
Aber man denke auch in diesem Falle stets an das Risiko
der Infektion. Ich würde nur in seltenen Fällen den
entsprechenden Rat geben. Allenfalls könnte man bei
sehr starkem Drang zur Ejakulation hierzu raten, aber
auch nur dann, wenn die Infektionsgefahr möglichst aus-
geschlossen werden kann.
Ich bin der Ansicht, dass man den Homosexuellen
von seinen fortwährenden homosexuellen Gedanken ab-
lenken soll, aber nicht gerade dadurch, dass man ihm
nun den heterosexuellen Verkehr mit Prostituierten
empfiehlt, sondern dadurch, dass man ihn in anregende,
anständige weibliche Gesellschaft bringt. Hierbei mögen
auch ruhig sogenannte platonische Beziehungen zu weib-
lichen Personen angeknüpft werden, und man wird dann
die Freude haben, bei einer ganzen Reihe von Fällen ein
gutes Resultat zu beobachten. Je mehr ich auf diesem
Gebiete gesehen habe, um so mehr bin ich zu der An-
sicht gekommen, dass ein durchaus „ platonisches K Zu-
sammensein mit Personen des anderen Geschlechts oft
bessere Früchte zeitigt, als allerlei anbefohlene Koitus-
versuche.
— 24 —
In manchen Fällen, wo eine Umwandlung des Triebes
nicht gelingt oder aus verschiedenen Gründen nicht ge-
wünscht oder vom Arzte nicht angeraten wird, kann es
gut sein, den Patienten auf eine sexuelle Abstinenz
hin zu behandeln. Ein Versuch nach dieser Richtung
hin ist schon durch die grossen Gefahren berechtigt,
denen der Homosexuelle in sozialer und rechtlicher Hin-
sicht ausgesetzt ist. Aber man wird nur in einer ver-
hältnismässig kleinen Zahl von Fällen Erfolg haben, und
zwar dann, wenn entweder der Trieb selbst nicht sehr
stark ist oder doch mit Leichtigkeit herabgesetzt werden
kann. Ein Versuch nach dieser Richtung wird jedenfalls
in vielen Fällen lohnen. Man wird in solchen Fällen
alle Mittel, die die Heilkunde in dieser Beziehung auch
bei den Heterosexuellen kennt, anzuwenden haben: Sug-
gestionsbehandlung, Brom, gewisse Wasserprozeduren etc.
Ganz besonders aber wird auf eine geregelte geistige
und körperliche Thätigkeit des Homosexuellen gesehen
werden müssen.
In einer ganzen Reihe von Fällen wird es wünschens-
wert sein, das homosexuelle Empfinden zu veredeln und
möglichst von allem sinnlich Niedrigen abzulenken. Es
gelingt dies bei einzelnen Männern, die ja in dem von
ihnen geliebten Manne nicht das Objekt der sinnlichen
Begierde sehen, sondern sich gewissermassen nur seelisch
an ihm befriedigen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn
gleichzeitig der rein sinnliche Trieb an einer andern
Person befriedigt werden kann. In diesem Falle gelingt
es mitunter, das homosexuelle Empfinden der ein en Person
gegenüber in den wünschenswerten Schranken zu halten.
Dies ist für den Homosexuellen nicht ganz gleichgiltig,
weil er dann doch mit dem von ihm geliebten Manne
Zusammensein kann, ohne durch stark sinnliche Gefühle
ihm gegenüber aufdringlich zu sein.
Eine viel bessere Prognose als die Homosexualität
— 25 —
als solche giebt oft dieHyperäthesiedesGeschlechts-
triebes. Es ist aber auch deren Behandlung von grosser
Bedeutung, da ja der Betreffende durch das fortwährende
sexuelle Denken in seinem ganzen Arbeiten stark be-
einträchtigt wird. Es liegt hier ähnlich wie bei der
Hyperästhesie des normalen Geschlechtstriebes, nur mit
dem Unterschiede, dass der letztere leichter befriedigt
werden kann und — abgesehen von der Infektions-
gefahr — weniger Gefahren bietet, als der erstere. Die
Behandlung wird im Wesentlichen eine ganz ähnliche
sein, wie bei der heterosexuellen Hyperästhesie.
In vielen Fällen wird man wieder auf eine Aenderung
des Geschlechtstriebes selbst verzichten. Trotzdem wird
man aber den Homosexuellen in Behandlung nehmen
müssen; denn, wie schon angedeutet, ist er oft genug
auch sonst kein ganz gesunder Mensch, mag das durch
die häufigen Erregungen, mag es durch die angeborene
Disposition und durch die erbliche Belastung der Fall
sein. Allerlei krankhafte Erscheinungen finden sich in
einer grossen Anzahl von Fällen. Bald ist eine Neur-
asthenie vorhanden, bald haben wir es mehr mit
hysterischen Zuständen zu thun, bald — und dies ist
gar nichts Seltenes — finden sich allerlei Abnormitäten
auf psychischem Gebiete. Zwangsvorstellungen, melan-
cholische Verstimmungen und dergleichen. Hiergegen
ist natürlich der Rat eines erfahrenen Arztes einzuziehen,
der oft unabhängig von der Behandlung des homo-
sexuellen Triebes dem Perversen manchen Dienst wird
leisten können.
Es tritt in praxi oft die Frage auf, ob Homosexuelle
zur Ehe schreiten dürfen. Hierbei haben wir sowohl den
homosexuellen Mann wie das homosexuelle Weib zu be-
rücksichtigen. Was diesen Punkt betrifft, so wird eine
gleiche Antwort für alle Fälle nicht gegeben werden
dürfen; man wird sich vielmehr nach den Verhältnissen
— 2t) —
richten müssen. Zunächst wird es sich fragen, ob das
homosexuelle Fühlen etwas Ausschliessliches ist, oder ob
in mehr oder weniger stärkerem Grade auch das hetero-
sexuelle Empfinden vorliegt. Ferner ist zu bedenken, dass
der Mann immer noch eher vor der Ehe wird zurück-
schrecken müssen als das Weib, weil eine aus dem homo-
sexuellen Empfinden hervorgehende Impotenz gegenüber
dem anderen Geschlecht eigentlich nur beim Manne zu
befürchten ist, während ja das Weib allenfalls den Trieb
zum Koitus entbehrt, ihn auch wohl ohne Befriedigung
ausübt, aber am Koitus selbst nicht gehindert ist. Beim
Manne kann das homosexuelle Empfinden so stark sein,
jedes heterosexuelle Element so vollkommen fehlen, dass
bei einer Annäherung an die weibliche Person jede
Erektion ausbleibt, das heisst der Koitus unmöglich ist.
Ganz abgesehen hiervon aber ist zu bedenken, dass
die Homosexualität des einen Teils so viel Unzuträglich-
keiten in der Ehe herbeiführt, dass noch andere Fragen
mitspielen. Mir sind Fälle bekannt, wo homosexuelle
Männer offenbar nur aus materiellen Gründen Ehen mit
normalen Frauen eingegangen sind. Mir sind aber auch,
wie ich der Gerechtigkeit halber hinzufüge, Fälle bekannt,
wo heterosexuelle, durchaus normal empfindende Männer
Ehen mit Frauen eingegangen sind, deren homosexuelles
Fühlen ihnen bekannt war, die aber aus diesem oder
jenem Grunde gern in die Ehe treten wollten. In beiden
Fällen sind die schwersten Unzuträglichkeiten entstanden.
Man berücksichtige, dass gerade homosexuelle Frauen oft
dies oder jenes an sich haben, was den heterosexuell
empfindenden Mann reizt, man berücksichtige ferner, dass
auch homosexuelle Männer nicht gerade selten das Ziel
der Liebe von Frauen werden, weil dies oder jenes ihnen
am Manne besonders sympathisch ist. Aber die Differenzen
bleiben dann in der Ehe doch nicht aus. Bei vorwiegen-
dem homosexuellem Empfinden, mag dies nun mit einem
— 27 —
stark sinnlichen Triebe einhergehen oder nicht, wird man
jedenfalls von einer Ehe abraten müssen, und zwar schon
deshalb, weil das Eingehen der Ehe in diesem Falle Be-
trug wäre; ganz besonders aber auch deshalb, weil eine
glückliche Ehe gar nicht zu erwarten ist. Allenfalls
könnte man Fälle ausnehmen, wo jemand glaubt, seinen
homosexuellen Trieb vollständig beherrschen zu können
und er mit einer vollkommen urteilsfähigen reifen Person
des anderen Geschlechts die Ehe eingeht, nachdem sogar
eine Aussprache stattgefunden hat. Jedenfalls wird man
in diesem Falle den Schritt nicht mehr ohne weiteres als
einen unmoralischen bezeichnen dürfen.
Anders liegt es, wenn der Betreffende bereits die
Ehe eingegangen ist. Hier wird natürlich eine Trennung
nicht so leicht stattfinden können. Die Frage, ob der
homosexuelle Teil in der Ehe gut thut, sich dem anderen
zu entdecken, dürfte weniger eine ärztliche Frage sein
als eine solche der Politik. Wenn der Ehemann wegen
Homosexualität der Frau zur Trennung einer Ehe schreiten
wall, so soll man Folgendes bedenken. Bei Frauen ist
nämlich zu beobachten, dass sie mitunter trotz allen homo-
sexuellen Empfindens Muttergefühle haben. Sie wünschen
sich einen Sprössling, und es ist mir auch bekannt, dass
in mehreren derartigen Fällen bisher recht unglückliche
Ehen, bei denen sogar eine Scheidung drohte, es schliess-
lich zu einem erträglichen Zusammensein führte, wenn ein
Kind geboren war. Ich erinnere mich unter anderem
einer Dame, die vor ihrer Verlobung ein homosexuelles
Verhältnis hatte und die ersten Tage in einer ziemlich
gleichmässigen Ehe lebte, wobei sie allerdings den hetero-
sexuellen Verkehr fast stets zurückwies. Sie wurde
schwanger. Noch in der Zeit der Schwangerschaft trat
das homosexuelle Empfinden ganz deutlich hervor: sie
verkehrte sexuell nur mit ihrem früheren Verhältnis und
behandelte den Mann abstossend, so dass die Ehescheidung
— 28 —
eingeleitet werden sollte. Es wurde aber damit auf
meinen Rat bis zum Ende der Gravidität gewartet, und
als ein Kind geboren war, zeigte sich die Mutter, wenn
auch nicht gerade herzlich zu ihrem Manne, so doch wie
umgewandelt. Ihre homosexuellen Empfindungen Hessen
nach, sie gab sich ganz und gar der Pflege ihres Kindes
hin, und die Ehe wurde eine mehr gleichmässige Kompro-
missehe.
Wie aus dem Vorhergehenden hervorgeht, müssen
die Fälle von Homosexualität durchaus verschieden be-
urteilt werden. Man ist nicht berechtigt, einen wie den
andern anzusehen und vom ärztlichen Standpunkt aus
schablonenmässig alle zu behandeln. Der gewissenhafte
Arzt wird die Prognose des Falles zunächst erwägen
und den Betreffenden wahrheitsgemäss vorführen. Der
Arzt wird in den meisten Fällen, wenn er keinerlei
Illusionen erweckt, den Betreffenden einen grösseren Dienst
leisten, als wenn er die ganze Sache dilatorisch behandelt.
Bei dem Zusammenwirken vieler ungünstigen Faktoren
thut der Arzt besser, dem Homosexuellen zu sagen, dass
auf eine Umwandlung aus diesem oder jenem Grunde
nicht zu rechnen ist, oder dass er freiwillig darauf ver-
zichten soll. Er erspart ihm damit Enttäuschungen.
Die Prognose wird sich zum Teil auch danach richten,
welche Form die Homosexualität darbietet. Es giebt
Fälle, wo eine vollkommene Umkehrung des Geschlechts-
triebes vorhanden ist. Das ist dann der Fall, wenn bei-
spielsweise ein 30 Jahre alter Mann zu einem ungefähr
gleichaltrigen Manne Neigung hat; denn in diesem Falle
fühlt er so, wie ein Weib in seinen Jahren. Anderer-
seits habe ich mehr und mehr den Eindruck gewonnen, •
dass sich am ehesten heterosexuelle Empfindungen bei
solchen Personen erzielen lassen, die nicht eine vollständige
Umkehrung des Geschlechtstriebes zeigen, deren Neigung
vielmehr auf jüngere Individuen gerichtet ist. Diese
— 29
Neigung ist mitunter in forensischer und sozialer Be-
ziehung bedenklicher als die auf erwachsene Männer ge-
richtete, weil bei Knaben, besonders solchen unter 14 Jahren,
selbst die Einwilligung nicht gentigt, den Akt straflos
zu machen. Aber medizinisch scheinen mir diese Fälle
oft eine bessere Prognose zu bieten, soweit wenigstens
das Anstreben der Heterosexualität in Betracht kommt.
Auch jene Fälle bieten eine günstigere Prognose, bei
denen sonst irgendwie Anklänge an das heterosexuelle
Fühlen nachweisbar sind, wo der Betreffende z. B. früher
heterosexuelle Empfindungen gehabt hat. Mancher Homo-
sexuelle, der diese zunächst in Abrede stellt, erinnert sich
aber, wenn sein Gedächtnis aufgefrischt wird, solcher,
wenn auch vorübergehenden heterosexuellen Empfindungen.
Jedenfalls bietet bei Berücksichtigung aller Faktoren die
Homosexualität so verschiedene Gesichtspunkte für den
Arzt, dass er nur nach reiflichem Studium des Falles ein
Urteil über diesen abzugeben vermag, und nur ein ge-
naues Eingehen und Individualisieren kann einen Erfolg
versprechen.
Es kann den anständig denkenden Homosexuellen
nur empfohlen werden, sich möglichst von Vorurteilen
frei zu halten und sich den Lobeshymnen zu verschliessen,
die einzelne exaltierte Homosexuelle auf die Homosexualität
anstimmen. Je mehr sich die anständigen Homosexuellen
von solchen Anschauungen frei halten, um so mehr werden
sie darauf rechnen können, Sympathien in den Kreisen
der Heterosexuellen zu erwerben und die Vorurteile der
Letzteren zu zerstören. Sicherlich kann dies aber nicht
gelingen, wenn Homosexuelle ihre Anlage gewissermassen
als das Vollkommene hinstellen, das weder den Arzt
noch den Richter etwas angehe.
Schützt §175 Rechtsgüter?
Eine kriminalistische Studie
von
Richter Z.
Kx inordinato muore et vano timore
uritur omnis inquietudo cordis et dis-
tractio pensuum.
Thomas a Kempis: De imit. Chriati.
Lib. III, Kap. 2*.
Die neuere Strafrechtswissenschaft geht davon aus,
dass jeder § des Strafgesetzbuchs eine Norm — Gebot
oder Verbot — und eine Strafdrohung enthält. So hat
auch der § 175 des Strafgesetzbuchs für das deutsche
Reich diese beiden Teile und zwar die Norm: Verbot
des mannmännlichen Geschlechtsverkehrs, die Strafdroh-
ung j Gefängnis (1 — 5 Jahre) und fakultativ auch Verlust
der bürgerlichen Ehrenrechte. Die Folge dieser Rechts-
anschauung ist zunächst, dass man nicht mehr sagen
kann: der Verbrecher verletzt das Strafgesetz, sondern
dass man richtig folgert: der Verbrecher verletzt die
Norm, er handelt normwidrig. Darum verfällt er der
angedrohten Strafe. Norm und Strafgesetz sind also etwas
verschiedenes. Im Folgenden werden wir uns zunächst mit
den „Normen" näher beschäftigen und ihren Schutz durch
Strafdrohung betrachten nach Notwendigkeit und Nütz-
lichkeit. Sodann werden wir die Norm des § 175
eingehend betrachten und die Berechtigung der Straf-
— 31 -
drohung in diesen § prüfen. Der geneigte Leser wolle darum
bei allen folgenden Ausführungen von vorn herein die
Norm des § 175 immer im Auge behalten und alles
Gesagte in Beziehung damit bringen. Das Resultat
der Betrachtungen kann natürlich wieder nur das oft er-
klungene„ceterumcenseo,paragraphuin essetollendum" sein.
Das alte Lied muss aber immer wieder von neuem ge-
sungen werden nach dem Erfahrungssatze: gutta cavat
lapidem non semel sed saepe cadendo.
Dringen wir nun ein in die Theorie der Strafrechts-
Nornien und ziehen daraus die praktischen Konsequenzen
für die mit schimpflicher Strafe bedrohte Liebe.
Professor Dr. v. Liszt sagt in seinem Lehrbuch des
deutschen Strafrechts (9. Aufl. S. 59 ff.) folgendes:
Alles Recht ist um des Menschen willen da. Es
bezweckt den Schutz menschlicher Lebensinteressen. Die
Lebensinteressen entstehen durch die Lebensbeziehungen
der einzelnen unter einander, wie der einzelnen zu Staat
und Gesellschaft und umgekehrt. Wo Leben ist, da ist
Kraft, die nach freier Bethätigung, nach ungehemmter
Entfaltung und Gestaltung ringt. In unzählbaren Punkten
berühren und durchschneiden sich die Willenskreise,
greifen die Machtgebiete in einander über. Diesen Lebens-
beziehungen entspringt das Interesse, welches der eine
an dem für seine Bethätigung wichtigen Handeln und
Nichthandeln des andern hat. Der Mieter will die ihm
vermietete Wohnung beziehen, der Gläubiger das Dar-
lehen vom Schuldner zurückerhalten; was ich durch meine
Arbeit mir gewann, soll niemand mir nehmen oder be-
schädigen, meinen guten Namen keiner antasten; der
Staat verlangt Steuern und Heerdienst, der Bürger freie
Meinungsäusserung in Wort und Schrift. Damit nicht
der Krieg aller gegen alle entbrenne, bedarf es einer
Friedensordnung, einer Abgrenzung der Machtkreise, des
Schutzes dieser und der Zurückweisung jener Interessen.
- 32 —
Diese Aufgabe übernimmt der über den einzelnen
stehende allgemeine Wille, er löst sie in der Rechts-
ordnung: in der Scheidung der berechtigten von den un-
berechtigten Interessen.
Die Rechtsordnung grenzt die Machtgebiete von
einander ab; sie bestimmt, wie weit der Wille sich frei
bethätigen, wie weit er insbesondere fordernd oder ver-
sagend in die Willenskreise anderer Rechtssubjekte tiber-
greifen darf; sie gewährleistet die Freiheit, das Wollen-
Dürfen und verbietet die Willkür; sie erhebt die Lebens-
beziehungen zu Rechtsbeziehungen, die Lebensinteressen
zu Rechtsgütern; sie schafft, Rechte und Pflichten an
bestimmte Voraussetzungen knüpfend, aus dem Lebens-
verhältnis das Rechtsverhältnis. Gebietend und ver-
bietend, ein bestimmtes Handeln oder Nicht -Handeln
unter bestimmten Voraussetzungen vorzeichnend, sind die
Normen der Rechtsordnung der Schutzwall der Rechtsgüter.
Rechtsgut und Norm sind die beiden Grund-
begriffe des Rechts. Dem Rechtsgut den notwendigen
Schutz zu gewähren, dazu ist die Norm berufen. Normen-
schutz ist der Schutz der Rechtsgüter durch die Normen.
Es ist der Rechtsschutz, den die Rechtsordnung den
Lebensinteressen gewährt.
Normen sind *) nach Binding Verbote oder Gebote
von Handlungen. Sie sind so genannt worden, weil sie
den handlungsfähigen Menschen als Richtschnur für ihr
Verhalten und zwar als Schranke ihrer Freiheit dienen.
Sie wollen ihnen sagen, was sie nicht dürfen und was
sie müssen. Sie sind zu unterscheiden von den Ge-
währungen d. h. von denjenigen Rechtssätzen, welche
den Menschen sagen, was sie dürfen, die der mensch-
lichen Freiheit das Feld ihrer zweckmässigen Bewegung
auf dem Rechtsgebiete anweisen. Die Freiheit als das
*) Binding: Handbuch des Strafrechte, Bd. I. S. 156.
— 33 —
„Dürfen" ist dem Gesetzgeber als Mittel zu seinen Zwecken
ebenso unentbehrlich, wie die Beschränkung der Freiheit,
das „Müssen* — das subjektive Recht ebenso wie die
subjektive Pflicht. In dem richtigen Verhältnisse zwischen
Gewährungen und Nonnen allein ruht die Gewähr für
den Bestand der jeweiligen rechtlichen Ordnung. Die
Normen sind zum Teil gesetzlich formuliert, wie in den
Strafgesetzen, zum Teil nicht, weil sie als Erbschatz von
Jahrtausenden jedermann geläufig sind und der Formulie-
rung nicht bedürfen. Die Strafgesetze knüpfen an die
in ihren Thatbeständen enthaltenen Normen eine Straf-
drohung.
Ein Teil der Normen hat sich vom grauen Altertum
bis zur Gegenwart fast unverändert erhalten und ihre
das Menschenleben zügelnde Kraft ist durch Jahrtausende
hindurch unwandelbar dieselbe geblieben. Die zehn
Gebote, welche noch heute den Grund- und Eckpfeiler
unserer moralischen und rechtlichen Bildung ausmachen,
sind nichts anderes als zehn Normen altjüdischen Volks-
rechts. Ihre kurze imperative Form, die nichts birgt als
Befehl (Du sollst nicht! Du sollst!), ist das Urbild aller
Normen für alle Zeit geblieben. Die Norm niuss nur
enthüllen, wer befiehlt, was und wem befohlen wird —
nichts mehr und nichts weniger. Ihre Kraft schöpft sie
aus der Autorität ihres Urhebers und aus der Vernünftig-
keit derer, denen sie gilt. Ist sie doch meist nichts
anderes als der sichergestellte Wille aller Einzelnen, er-
hoben über Willkür und Egoismus. Die Norm ist ein
reiner Imperativ: „ihr sollt! 4 „ihr sollt nicht!" Nicht,
ist der Norm wesentlich ein Hinweis auf die Folgen ihrer
Übertretung, eine Strafdrohung. Sie lautet nicht: „ihr
sollt bei Strafe!«
Das durch die Normen gesetzte Recht ist zunächst
eine Friedensordnung. Der vernünftige Mensch wird
darnach im eigenen und im wohlverstandenen Interesse
Jahrbuch IT. 3
— 34 —
seiner Mitmenschen sein Handeln einrichten. Aber das
Recht ist auch, und zwar seinem innersten Wesen nach,
eine Kampfordnung (siehe v. Liszt a. a. O. S. 61). Um
seinen Zweck zu erfüllen, bedarf es der Kraft, welche
den widerstrebenden Einzelwillen niederbeugt. Hinter
der Friedensordnung der Lebensbeziehungen steht die
Staatsgewalt. Sie ist stark genug, ihren Normen Gehor-
sam zu erzwingen, der logischen Verknüpfung von That-
bestand und Rechtsfolge, wo es Not thut, thatsächliche
Herrschaft zu verschaffen. So tritt ein neues Moment in
den Begriff des Rechts: der Zwang. In drei Haupt-
formen erscheint er uns: 1. Als Erzwingung der Erfüllung
(Zwangsvollstreckung); 2. als Wiederherstellung der ge-
störten Ordnung oder Entschädigung in Geld; 3. als Be-
strafung des Ungehorsamen.
Die letztere Form des Zwanges, die Bestrafung
des Übertreters staatlicher Normen, ist die einschneidenste
und doch nur mittelbare Bewährung der Rechtsordnung.
Hier angelangt, haben wir nunmehr die Stellung der
Strafe im Rechtssystem und damit die eigenartige Be-
deutung des Strafrechte etwas näher zu betrachten.
Ist die Aufgabe des Rechts überhaupt der Schutz
menschlicher Lebensinteressen, so ist die eigenartige Auf-
gabe des Strafrechts der verstärkte Schutz be-
sonders schutzwürdiger und besonders schutz-
bedürftiger Interessen durch Androhung und
Vollzug der Strafe als eines den Verbrecher
treffenden Übels.
Warnend und abschreckend tritt die Straf-
drohung zu den Geboten und Verboten der Rechts-
ordnung hinzu. Dem rechtlich gesinnten Bürger zeigt
sie in eindringlichster Form, welchen Wert der Staat
seinem Befehle beigelegt; weniger feinfühligen Naturen
stellt sie als Folge ihres rechtswidrigen Verhaltens ein
Übel in Aussicht, dessen Vorstellung als Gegengewicht
— 35 —
den verbrecherischen Hang niederhalten soll, (General-
prävention). Der Staat droht das Straf übel an und scheut
im Strafvollzuge nicht zurück vor den schwersten that-
sächlichsten Eingriffen in Leben, Freiheit, Ehre, Ver-
mögen der Rechtsgenossen, vor tief einschneidender, nicht
nur nach Tagen, Wochen und Monaten, sondern, wenn
es sein muss, nach Jahren und Jahrzehnten zählender
Massregelung des Verbrechers. Der Strafvollzug soll
wirken :
1. Auf die Gesanimtheit der Rechtsgenossen, indem
er einerseits durch seine abschreckende Kraft die ver-
brecherischen Neigungen im Zaume hält und andererseits
durch die Bewährung der Rechtsordnung die rechtliche
Gesinnung der Staatsbürger stärkt und sichert (General-
prävention);
2. Ebenso auf den Verletzten, dem er überdies die
Genugthuung gewährt, dass der gegen ihn gerichtete
rechtswidrige Übergriff nicht ungeahndet bleibt;
3. Ganz besonders auf den Verbrecher selbst (Spezial-
prävention). Je nach Inhalt und Umfang des Straf Übels
kann das Schwergewicht der Wirkung, welche durch den
Strafvollzug auf den Verbrecher ausgeübt wird, ver-
schieden sein:
a) Die Aufgabe der Strafe kann dahin gehen, den
Verbrecher wieder zu einem brauchbaren Gliede der
Gesellschaft zu machen (künstliche Anpassung, Adaption).
Je nachdem es sich dabei in erster Linie um die Kräfti ge-
ling der erschütterten Hemmungsvorstellungen oder um
die umgestaltende Einwirkung auf den Charakter des
Thäters handelt, kann man Abschreckung oder Besserung
als die angestrebte Wirkung der Strafe unterscheiden.
b) Die Aufgabe der Strafe kann dahin gehen, dem
für die Gesellschaft unbrauchbar gewordenen Verbrecher
die physische Möglichkeit zur Begehung weiterer Ver-
brechen auf immer oder auf Zeit zu entziehen, ihn aus
3*
der Gesellschaft auszuscheiden (künstliche Selektion).
Man spricht hier von der Unschädlichmachung des Ver-
brechers.
Die Rechtfertigung (der Rechtsgrund) der Strafe liegt
mithin in ihrer Notwendigkeit und Zweckmässigkeit für
die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung und damit des
Staates. Die Strafe ist gerecht, wenn und soweit sie not-
wendig und zweckmässig ist.
Nachdem wir so uns über das Wesen der „Normen"
näher unterrichtet und die Berechtigung der Strafdrohung
im Allgemeinen betrachtet haben, liegt es uns nun ob,
die Norm des § 175*) und die Strafdrohung darin nach
ihrem Rechtsgrunde mit kritischem Auge zu prüfen.
Schöpft die Norm ihre Kraft „aus der Autorität
ihres Urhebers", so kann als Quelle der Kraft zunächst
der Wille Gottes in Frage kommen, wie wir ihn in der
Bibel dem Menschen geoffenbart finden. Das alte Testa-
ment enthält bezügliche Stellen im 3. Buch Mose Kap. 18
V. 22, 29 und Kap. 20 V. 13. Die reine Norm enthält
Vers 22: „Du sollst nicht bei Knaben liegen, wie beim
Weibe, denn es ist ein Greuel.* Vers 29 enthält die
Strafdrohung: „Denn welche diese Greuel thun, deren
Seelen sollen ausgerottet werden aus ihrem Volk."
Vers 13 wiederholt: „Wenn Jemand beim Knaben
schläft, wie beim Weibe, die haben einen Greuel gethan
und sollen beide des Todes sterben, ihr Blut sei auf
ihnen.* Ein Verbot des geschlechtlichen Verkehrs
zwischen erwachsenen Männern findet sich im alten Testa-
mente nicht und es kann sich die Norm des § 175 hierauf
nicht gründen. Den Verkehr mit Knaben verbieten heute
*) Die Schrift: „Eros vor dem Reichsgericht. Ein Wort an
Juristen, Mediziner und gebildete Laien zur Aufklärung über die
„griechische Liebe" von einem Richter." Verlag von Max Spohr,
Leipzig 1899. Mark 1.— erörtert die Rechtsprechung des Reichs-
gerichts aus diesem § eingehend.
— 37 —
andere §§ des Strafgesetzbuches (so § 174 \ 176 8 ) und
nur diese können mit Grund aus dem alten jüdischen
Recht ihren Ursprung herleiten. Entgegengesetzter An-
sicht ist Numa Prätorius in seinem vortrefflichen Auf-
satz: „Die strafrechtlichen Bestimmungen gegen den
gleichgeschlechtlichen Verkehr 1 * in Band I. dieses Jahr-
buchs S. 97 ff. Er meint, dass im mosaischen Recht auch
der Verkehr von erwachsenen Männern mit einander bei
Todesstrafe offenbar verboten war, weil schon die blosse
Onanie verpönnt und Onan deshalb von Gott getötet
worden sei. (1. Mose 38, V. 9, 10). Die Erzählung von
Onan wird aber meines Erachtens falsch verstanden. Ich
meine, dass davon in jener Bibelstelle nichts gesagt ist,
dass Onan dem Laster gefröhnt habe, welches man nach
ihm benannt hat. Seine Verfehlung bestand vielmehr
darin, dass er entgegen altjüdischem Brauch die kinder-
lose Witwe seines Bruders Ger nicht schwängern wollte,
da die Kinder nicht als die Seinigen, sondern als die
seines Bruders gegolten haben würden. Darum verübte
er den coitus interruptus, „auf dass er seinem Bruder
nicht Samen gäbe. Da gefiel dem Herrn übel, das er
that, und tötete ihn auch 1 *. Die Annahme des coitus
interruptus erscheint mir viel natürlicher, wenn man er-
wägt, dass dem Onan von seinem Vater Juda befohlen
war, der Witwe des Bruders Kinder zu erzeugen, als dass
Onan sich der Selbstbefleckung hingegeben haben sollte^
weil er dem Befehle seines Vaters nicht gehorchen wollte.
An anderen Stellen ist, soweit mir bekannt, von jenem
Laster im alten Testamente nicht die Rede und würde
es darnach als strafbar nicht angesehen worden sein.
Ausdrücklich verboten und mit Todesstrafe bedroht ist
aber die Bestialität im 2. Buche Mose, Kap. 22, V. 19
und im 5. Buch Mose, Kap. 27, V. 21. Auch hieraus
will Numa Prätorius einen Schluss ziehen auf die Straf-
fälligkeit des Geschlechtsverkehrs unter erwachsenen
— 38 —
Männern in der mosaischen Zeit. Ich meine aber gerade
daraus, dass die Bestialität und der Verkehr mit Knaben
ausdrücklich als normwidrig hingestellt und mit Strafe
bedroht sind, folgern zu sollen, dass der Verkehr von
Männern untereinander nicht als unerlaubt betrachtet
worden ist Die Erzählung von Sodoms Untergang (1. Mose,
Kap. 19) endlich spricht auch nicht für die Ansicht von
Numa Prätorius. Sie ist für den Laien etwas dunkel-
9
doch scheint mir soviel klar, dass Lot den Bewohnern
von Sodom die beiden fremden Männer, die er unter
seinem Dache beherbergte, nicht herausgeben wollte, weil
sie das geheiligte Gastrecht bei ihm genossen. Es steht
dies im 8. Verse. Dass Lot die Sodomie besonders ver-
abscheut und darum die Herausgabe der Männer ver-
weigert habe, weil die Sodomiter sie „erkennen" wollten,
ist nicht gesagt.
Die Norm des § 175 — Verbot des Geschlechts-
verkehrs mit Männern — entstammt also dem alten
Testamente und dem darin geäusserten Willen Gottes
nicht. Ich wiederhole hier, dass § 175 hauptsächlich
nur den Verkehr unter Männern betrifft. Den Verkehr
mit Knaben unter 14 Jahren verbietet § 170,3 bei Zucht-
hausstrafe. Personen über 14 Jahre werden als Er-
wachsene angesehen. Ob die Altersstufe nicht höher
hinaufzuschieben, ist eine Frage de lege ferenda. Vor
ihren Vormündern, Lehrern und anderen Respektspersonen
sind junge Männer bis zum vollendeten 21. Lebensjahre
schon jetzt gegen geschlechtliche Angriffe geschützt
(§ 174,1). Wenn also § 175 von „Personen männlichen
Geschlechts* spricht, so sind damit die unerwachsenen
männlichen Personen (unter 14 Jahren), also die Knaben,
nicht mit gemeint, während die Jünglinge (über 14 Jahre)
den Männern zuzurechnen sind.
Finden wir nun im neuen Testament die Norm
des § 175? Hier kommt zunächst eine Stelle im 1. Briefe
- 39 —
Pauli an die Korinther in Betracht, welche lautet: „Wisset
ihr nicht, dass die Ungerechten werden das Reich Gottes
nicht ererben? Lasst euch nicht verführen: weder die
Hurer, noch die Abgöttischen, noch die Ehebrecher, noch
die Weichlinge, noch die Knabenschänder, noch die
Diebe, noch die Geizigen, noch die Trunkenbolde, noch
die Lästerer, noch die Räuber werden das Reich Gottes
ererben.* (Kap. 6, V. 9, 10). Der Apostel Paulus ver-
dammt alle Fleischeslust, erwähnt aber ausdrücklich hier
nur die Knaben Schänder, also die eigentlichen Urninge
nicht. Eine zweite bezügliche Stelle finden wir im 1. Briefe
Pauli an die Römer (Kap. 1, V. 27), welche die Männer-
liebe zu verurteilen scheint. Der Apostel geisselt hier
die Sünder unter den Heiden und spricht dabei auch
von den „Männern, welche den natürlichen Gebrauch des
Weibes verlassen haben und sind aneinander erhitzt in
ihren Lüsten und haben Mann mit Mann Schande ge-
trieben, und den Lohn ihres Irrtums (wie es denn sein
sollte) an ihnen selbst empfangen." Nach Gottes Gerechtig-
keit seien sie des Todes würdig (Vers 32). Der Ver-
fasser einer gediegenen und interessanten Schrift: „Laster
oder Unglück?"*) meint, dass auch hier die wirklichen
Urninge nicht gemeint seien (S. 25), da diese dem Weibe
niemals beigewohnt hätten, es also auch nicht verlassen
konnten. Die Stelle bezöge sich auf Kynäden und tiber-
sättigte Lüstlinge. Ich möchte dieser Ansicht jedoch
nicht ohne Weiteres beipflichten. Wo es auf die Wort-
auslegung ankommt, dürfte theologische Forschung bei
Beherrschung der Ursprache des Paulinischen Textes nur
entscheiden können. Mag aber auch der Apostel Paulus
*) „Laster oder Unglück? oder besteht der § 175 zu Recht?
Eine Gewiasensfrage an das deutsche Volk von einem Freunde der
Wahrheit/ (117 S.) Leipzig 1899, Verlag von Max Spohr. Mk. 1.20.
— 40 —
die Männerliebe schlechtbin als sündhaft ansehen, so muss
man, wenn man im neuen Testamente nach der Rechts-
norm, dem Verbot der Männerliebe, forscht^ doch weiter
fragen, ob Paulus diese seine Ansicht aus den Lehren
Christi geschöpft hat? Dies dürfte nicht der Fall sein.
„ Christus hielt wahrlich nicht mit seinen Worten hinter
dem Berge, er rtigt> wo er rügen will. Verhältnisse, wie
sie die Lieblingminne mit sich bringt, hat er nie mit
einem offenen Wort verurteilt. Es findet sich keine solche
Stelle in sämtlichen Evangelien. Lag es nicht gerade
im Orient nahe, davor zu warnen, wo diese Verhältnisse
gang und gäbe sind, und gar in einer Zeit, da sich der
griechische Geist so stark in Palästina verbreitet hatte.
Wir erfahren nur eins immer wieder, dass Christus einen
Jünger hatte, den er vor allen liebte, obwohl es doch
selbstverständlich war, dass er ihn als seinen Nächsten
lieb hatte; aber es wird stets betont, dass er zu ihm in
inniger, persönlicher Beziehung stand. Und die ganze
christliche Kunst hat es nicht anders verstanden, als dass
sie diesen Jünger Johannes als einen schönen Jüngling
von zartem Geroüte darstellte. Ich ziehe deshalb noch
keine übereilten Schlüsse." So sagt Elisar von Kupfer
in seinem Aufsatz*): „Die ethisch-politische Bedeutung
der Lieblingminnen. Einleitung zu der demnächst er-
scheinenden Sammlung : Lieblingminne und Freundesliebe
in der Weltliteratur (Adolf Brands Verlag Berlin-Neu-
rahnsdorf)*. Auch ich will weitere Schlüsse nicht ziehen,
so verlockend es auch ist, die göttliche Liebe Christi zu
dem Jünger Johannes menschlich näher ahnungsvoll zu
betrachten. Der gläubige Christ darf sich meines Er-
achtens an diese Aufgabe nur wagen, wenn er sich durch
gründliche theologische Forschungen dazu geschickt ge-
*) Abgedruckt in Heft 6, 7 (Oktober 1899) des „Eigenen-,
Herausgeber Adolf Brand, Berlin-Neurahnsdorf. Monatsheft 40 Pfg.
— 41 —
macht hat. Laienhafte Bibelforschung hat von jeher zeit-
weilig die thörichte8ten Resultate gezeitigt. Ich kann mir
aber nicht versagen, das folgende Gedicht aus Heft 4|5
(September 1899 des „Eigenen" S. 171) hier zur Anregung
zum Abdruck zu bringen:
Der LieblingsjUnger.
Es war am See Genezareth . . .
Zwei junge Männer warfen Netze
Nach Fischen aus.
Im blonden Haar des einen Jünglings
Verfing die müde Sonne sich.
Und Jesus Christus ging vorüber.
„Willst Du mir folgen, Freund Jakobus?
Und Du — Johannes ? u
Der Jünger warf den weissen Mantel
Um seine lichtgebräunten Glieder —
Sah ihn begeistert an und — folgte . . .
*
„Man führt Dich einst, wohin Du nicht willst. u
So kündete er Simons böses Ende.
Und Simon deutet auf den schönen Jüngling,
Der Jesus an der Brust gelegen,
Das Pochen seines Herzens fühlte:
„Herr, Herr, was wird aus Diesem V a
„Und wenn ich wollte, dass er ewig lebte,
Was geht es Dich an, Simon Petrus V!"
Und damit wandte sich der Heiland,
Gefolgt von seinem Lieblingsjünger.
Und zu den Anderen sagte Simon:
„Uns ist er Freund, doch jenen liebt er."
Hierzu sind die folgenden Bibelstellen nachzulesen:
Evang. Matthäi Kap. 4 Vers 18 ff., Evang. Johannis
Kap. 21 Vers 18 ff. und Kapitel 13 Vers 23. Auch soll
hier noch auf Vers 21 des 10. Kapitels im Evang. Marci
hingewiesen werden, wo vom „reichen Jüngling" erzählt
wird.
— 42 —
Kehren wir vom Gebiete der Poesie zurück zur
prosaischen Normentheorie, so kommen wir zu dem
Resultat, dass die Norm des § 175 in der Lehre Christi
ihren Grund nicht findet, wiewohl doch sonst die ge-
waltigsten, alle menschlichen Lebensinteressen auf das
Einschneidenste berührenden Normen der Lehre Christi
entstammen. Ich erinnere einzig nur an das Gebot: Du
sollst Gott über alles lieben und deinen Nächsten als
dich selbst Es ist dies Gebot auch im Rechtsleben wirk-
sam geworden, indem es dem rücksichtslosen römischen
Recht mit seinen starren Konsequenzen heilsame Grenzen
zog. Das kanonische Recht basiert auf Christi Lehre ; seine
Normen — natürlich nicht alle — schöpfen aus ihm
ihre Kraft.
Wenn nun die Norm des § 175 auf die Autorität
der Bibel, den erklärten Willen Gottes, sich nicht stützen
kann, so fragt es sich, ob sie etwa „der sicher gestellte
Wille aller Einzelnen, erhoben über Willkür und Egois-
mus/' ist, getragen von der „Vernünftigkeit derer, denen
sie gilt." Auch diese Frage wird man nicht bejahen
können. Nicht bei allen Völkern und nicht zu allen
Zeiten ist die Männerliebe und der Geschlechtsverkehr
unter Männern verboten gewesen oder auch nur als schimpf-
lich angesehen worden. Ich nehme hier auf den bereits
erwähnten Aufsatz: „Die strafrechtlichen Bestimmungen
gegen den gleichgeschlechtlichen Verkehr 14 von Numa
Prätorius im Band I dieses Jahrbuchs Seite 97 ff. Be-
zug. Die anregend geschriebene, gründliche Arbeit sagt
uns alles hier einschlägliche.
Eins ist noch hervorzuheben. Wenn der Gesamt-
wille als Träger einer Norm erscheinen soll, so dürfen
demselben nicht . zu viele abweichende Einzelwillen ent-
gegenstehen, sonst wäre er nicht mehr der Wille aller.
Man wird zugeben müssen, dass der Norm des § 175
wohl der Wille einer grossen Majorität zu Grunde liegt,
— 43 —
dass aber zu allen Zeiten und bei allen Völkern doch
auch die Zahl derer nicht klein gewesen ist, die das
Verbot nicht gewollt haben.
Nachdem wir so den angeblichen Ursprung der
Norm des § 175 erörtert haben, kommen wir nunmehr
zur Forschung nach ihrem inneren Grunde. Die Norm
wahrt Lebensinteressen, indem sie Rechtsgtitern zum
Schutz dient, den Bestand der Rechtsordnung gewähr-
leistet. Welches Rechtsgut ist es nun, welches, bedroht,
von der Norm des § 175 geschützt werden soll? Ist
dies Rechtsgut so schutzwürdig und schutzbedürftig, dass
der durch Androhung von Strafe verstärkte Schutz not-
wendig und gerechtfertigt ist?
von Liszt sagt in seinem Lehrbuch des deutschen
Strafrechts (S. 307 if.): Rechtsgut als Gegenstand des
Recht Schutzes ist in letzter Linie stets das menschliche
Dase in in seinen verschiedenen Ausgestaltungen. Dieses
ist das Rechtsgut, d. h. der Kern aller rechtlich ge-
schützten Interessen. Das menschliche Dasein aber er-
scheint entweder als das Dasein des als Einzelwesen
betrachteten Menschen oder als das Dasein des Einzelnen
in der Gesamtheit der Rechtsgenossen. Alle durch
das Verbrechen angegritfenen, durch das Strafrecht ge-
schützten Interessen zerfallen demnach in Rechtsgüter
des Einzelnen und in Rechtsgüter der Gesamtheit.
Bei den Rechtsgütern der Gesamtheit lassen
sich drei Gruppen unterscheiden:
1. Die Gesamtheit wird uns dargestellt durch den
Staat als solchen —
2. Die Bethätigung, die Arbeit der Gesamtheit durch
die schützende und fordernde Staatsverwaltung —
C. Die Kraft, welche das Ganze zusammenhält und
die einzelnen Glieder in Bewegung setzt, durch die
Staatsgewalt als Abstraktum wie in ihren Organen.
Alle drei bedürfen des rechtlichen Schutzes und es
— 44 —
zerfallen demnach die strafbaren Handlungen gegen die
Gesamtheit in folgende Unterabteilungen:
1. Verbrechen gegen den Staat: Hochverrat, Landes-
verrat, Majestätsbeleidigung und andere;
2. Verbrechen gegen die Staatsverwaltung: strafbare
Handlungen im Amte, die Eidesverbrechen, strafbare
Handlungen gegen die Rechtspflege, die Verwaltung des
Kriegswesens, die Handels- und Gewerbepolizei, das Ge-
werbewesen, das Schiffahrtswesen, das Finanzwesen und
andere;
3. Verbrechen gegen die Staatsgewalt: Aufruhr, Auf-
lauf, Widerstand gegen Beamte, Gefangenenbefreiung,
Arrestbruch und andere.
Ebenso bedürfen des Schutzes die Rechtsgüter
des Einzelnen.
Wenn das Dasein des Einzelwesens Gegenstand des
Rechtsschutzes sein soll, so bedeutet das: Die Rechts-
ordnung als Friedensordnung gewährleistet dem Einzelnen
die ungestörte Bethätigung seiner Eigenart.
Das ist das oberste Rechtsinteresse des Einzelnen, das
Rechtsgut desselben. Aus der verschiedenen Richtung
dieser Betätigung muss sich die Einteilung der
Rechtsgüter des Einzelnen ergeben.
Der Schutz ungestörter Bethätigung der Eigenart
schliefst in sich erstens als die Voraussetzung aller
menschlichen Bethätigung den Schutz des körperlichen
Lebens, der leiblichen Unversehrtheit. Diese bildet
demnach das erste und wichtigste aller Rechtsgüter des
Einzelnen. Die strafbaren Handlungen gegen die körper-
liche Unversehrtheit sind: Tötung, Körperverletzung und
sonstige Gefährdung von Leib und Leben (Aussetzung,
Vergiftung, Raufhandel, Zweikampf, Abtreibung).
Der Schutz ungestörter Bethätigung der Eigenart
'jiufasst weiter alle diejenigen Richtungen der Bethätigung,
wvlche als höchstpersönliche Aeusserurigen des Individiums
- 45 —
untrennbar mit diesen verbunden sind. Wir gewinnen
damit eine zweite grosse Gruppe von Interessen, welche
als unkörperliche (immaterielle) .Rechtsgüter
zusammengefasst werden können. Hierher gehören:
1. Die persönliche Geltung im Kreise der Rechtsgenossen
(die Ehre); 2. die persönliche Freiheit; 3. die freie
Verfügung über den eigenen Leib im geschlechtlichen
Verkehr (Geschlechtsehre) sowie die Wahrung des
sittlichen Gefühls; 4. Die Familienehre; 5. die
ungestörte Bethätigung des religiösen Lebens; 6. das
freie Schalten und Walten in Haus und Hof (Haus-
recht), sowie die Wahrung des persönlichen und geschäft-
lichen Lebens vor unberufenem Eindringen (Brief-
geh eimniss u. s. w.); 7. das Bewusstsein, in allen Rich-
tungen der Bethätigung des Schutzes der Friedensordnung
gewiss sein zu dürfen (Rechtsfrieden). Dessen Störung
durch Bedrohung mit der Begehung eines Verbrechens
ist darum verpönt.
Von den unkörperlichen Rechtsgütern hebt sich eine
dritte, von ihnen in jeder Beziehung verschiedene
Gruppe von Interessen des Einzelnen scharf ab: die der
Vermögensrechte. Ihr Unterschied von jenen ist
mit dem Hinweise gekennzeichnet, dass sie nicht höchst-
persönliche, mit dem Einzelwesen untrennbar verbundene
Interessen desselben sind: die in den Vermögensrechten
stofflich gebundene Bethätigung des Einzelnen begründet
für diesen eine Herrschaft über Sachen oder Personen,
welche von ihm losgelöst, auf andere übertragen, in Geld
abgeschätzt werden kann. Als strafbare Handlungen
gegen Vermögensrechte stellen sich insbesondere dar:
Diebstahl, Sachbeschädigung, unbefugtes Jagen, Untreue,
Betrug, Erpressung, Wucher.
Zwischen die rein unkörperlichen Rechtsgüter und
die Vermögensrechte tritt nun aber, den Uebergang von
den einen zu den andern vermittelnd, noch eine vierte
— 46 —
besondere Gruppe rechtlich geschützter Interessen, welche
in sehr bezeichnender Weise „Individualrechte* ge-
nannt worden sind. Der Schriftsteller, der Künstler, der
Erfinder, der Gewerbsmann haben ein Interesse daran,
den wirtschaftlichen Erfolg ihrer Thätigkeit für sich zu
verwerten. Das Recht gewährleistet ihnen dieses Interesse,
indem es einerseits dem „Urheber" das ausschliessliche
Recht einräumt, seine Schöpfung zu verwerten, anderer-
seits den „unlauteren Wettbewerb,* der die Früchte
fremder Thätigkeit sich anzueignen sucht, allgemein oder
doch in bestimmten Erscheinungsformen unter Strafe
stellt. Zu den strafbaren Handlungen gegen Individual-
rechte gehören namentlich Nachdruck, Verletzungen des
Urheberrechts an Werken der bildenden Kunst, an Photo-
graphien, an Mustern und Modellen, Verletzungen des
Patentrechtes, des Firmen- und Namenrechts, Verrat von
Fabriks- und Geschäftsgeheimnissen.
Zu einer fünften Gruppe endlich gehören die
durch die Art, insbesondere durch das Mittel, nicht
durch den Gegenstand des Angriffs gekennzeichneten
Verbrechen: der Missbrauch staatlicher Einrich-
tungen, sowie menschlicher Entdeckungen und
Erfindungen zur Bekämpfung rechtlich geschützter
Interessen. Indem der Staat diese Handlungen mit Strafe
bedroht und dadurch eine neue Gruppe eigenartiger Ver-
gehungen schafft, stempelt er nicht etwa neue, bisher
nicht vorhandene oder nicht geschützte Interessen zu
neuen Rechtsgütern, sondern er vervollständigt die Rüst-
kammer der Waffen zum Schutze längst vorhandener
und längst, wenn auch ungenügend, geschützter Interessen.
Hierher gehören die gemeingetährlichen Verbrechen als
Brandstiftung und Ueberschwemmung, Gefährdung des
Eisenbahn- und Telegraphenbetriebes, Verletzung der
Anordnungen zur Verhütung ansteckender Krankheiten,
Vergiftung von Brunnen, Nichterfüllung von Lieferungs-
— 47 —
Verträgen, Verletzung der Kegeln der Baukunst, sowie
der Missbrauch von Sprengstoffen einerseits, Waaren-,
Geld- und Urkundenfälschung andererseits.
Der von uns jetzt gewonnene Ueberblick über die
gesamten Rechtsgüter, soweit sie vor normwidrigen
Angriffen durch Strafdrohung geschützt werden, ermög-
licht uns eine sichere und zutreffende Erkenntnis des
„ Rechtsguts*, des § 175, um das es sich für uns handelt ; wir
haben seine Stelle im Strafrechtssystem gefunden und wird es
nun unsere Aufgabe sein, diejenige Gruppe der Rechts-
güter näher zu betrachten, zu welchen es gehören soll.
Fassen wir wiederum ins Auge, dass die strafbaren
Handlungen sich richten gegen Rechtsgüter der Gesamt-
heit und gegen Rechtsgüter des Einzelnen und die
letzteren unter anderen gegen die körperliche Unversehrt-
heit sowie gegen unkörperliche Rechtsgüter. In die
strafbaren Handlungen gegen unkörperliche Rechtsgüter
waren einzureihen die Vergehen gegen geschlechtliche
Freiheit uud sittliches Gefühl. Wir wollen nun mit
v. Liszt (a. a. O. S. 379 ff.) diese Vergehen näher betrachten,
namentlich das hier geschützte Rechtsgut und Ge-
schichtliches.
Die geschlechtliche Sittlichkeit d. h. die
Einhaltung der durch die jeweilige Sitte dem geschlecht-
lichen Verkehr gezogenen Schranken, ist kein um seiner
selbst willen geschütztes Rechtsgut der Gesamtheit,
wenigstens nicht nach unserer heutigen Auffassung. Der
christliche Staat hat in dem Rechtsinstitut der Ehe dem
Geschlechtsleben seine Bahnen gewiesen und damit den
mächtigsten aller Naturtriebe in den Dienst der gesell-
schaftlichen Zwecke gestellt; dem ausserehelichen Ge-
schlechtsleben widmet er seine Aufmerksamkeit nur, wenn
und insoweit es in den Rechtskreis Einzelner ver-
letzend oder gefährdend eingreift.
Nach zwei Richtungen hin kann dies der Fall sein;
— 48 —
1. Zunächst verlangt die freie Selbstbestimmung
über den geschlechtlichen Verkehr rechtlichen
Schutz; ein eigenartiges, mit dem Rechtsgute der Frei-
heit nahe verwandtes Interesse, welches aber wegen der
sozialen Bedeutung des Geschlechtslebens auch mit der
Ehre, wegen dessen physiologischer Wichtigkeit (ins-
besondere für das Weib), auch mit der körperlichen
Unversehrtheit in den nächsten Beziehungen steht.
Den Uebergang von den Freiheits- zu den Sittlich-
keitsverbrechen bildet die Entführung. Musterfall für
die gewaltsame Verletzung der geschlechtlichen Freiheit
ist die Notzucht. Der Gewalt aber steht der Miss-
brauch des in besonderen Verhältnissen begründeten
Einflusses, sowie die Benutzung des Irrtums oder
der Unerfahrenheit des zu missbrauchenden Opfers
(die Verführung) gleich.
2. Neben der geschlechtlichen Freiheit schützt der
Gesetzgeber das sittliche Gefühl des Einzelnen, d. h.
die gemütlich betonten sittlichen Vorstellungen, gegen
Verletzung durch Aergernis erregende unzüchtige Hand-
lungen Anderer.
Die Anschauung über die Stellung der staatlichen
Strafgewalt zu den Verletzungen der Sittlichkeit haben
in verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern
vielfache Wandlungen durchgemacht.
Das römische Recht hat, von vereinzelten Be-
stimmungen abgesehen, bis in das 8. Jahrhundert hinein
der Stadt die Ahndung der Vergehen gegen die Sitt-
lichkeit der Strafgewalt des Hausvaters sowie der cen-
sorischen Rüge überlassen. Erst als die allenthalben im
Gefolge von Ehelosigkeit und Kinderscheu eingerissene
Verwilderung der Sitten die Grundlagen des Staates zu
zerstören drohte, stellte die wesentlich im öffentlichen
Interesse erlassene lex Julia de adulteris coercendis vom
Jahre 736 a. n. c. (18 p. Chr. n.) — D. 48,5 C. 9,9 eine
— 49 —
Anzahl von Sittlichkeitsvergehen, und zwar adulterium,
lenocinium, stuprum, incestus unter öffentliche Strafe.
Als stuprum wurde der nicht gewaltsame Beischlaf des
Mannes mit einer virgo vel vidua honeste vivens, nicht
aber der Konkubinat oder der Verkehr mit einer meretrix,
erklärt.
Dem frühern deutschen Mittelalter ist der •
öffentliche Gesichtspunkt bei Bestrafung der Sittlichkeits-
vergehen im wesentlichen fremd. Das einfache stuprum
wird als Eingriff in die Mundschaft mit einer Busse an
die Gewalthaber gesühnt; Todesstrafe dagegen trifft die
freie Frau, die bei ihrem Knechte schläft Auch die
Auffassung des kanonischen Rechts, welches die
Unsittlichkeit als Sünde betrachtete und bis zu den Ge-
danken und Wünschen herab unter Strafe stellte, war
nicht im stände, den thatsächlichen Verhältnissen Rech-
nung zu tragen und Klarheit über das rechtliche Wesen
der Sittlichkeitsvergehen zu verbreiten. So erklären sich
die Zustände des späteren Mittelalters mit seinen
nicht blos geduldeten, sondern anerkannten und vielfach
mit besonderen Rechten ausgestatteten städtischen
Frauenhäusern.
Die peinliche Gerichts-Ordnung Kaiser Karls V.
(constitutio criminalis Carolina) von 1533 bedroht, der
deutschrechtlich-kanonischen Auffassung folgend, unter
den Sittlichkeitsverbrechen in den Artikeln 116 — 123
Sodomie, Blutschande, Entführung, Notzucht, Doppelehe
und Kuppelei mit Strafe. Ergänzend griffen die Reichs-
gesetze des 16. Jahrhunderts, besonders die Reichspolizei-
ordnungen von 1530, 1548 und 1577 ein. Sie bestrafen
stuprum voluntarium, fornicatio (cum meretrice), Konku-
binat (zur Unehe besitzen), Halten von Bordellen usw.
mit Geldstrafe oder Gefängnis; daneben war bis ins
18. Jahrhundert hinein öffentliche Kirchenbusse für ge-
fallene Mädchen üblich. Auch der geschlechtliche Verkehr
Jahrbuch II. 4
— 50 —
zwischen Christen und Juden wurde, wie im späteren
Mittelalter, noch zur Zeit des gemeinen Rechts „inter-
pretative* als ein Fall der widernatürlichen Unzucht be-
handelt, doch geriet die Todesstrafe für dieses Vergehen
schon im 17. Jahrhundert in Vergessenheit Andererseits
verhängt noch Toskana 1786 dafür harte Strafe. Die
Landesgesetzgebung des 17. und 18. Jahrhunderts erschöpft
sich in zahlreichen, meist vergeblichen Straf drohungen
gegen Unsittlichkeit, während die Rechtsprechung die
strengen Strafen der Peinlichen Gerichtsordnung durch
weitgehende Einschränkungen des Thatbestandes zu
mildern bestrebt ist. So wird zur Vollendung bei straf-
barem Beischlaf immissio, bei anderen unzüchtigen Hand-
lungen emissio seminis verlangt.
Gegenüber der masslosen Erweiterung der staatlichen
Straf drohungen trat ein Rückschlag im Laufe des 18. Jahr-
hunderts unter dem Einflüsse der Aufklärungslitteratur
ein, welche hauptsächlich vertreten von Voltaire, Hommel,
Cella, Soden, Michaelis, aber unter dem Widerspruche
von Gmelin, Filangieri u. a. für die Sittlichkeitsvergehen
möglichst geringe Strafen verlangte, da durch sie niemand
beleidigt und auch der Staat nicht in Gefahr gebracht
werde; dabei machte sich vielfach die, allerdings er-
fahrungsgemäss wenig zutreffende Ansicht geltend, dass
die durch den ausserehelichen Geschlechtsverkehr erzielte
Nachkommenschaft an körperlicher und geistiger Tüchtig-
keit die im Ehebette erzeugten „blöden und dummen
Pflanzen* (Hommel) weit übertreffe.
Erst allmählich und nur unter fortwährenden Schwank-
ungen gelang es der Wissenschaft und Gesetzgebung des
19. Jahrhunderts den richtigen, oben dargelegten Stand-
punkt für Auffassung und Behandlung der Sittlichkeits-
vergehen zu finden. Doch ist diese Bewegung noch
keineswegs abgeschlossen und insbesondere die Behand-
lung sowohl der widernatürlichen Unzucht als auch der
— 51 —
Kuppelei in dem Strafgesetzbuch für das deutsche Reich
sehr wenig befriedigend, (v. Liszt a. a. O. S. 382.)
Aus allem Gesagten geht klar hervor, dass die Norm
des § 175 in dem System des Rechtsgüterschutzes
eine Stelle nicht haben kann und dass ihr be-
sonderer Schutz durch Strafdrohung völlig un-
gerechtfertigt ist. Die Rechtsgüter, welche in
Betracht kommen, sind die geschlechtliche Fr eiheit
und das sittliche Gefühl. Die geschlechtliche
Freiheit des Einzelnen wird in keiner Weise gestört,
wenn erwachsene Personen männlichen Geschlechts in
vollem Einverständnis mit einander geschlechtlich ver-
kehren. Das sittliche Gefühl kann verletzt werden,
wenn dritte die That sehen und Aergernis daran nehmen.
Hier gewährt aber bereits § 183 des Strafgesetzbuches
den nötigen Schutz. Die öffentliche Erregung eines Aerger-
nisses durch eine unzüchtige Handlung ist darin mit
Strafe bedroht (z. ß. auch die öffentliche Vollziehung
des Beischlafs zwischen Ehegatten.)
Es muss hier noch betont werden, dass der Einzelne
in seinem sittlichen Gefühl als einem Rechtsgut nur in-
soweit geschützt werden kann, als er vor unmittelbarer
Wahrnehmung unzüchtiger Handlungen behütet zu werden
vermag, durch Verbot und Straf drohung. Das sittliche
Gefühl kann aber auch verletzt werden durch nach-
trägliches Bekanntwerden unsittlicher sowie aller
anderen strafbaren Handlungen (Mord, Diebstahl usw.).
Es wird aber niemand dafür bestraft, dass er das sitt-
liche Gefühl anderer verletzt hat, denen die von ihm
begangene Strafthat, nachträglich bekannt geworden ist.
Soweit geht der Schutz des sittlichen Gefühls als eines
Rechtsgutes nicht.
Wenn also das sittliche Gefühl einzelner durch
Wahrnehmung geschlechtlicher Akte zwischen Männern
verletzt wird, so kommt die Strafvorschrift des § 183 in
4*
— 52 —
Anwendung. Nachträgliches Bekanntwerden wird nicht
bestraft. Das besondere Verbot des § 175 ist da-
her insoweit überflüssig.
„Die gewerbsmässige männliche Unzucht, die einzige,
welche Gefahren bietet, konnte durch eine geänderte
Fassung des § 361 ö des Str.-G.-B. unschädlich gemacht
werden", sagt v. Liszt (a. a. O. S. 401). Er bezeichnet
die Strafdrohung des § 175 als einen bedenklichen
Uebergriff in ein dem Rechte fremdes Gebiet (S. 380).
Die Norm des § 175 — Verbot des Geschlechts-
verkehrs unter Männern — findet in dem heutigen Straf-
rechtssystem, in der Lehre vom Rechtsgüterschutz, eine
Stelle nicht. Dieser Verkehr verletzt kein zu schützendes
Rechtsgut.
Nach dem heutigen Stande der Kriminologie
und Poenologie muss die Aufhebung des § 175
kategorisch gefordert werden.
Ein bisher ungedrucktes Kapitel
Uber Homosexualität
aus der
„Entdeckung der Seele"
von
Professor Dr. med. Gustav Jäger in Stuttgart.
Vorwort.
Bei Abfassung der zweiten Auflage meiner ,Ent-
deckungderSeele* (Leipzig, E. Günthers Verlag, 1 879)
gewann ich unerwartet einen Mitarbeiter auf dem Gebiete
des Fortpflanzungstriebes, der mich mit so massenhaftem
Beobachtungsmaterial überhäufte, dass schon die Menge
verbot, alles in dem Buche unterzubringen. Ausserdem
verbot sich das auch durch seinen Inhalt. Hätte das
Buch alle diese teilweise ja naturgemäss obscönen Be-
obachtungen aufgenommen, so hätte das den Anschein
erweckt, als beabsichtige man eine Spekulation auf den
Sinneskitzel und eine Sensationsm acherei, während das
Buch ein wissenschaftliches sein und bleiben sollte.
Anmerkung de» Herausgebers: Wir sind Herrn Prof.
Jäger dankbar, dass er uns für das Jahrbuch das obige Manuskript
zur Verfügung stellte. Seitdem dasselbe geschrieben, sind mehr als
zwanzig Jahre vergangen, sodass manches mittlerweile anderweitig
ähnlich ausgeführt ist, doch bleibt noch eine Fülle neuen und be-
merkenswerten Materials übrig. Was die theoretischen Auffassungen
des geschätzten und berühmten Autors anlangt, so hielten wir es
für unsere Pflicht, dieselben ungekürzt wiederzugeben, ohne da>s
wir uns in allen Punkten mit denselben identifizieren möchten.
— 54 —
Andererseits hielt ich diese dem Leben entnommenen
und mit to tiefem Verständnis gemachten Beobachtungen
für so wichtig, dass ich damals sofort beschloss, alles
aufzubewahren und später in einem geeigneten Zeitpunkt
damit hervorzutreten. Diesen Zeitpunkt halte ich jetzt
für gekommen. Durch die Petition an den Reichstag
mit den daran sich anschliessenden Verhandlungen, durch
die Herausgabe des vorliegenden Jahrbuches ist das
Thema, welches in den Mitteilungen meines Correspon-
denten den breitesten Raum einnahm und das Verfäng-
lichste für die Veröffentlichung war, seines kitzlichen
Charakters beraubt und der Aufklärung auch soweit
näher gebracht, dass man sicher sein kann, für jede sach-
liche Besprechung ernsthafte Aufmerksamkeit zu finden.
Persönlich möchte ich bemerken : Mein Correspondent
ist jetzt längst tot, und da er keine Angehörigen, die ihm
näher standen, hinterliess, so könnte ich, ohne Vorwürfe
befürchten zu müssen, seinen Namen nennen, allein ich
glaube, es ist nicht nötig. Nötig ist es vielleicht, etwas
über seine Behandlung der Sache zu sagen. Hierzu
möchte ich mich einer Anekdote bedienen, die ich ein-
mal — ich weiss nicht mehr wo — las.
Eine Akademie schrieb einen Preis für die beste
Arbeit über das Kamel aus. An dem Wettbewerb be-
teiligten sich ein Deutscher, ein Franzose und ein
Engländer. Der Erste suchte alle Werke aller Zeiten
und aller Völker auf, in denen vom Kamel die Rede
ist, und wurde damit bis an sein Lebensende nicht fertig.
Der Franzose studierte seinen Buflbn und betrachtete
sich die Kamele im jardin des plantes. Der Engländer
reiste in den Orient, kaufte sich ein Kamel und ritt
darauf in der Wüste umher.
Unser Verfasser war kein Engländer, aber er folgte
bei seinem Studium dem Beispiel des Engländers und ritt
mit dem Kamel in der Wüste. Nur so volle Griffe in
— 55 —
das Menschenleben, wie sie der Verfasser hier vorlegt,
können die nötige Aufklärung bringen, und da das eben
nicht jedermanns Sache ist, so darf man dem Autor dank-
bar sein, dass er offen alles sagt, was er gefunden.
Zum Schluss noch eine Bemerkung über die Form.
Da ich anfangs alles, was ich von dem Verfasser erhielt,
meinem Buch einverleiben wollte, so wurde alles gesetzt
und als ich und der Verleger uns anders entschlossen,
waren nur die zur Korrektur gefertigten Fahnen noch
vorhanden. Diese wurden von mir aufbewahrt, und ich
gebe sie, wie sie sind.
Homosexualität.
Mit diesem Worte fasst mein Korrespondent, Dr. M.,
die sexuelle Anziehung zwischen zwei Personen gleichen
Geschlechts, also zwischen Mann und Mann oder Weib
und Weib, zusammen. Ich werde Dr. M. hier fast aus-
schliesslich das Wort lassen, indem ich aus dem massen-
haften Material, welches er mir mit der Zuvorkommen-
heit eines alten Gelehrten, der selbst längst aller Publi-
zität entsagte, zur Disposition stellte, blos das auswähle,
was mir in dieser Frage das Wichtigste schien. Meiner-
seits habe ich nur wenige erklärende Beisätze zu machen.
„Ich schreibe Ihnen so überwiegend viel gerade
über die männlichen Homosexualen, weil ich denke,
von Ihrem Standpunkte aus müsste Sie der Mann eben
am meisten interessieren, besonders da die abnorme Seite
seines Geschlechtslebens bis jetzt das grösste, von der
Majorität der Flachköpfe kaum geahnte, selbst tiefen
Menschenkennern — aus Mangel an eingehender Unter-
suchung und Erfahrung — nie klar gewordene Geheimnis
ist; und zwar ein Geheimnis, welches durch die darüber
in der allgemeinen Meinung existierenden Begriffe ein so
— 56 —
widerwärtiges zu sein scheint, dass es sogar die Fach-
wissenschaft nie der Mühe wert fand, dies Rätsel auch
nur fest ins Auge zu fassen, sondern blos stumm dem
Strafrichter winkte, auf dass derselbe, ohne nähere Unter-
suchung, gemäss den Traditionen Jahrtausende alter Bar-
barismen, seines Amtes walte. Dagegen ist das Weib,
auch bei abnormster Abweichung von den Gesetzen der
Natur, für Niemanden ein Geheimnis, der es jemals be-
reits genoss. Und will man spezielle Experimente mit
dem Weibe anstellen, so braucht man ja nur die Hand
auszustrecken, um ein Objekt hierzu zu erlangen, was
gegenüber dem Manne nicht der Fall ist. Nicht minder
kennt das Weib seine absolute Straflosigkeit innerhalb
des Sexualismus, es leugnet daher im intimsten Umgange
auch keines seiner Raffinements. Endlich ist der Mann
anthropologisch in jeder Beziehung die Hauptsache, das
Weib anthropologisch sekundär. Er ist das Urmodell
der Menschheit, der Träger des Selbstzweckes, der Er-
zeuger oder Verderber der Rasse. Von ihm hängt das
Glück oder das Unglück der Völker ab. > The firtt study
of man is the man/« sagt Pope, und hier bedeutet »man«
nicht allein Mensch, sondern speziell Mann. Soll daher
die Wissenschaft regenerativ in die Gesellschaft eingreifen,
so muss vor Allem der Mann gründlicher als bisher
studiert werden, — damit man kennen lerne, von woher
eben die meiste Gefahr droht — «und dies Studium muss
gerade vom Standpunkt Ihrer Seelentheorie ausgehen/
„Ich denke nicht im entferntesten daran, dass Sie
all' das, was ich Ihnen mitteile, ohne Weiteres in Ihre
Seelenlehre hineinbringen werden und sollen. Wie es in
der Beobachtung nichts Absolutes giebt, muss man sich
jede Behauptung, jede allgemeine Schlussfolgerung aus
Symptomen zweimal überlegen, bevor man sie acceptiert.
Ich glaube allerdings für Monosexuale wie Homosexuale
«ine absolut zutreffende Symptomatologie gefunden zu
— 57 —
haben, und ich täuschte mich selten, selbst auf den ersten
Blick hin. Aber manchmal täuschte ich mich eben doch
auch auf gröbste Weise, wo ich auf meine Vorannahme
hätte schwören mögen — also es giebt nichts Absolutes!
— Da mir aber in manchen Fällen knoichdge zugleich
auch power war, mir überdies vom wissenschaftlichen
Standpunkte aus — und wenn auch nur zu meiner eigenen
Aufklärung und Unterhaltung — jegliches Wissen stets
Macht war, während halbes Wissen mich nie reizte, so
habe ich mich auch um die Sexualitätsfragen nicht blos
nach dem Hörensagen bekümmert, vielmehr 25 Jahre
lang bei meinen vielen Reisen und vielseitigen Bezieh-
ungen emsig danach umgethan, unter der Hand persönlich
und intim mit allen jenen Leuten bekannt zu werden,
die ich als Abnormsexuale zu erkennen glaubte oder die
das Gerücht als solche bezeichnete. Oder aber ich be-
mühte mich, Individuen in die Hand zu bekommen, die
zuletzt vertraulich gestanden, dem oder jenem zum Ob-
jekt seines Triebes gedient zu haben. Hierfür scheute
ich keine Opfer an Zeit, Geld, Selbstüberwindung, selbst
Dingen gegenüber, die mich anekelten. Jedoch von
Jugend an auf jeglichem Gebiete der Naturforschung dis-
zipliniert, theoretisch wie praktisch medizinische Studien
durchmachend, und bei so vielen Reisen in drei Weltteilen
•scharfen Auges für Rasse-Fragen, für die Anthropologie
überhaupt, wollte ich wenigstens mir selbst durchaus ein
Rätsel lösen, das meinen gesunden Menschenverstand ver-
höhnte und meinen eigenen Trieben so fern lag. Gilt es
doch besonders von der Naturforschung, dass sie vor
nichts — sei es noch so dbgoutant und schmierig —
zurückschrecken darf, will man die Wahrheit suchen."
„Auch in der Kunst ist es so. Der berühmte Colorist
Prof. Karl Rahl sagte oft in meiner Gegenwart zu
seinen Schülern: „Hören Sie, das zimperliche Herum-
lecken an der Farbe, die Furcht, sich zu beschmutzen,
— 53 —
führt zu nichts; haben Sie nicht die Courage, Farben-
schwein zu werden, knietief in die braune Sauce hinein
zu waten, dann verlassen Sie mich und werden Sie
Zeichner! Denn Kunst, Schöpfungskraft ist — Courage!"
— Auch Horace Vernet rief: „L'art c'est la courage!"
Und Kaulbach äusserte eines Tages zu mir: „Das
ist's ja eben, warum ich kein Colorist wurde; mir ekelt
vor den dreckigen Fingern!* Der Arzt, der Naturforscher
dürfen sich vor nichts scheuen; aber, was die Haupt*
sache ist : sie müssen stets den Verstand, die Kritik mit-
sprechen lassen; nicht blos experimentieren, sondern auch
reflektieren."
Diesen trefflichen Worten meines Korrespondenten
möchte ich noch hinzufügen : Wissenschaft ist auch Courage,
und zwar in dem Sinne: Wenn jemand zu feige ist, aus
seinen Beobachtungen Positives zu sdhliessen, weil er
allenfalls auf einem Fehlschluss ertappt werden könnte,
und wenn er dann, um überhaupt von sich reden zu
machen, blos einen Wust von unverdaulichen Thatsachen
aufhäuft, oder wenn er sich gar jenen traurigen Nihilisten
beigesellt, die alles positive Wissen zersetzen und es
glücklich dahin gebracht haben, dass ein guter Teil des
medizinischen Nachwuchses den Glauben an sich und
ihre Kunst verloren, resp. gar nie gewonnen hat, dann
wäre es, wie Rahl sagte, auch besser, er bliebe — •
Zeichner. — Doch zurück zum Thema:
„Mit dem Obigen will ich nur gesagt haben, dass
ich Ihnen nicht eine Silbe mitteile, für die ich nicht gut-
stehe, deren Wahrheit ich nicht sicher erlangte.*
»Wie ich, der Normal sexuale, überhaupt auf die
Spur der Existenz des Homosex ua Iis in us und seiner
Sklaven geriet, von deren Vorhandensein ich bis dahin
keine Ahnung hatte ? Leider sehr einfach, aber auch sehr,
sehr traurig! — Ich hatte einen lieben, guten Jugendfreund,
vor J abnormer Geschmacksrichtung ich mir im
— 59 —
Schlafe nichts träumen Hess, der sich aber 1840, kaum
20 jährig, erschoss und Tags vorher seiner Mutter einen
Brief an mich übergeben hatte. In diesem Schreiben ge-
stand er mir seine, von Kindheit an ununterdrückbare
Leidenschaft, durch die er plötzlich an einen „Prell er*
geraten war, der ihn pekuniär völlig auszog und, da er
nicht mehr geben konnte, ihm drohte, ihn vor Gericht
zu denunzieren, und zwar jenes mit schwerer Strafe be-
drohten „Lasters" wegen, bei dessen Verübung der
Angeber doch selber Mitschuldiger war ! Genug, der ge-
prellte Unglückliche zog es vor, sowohl sich selbst der
Strafe und Entehrung als seine Familie der Schande zu
entziehen, lieber ihr den tiefsten Kummer bereitend. Und
in der That wurde der schöne, junge Mann auch einfach
als „Selbstmörder aus unbekannten Gründen" begraben,
und die Geschichte war aus. Mich aber betäubte der
Vorfall so sehr und schmerzlich, dass ich einige Tage
lang gar nicht verstand, von welchem „Laster" der Brief
eigentlich spreche. Jedoch der Unglückliche bat mich
in seinen Abschiedszeilen, ein paar seiner Freunde, die
„auch so wären" und deren Adresse ich kannte, aufzu-
suchen, sie von dem Vorfall zu unterrichten und sie eben-
falls zu warnen — vor dem Preller. Jene — mir bis
dahin völlig fernstehenden — jungen Herren — auch ein
älterer war dabei — öffneten mir dann die Augen ver-
blüffend aufrichtig. So erfuhr ich zuerst überhaupt von
der Existenz einer solchen „Sekte", deren übrige Mit-
glieder mir von da ab volles Vertrauen entgegenbrachten
und mich „weiter empfahlen" — nebenbei bemerkt, schon
an jenem Orte bis in sehr hohe Kreise. Ich sprach entschieden
und ernst mein Wesen als Normalsexualer aus, gegen jede
sofortige Zumutung kurz und trocken ein für alle mal
protestierend; aber ebenso offen sprach sich meine tief-
humane Weltanschauung aus und der mir angeborene
Trieb, über jegliches Unrecht empört zu sein; da ich
— 60 —
aber damals eben Medizin zu studieren begann, so inter-
essierte mich die abnorme Frage auch naturwissenschaft-
lich. Damals erfuhr ich auch zuerst, dass noch in den
meisten Ländern Europa's — Frankreich ausgenommen —
das alles angeborene Naturrecht auf seinen eignen Körper
verhöhnende Gesetz existiere, nach welchem derselbe sexuale
Akt, geuau in derselben Form vollführt, zwischen Mann
und Weib völlig straflos zwischen Weib und Weib gleich-
falls straflos, aber zwischen Mann und Mann ein ungeheures
Verbrechen sei, das mit Kerker, Entehrung, Zer-
störung aller Lebensaussichten und des guten Rufes
beider Verbrecher nebst deren Familien bestraft wird.
Später dann wurde mir im Auslande noch der Nachweis,
welch eine hübsche Zahl Normalsexualer in grossen
Städten behaglich davon leben, dass sie zu solchen Akten
provozieren, eben um durch Androhung von Denunziation
Geld erpressen zu können, und das oft jahrelang, gleich
regelmässiger Pension. Also das Gesetz gegen eingebil-
dete Verbrechen erzeugt selber die wirklichen Verbrechen
der Prellerei, des Einbruchs, des Diebstahls, sogar des
Mords und der Herbeiführung unzählig vieler Selbst-
morde. — Doch halten wir uns streng nur an die natur-
wissenschaftliche Seite der Frage."
„ Im gewöhnlichen Leben hört man manchmal öffentlich
oder privat von irgend einem selbstverständlich älteren
„verworfenen Individuum* sprechen das einen Knaben
zu „widernatürlicher" Unzucht verführt haben soll, aber
rasch gerechter Strafe überantwortet wurde. In der Ord-
nung! sagt der Normalsexuale. Oder man vernimmt zu-
fällig aus dem Volkeheraus unfläthige Witze über „warme
Brüder". Oder aber ein „erfahrener Alter* erzählt halb-
laut zu aller Grauen, er habe einmal „gehört", ein junger
Mann sei grässlich gestorben, weil er sich „für ausser-
ordentlich viel Geld" einem alten Wüstling ergeben habe.
Man versteht noch immer nicht, von was eigentlich die
— Gl —
Rede sein mag. Man fragt seinen Hausarzt; der er-
widert kühl, es sei nicht seine Sache, sich um solche
Fragen zu kümmern; man fragt vielleicht auch einen be-
freundeten Strafrichter. Der runzelt sofort die Stirne
und sagt, nach dem Muster des Dr. Klose, orakelhaft:
„Laster und Verbrechen zugleich! Nachsichtslos strenge
Bestrafung, um die Menschheit von diesem Schandfleck
zu befreien" (!) Das ist starker Toback; und unwillkür-
lich fragt man sich innerlichst, ob man denn in den 18
Jahrhunderten noch nicht genug Millionen Menschen ver-
brannt und gerädert habe, angeklagt als Ketzer, Zauberer,
Hexen! Und man entsinnt sich auch keines Uebels, von
dem die Menschheit noch jemals durch Galgen und
Kerker befreit worden wäre. Nun drängt es den Den-
kenden erst recht, zu fragen, weshalb man denn von
solchen Verhandlungen noch nie was öffentlich hörte,
um sich über solcher Thaten Strafwürdigkeit selber ein
Urteil bilden zu können! Da legt der Jurist den Finger
auf den Mund und belehrt uns, solche Fälle können nur
geheim rasch verurteilt werden, und — ihe rest is silence!
Aber geheime Verurteilungen im 19. Jahrhundert ? Jetzt be-
kommt man gar keine Antwort; und endlich vergisst
man selber momentan aufgetauchte Zweifel. Plötzlich
jedoch geschieht irgendwo in einer grossen Stadt ein,
offenbar ungeheueres, Verbrechen mit einem kaum
7- bis 8jährigen Knäbchen; und noch dazu auf die
verrückteste, durch Nebenumstände, welche mit Wollust
gar nichts zu thun haben, unerklärliche Weise. Die
That ist evident. Aber man findet nicht sofort einen
Thäter, weil man ihn nicht auf Gebieten sucht, die man
sich nicht schon im Voraus einbildete. Wer denkt denn
z. B. an russische Skopzen, findet man ein Mädchen mit
ausgeschnittener Brust ? Der Verdacht auf Wollust liegt
näher als der auf Fanatismus, That eines Verrückten u.s.w.
Plötzlich hört man von einem nicht mehr ganz jungen
— 62 —
Wüstling, der sogar mit Soldaten offenkundig in sträf-
lichen Verhältnissen stand. Mit wem? Nun, mit 20-
bis 25 jährigen Soldaten. Ja, aber hier ist von einem
völlig unreifem Kinde die Rede, und noch dazu von einem
v Akte, der mehr auf sinnlose Verstümmelung ausging, als
auf wirkliche Wollust. Hat er etwa auch schon Soldaten
zerfleischt? ,Nein B , sagten die Untersuchungsrichter
selber unter vier Augen (historisch) und fügten hinzu:
„da die Vorliebe für Reifheit evident und bei diesem
Individuum seit längsther bekannt ist, so lässt sich's
schwer reimen, wie der Mann plötzlich auf Unreifheit,
noch dazu mit Wut auf Blut, verfallen sein soll. Wir
glauben es nicht/ Aber das mit Recht schon über die
That selber empörte Publikum glaubt es, die Geschworenen
oder ordentlichen Richter sprechen ihr Schuldig, und
jeder ehrliche Staatsbürger hat nun kein Wort mehr zu
sprechen. Der Verurteilte stirbt einige Jahre darnach
im Kerker, noch auf dem Totenbette seine Unschuld ver-
sichernd, oder auch reuig die That bekennend —
aber von all dem erfährt das Publikum nichts mehr. Es
hat Mos von nun an die Vorstellung, dass es einige wenige
teuflische Menschen sporadisch gebe, welche kleine Knaben
zerfleischen, und für die daher kein Galgen zu hoch ist. 4
„Aber welche Rolle spielte bei dieser Entscheidung
die Wissenschaft überhaupt und insbesondere die Natur-
wissenschaft, die Anthropologie, auf deren Ausspruch doch
in solchen Fällen alles ankommt? Und wir haben es
auch hier nur mit solchen Vertretern der biologischen
Menschenkenntnis zu thun, nicht mit dem herrischen Ur-
teil, das über naturwissenschaftlicher Kritik steht. Nun,
die gerichtliche Medizin und überhaupt die Anthropologie,
sie kramten bei dieser Gelegenheit Anschauungen aus,
welche noch weit hinter denen des Paul Zachias von
1674 zurückstanden, und sich, travestiert, in den Aus-
spruch zusammenfassen Hessen : „Die Naturgeschichte
— 63 —
weiss zwar, trotz ihrer angeblichen Naturgesetze, noch
nichts davon, aber warum sollte es nicht doch einzelne
abnorme Fälle geben können, in welchen ein Wiederkäuer
mit Recht anzuklagen ist, ein Beefsteak verschlungen zu
haben!*
„In Frankreich ist man, kommt auf solche Themata
die Rede, noch rascher fertig mit dem Urteile; man lacht
und sagt: das sei ja das allgemein bekannte Geheimnis,
der Verbindung8zweck und das intime Treiben der so
mächtigen — „Franc-Maconnerie" (nämlich der wirklichen,
vom Staate protegierten, und kann man diese Anschauung
täglich in Paris, besonders im Volke hören) — daher
denn auch dieses ft unfranzösische B Gelüste der Maurer
(die Liebe zur Frau nennt der Franzose „Vatnour frangaise*)
in Frankreich längst straffrei sei. — Der Engländer macht
sichs aber noch kürzer; er erklärt einfach legislativ, in
England könnte das Verbrechen des „nameless crime 11
überhaupt gar nicht existieren, das sei nur auf dem Kon-
tinent vorhanden. Er ist so glücklich, eine eiserne Stirne
zu besitzen. Und in Flagrantifällen — wie 1874 mit den
zwei als Damen verkleideten jungen Männern, Bulton
und Park — verliert sich die sensationelle Gerichts-
verhandlung plötzlich — durch eine Hinterthüre. Die
wohlhabenden jungen Herren sollen jetzt in Lissabon sich
und andere amüsieren. 41
„Aber — fragt nun ganz ernsthaft der Naturforscher
— von was ist denn eigentlich die Rede ? Und was ist
in dem, was nun zur Sprache kommen soll, die volle
nackte Wahrheit, sans phrase?*
„Ich muss gestehen, dass, als mich der Verblichene
zwang, seine Geschmacksgenossen aufzusuchen, mich dies
ein paar Tage Kampf kostete. Ich, meiner Natur nach
Normalsexualer, und damals, kaum zwei Dezennien alt,
leidenschaftlicher Weiberliebhaber, hatte mir noch nie
Rechenschaft über die Reinlichkeit und Aesthetik eines
— 64 —
Akts gegeben, der ja Naturgesetz ist. Um so mehr Ab-
scheu hatte ich vor Neigungen, die mir nicht nur wider-
natürlich erschienen, die meiner Geschmacksrichtung auch
namenlos unflätig vorkamen. Denn ich hegte völlig das
Volksurteil, es könne sich dabei nur um Imitation eines
natürlichen Coitus handeln ; und überdies hielt ich jeden
Männerkörper für entsetzlich ekelhaft, ohne daran zu
denken, dass ich mich selbst eines Männerkörpers er-
freute, und zwar eines schönen und gesunden, wobei ich
überdies von meiner Geliebten verlangte, dass ihr dieser
mein Körper ebenso göttlich erscheine, als nur der ihre.
Wie aber sollte etwas dem eigenen Geschlechte ekelhaft
sein, das Anspruch hat, vom andern Geschlechte gott-
ähnliche Verehrung zu prätendieren, das andere Geschlecht
wieder seinerseits als Götterwesen verehrend?*
„Der erste Schritt, mit solchen Geschöpfen auch nur
in gesellschaftlichen Rapport zu treten, war, wie gesagt»
sehr schwer. Es sind seither 39 Jahre verflossen, die
ich in Italien, Oesterreich, der Schweiz, Frankreich, den
Niederlanden, England, Deutschland, den Donaufürsten-
tümern, der Türkei, der Levante und Griechenland, und
zwar wiederholt am selben Orte, verbrachte. Dagegen
kenne ich persönlich nicht: Skandinavien, den gesamten
slavischen Norden, sowie Spanien und Portugal, das
Innere von Asien und Afrika, sowie Amerika und
Australien, habe aber über diese Länder das Meiste ge-
lesen. Genug, sobald ich den ersten Schritt zur Bekannt-
schaft mit dieser „Sekte* that — denn es ist gegen meine
innerste Natur, ohne Prüfung ein Urteil zu fällen — bis
heute, also während eines Menschenalters — lernte ich
an 1000 „ Homosexuale" in drei Weltteilen kennen. Sie
haben bei näherer Bekanntschaft mit ihrem Wesen keines-
wegs bei mir an Achtung gewonnen — die sogar wahr-
haft grosse Männer in den Augen ihrer Kammerdiener
verlieren. Aber ich bemitleide heute tiefstens diese un-
— 05 —
schuldigen Opfer des Spiels der Natur, diese gebundenen
Sklaven eines angebornen Triebs, deren böseste Leiden-
schaftlichkeit zehnmal harmloser, weil ohnmächtiger ist
als die von nur Normalsexualen, und die endlich gleich-
falls — wie die Monosexualen — der Menschheit nichts
nützen, die aber auch, gleich den Onanisten, in ihrer Ge-
samtheit der Menschheit noch nicht so viel schaden, als
ein Normalsexualer, welcher die Syphilis ver-
breitet!"
«Das Resultat meiner Studien ist folgendes:
„ 1) Gut 90 % aller Homosexualen sind nur M utuelle,
d. h. gegenseitige Onanisten, haben im Geschlechtsverhält-
nisse mit andern männlichen Individuen Genuss aus-
schliesslich nur an deren Vorderseite, ekeln sich selber
vor aller Afterseite, oder diese reizt si£ nur ihrer Plastik
wegen, wie ja auch der Normale am Weibe jenen Teil
brünstig liebt, welchen der Aesthetiker Vis eher als den
„ pfirsichartig geformten* bezeichnet, dessen Göttin die
Venus Kallipygos ist. Also bei dieser Geschmacksrich-
tung an sich fällt der Vorwurf des Ekelhaften ganz weg.
Denn es ist nicht abzusehen, weshalb männliche Formen,
die dem Weibe göttlich erscheinen, ekelhaft sein sollen."
,2) Allerdings giebt es auch in Europa Pygisten,
und zwar aktive wie passive, welche vereint — wie es
in der Gerichtssprache heisst: „den natürlichen Coitus,
nur zwischen Mann und Weib möglich, widernatürlich
imitieren". — Der Aktive muss unbedingt sehr jugend-
kräftig sein, da stärkste Potenz Grundbedingnis. Es ist
also geradezu Wahnsinn, bei älteren Personen schon eo
ipso die Möglichkeit der That anzunehmen, lässt sich
nicht direkte Potenz beweisen. Für Gerichtsärzte muss
dies erstes Kriterium sein. Doch davon später, hier soll
nur voraus bemerkt werden, dass Mutuelle und Pygisten
sehr streng von einander zu scheiden seien."
„3) In Europa wenigstens vergreifen sich sowohl
Jahrbuch II. 5 *
— 60 —
Mutuelle wie Pygisten fast nie (wenigstens kennt
man keinen konkreten erwiesenen Fall) an unreifen
Kindern, ja, es ist eigentlich ihrem Triebe innerlichst
entgegen, da ja alles Weibartige — und das unreife Kind
ist das doppelt — abstossend auf sie wirkt, entgegen-
gesetzt das Männliche und das dem Männlichen sich Zu-
neigende allein und unwiderstehlich auf sie seinen Zauber
ausübt. Sogar die so viel genannte und so schlecht ver-
standene „Knabenliebe* der einstigen Griechen — .jSarnta
paederastia" nannte sie J. M. Gesner 1779 in Bezug auf
Sokrates — und die der heutigen Orientalen ist überhaupt
nur denkbar in heissen Klimaten; im Westen, Osten, Norden
Europas, ja sogar in unserem Süden kommen nur Fälle
mit schon ausgereiften, der Sexualität fähigen Knaben
zwischen 15 bis 17 Jahren vor, überwiegend aber mit
jungen Männern zwischen 20 bis 26 Jahren (Soldaten,
Kellnern, Barbieren, Handwerkern, Dienern u. s. w.), wie ,
der hierin berühmte Polizeirat Dr. Stieb er in seinen
Erinnerungen an seine Strafgerichtspraxis eben so aus-
führlich als eingehend beweist, nicht minder der Pariser
Polizeibeamte Canl£r 1860, der Engländer Plint in
seinem „Crime in England*) die bedeutendsten ärztlichen
Autoritäten, wie Dr. Reyd eilet schon 1810, der, hierin
erste Autorität, Dr. J. L. Caspcr, weiland in Berlin,
1852—64; der Pariser Dr. Tardieu 1862 und auch Dr.
Rosenbauer in Halle schon 1839 u. s. w. Also wir
können mit Bezug auf unsere Kinder — sofern sie
Knaben sind — ruhig schlafen ; freilich, auch die kleinsten
Mädchen sind immerhin der Möglichkeit einer Brutali-
tät durch — Normalsexuale ausgesetzt, wie so viele
Notizen in der Tagespresse zu melden Anlass haben."
„Ihre eigene Leidenschaft nennen sie — sonderbar
genug — »Vernunft"; sich selber und überhaupt Ein-
geweihte „ Vernünftige" ; also logisch die Nichteiugeweihten
münftige", die Normalsexualität „das Unvernünf-
— 07 —
tige". So singt schon Graf Plate n ebenso poetisch schön
und keck, als völlig unverständlich und rätselhaft für
„Uneingeweihte* :
„Was Verntinft'ge hoch verehren,
Taugte Jedem, der's verstünde;
Doch zu schwer sind ihre Lehren,
Zu verborgen ihre Gründe.
Sie (die Normalsexualen), die von der Tugend zehren,
Ueberliessen uns (Homosexualen) die Sünde!"
„Und Goethe's Schlussstrophen in dem allerdings
höchst verdächtigen Gedicht „An den Mond" :
„Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick,
Wie des Freundes Auge mild
Ueber mein Geschick.
Ich besass es doch einmal,
Was so köstlich ist!
Dass man doch zu seiner Qual
Nimmer es vergisst!
Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Hass verschliefst,
Einen Freund am Busen hält
Und mit dem ge nies st,
Was, von Menschen nicht gewusst
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht."
sind das Morgen- und Abendgebet jedes gebildeten „Ver-
nünftigen". Freilich, die „Unvernünftigen 1 * haben bis
jetzt geglaubt, das sei das Lied eines Mädchens an
ihren Geliebten. Aber Meister Goethe scheint es geliebt
zu haben — nach Shak espeare's Vorbild in den
Sonetten — über das eigentliche Geschlecht seiner Sänger
in Zweifel zu lassen, und im zweiten Teil seines Faust
schildert er plastisch derlei Triebe; er muss sich's daher
gefallen lassen, kommt er in Verdacht, dass er, der «grosse
7*
— 08 —
Nachempfinde r% Momente hatte, in denen er, künstlerisch
objektiv, auch diese Sorte Liebe vorübergehend „nach-
empfand". Shakespeare dagegen verrät sich — für den
Eingeweihten — in jeder Zeile seiner Sonette."
„Von uns pflegen Vernünftige auch zu sagen: „Er
ist nicht so!" oder: „Das ist ja kein Wirklicher; er weiss
aber alles.*
„Unter sich nennen sie die Aktiven „Taschen", die
Passiven „Tanten*. In einem Verhältnisse heisst der
Aeltere „Onkel", der Jüngere „Neffe". Von den vielen
direkt lasziven, doch sehr harmlos klingenden Ausdrücken
zur Bezeichnung von Reizen soll gar nicht gesprochen
werden. „Jeder Walfisch hat seine Laus", singt Heine;
und der Homosexualen Ungeziefer sind die „Preller" —
von denen besonders gesprochen wird — die man in Paris
9 Chanteurs*, ihr Handwerk m Chantage u heisst, und den
Jungen, den sie als „Lockvogel" ausstellen, nennen sie
gar noch „fe Jesus!* — In allen grösseren wie mittleren
Städten haben die Homosexualen — wenn nicht direkt
kostspielige, schwer zugängliche „Clubs", wieMirabeau
seiner Zeit von den Pariser Prälaten und hohen Gerichts-
personen dieser Geschmacksrichtung vor der Revolution
erzählte — doch zahlreiche öffentliche Lokale, wo sie sich
zusammenfinden, „Novizen" vorfinden, neue Bekannt-
schaften machen, selber „Neulinge" mitbringen und be-
sondere Stuben erhalten, um ungeniert zu sein, während
meist die Kellner, oft auch der Wirt, zu den Eingeweihten
gehören. In gesellschaftlichem Verkehre ist es ihre
Hauptleidenschaft, in — Weiberkleidern zu erscheinen und
sich die Cour machen zu lassen. Historisch findet man
diese Manie schon am Hofe Henri's III.; dann an dem
James' L, von dem das Volk sagte: „Rex fuii Elisabeth,
nunc est regina Jacobus;* weiteres bei dem schweigsamen
Wilhelm von Oranien in seinem Verhältnisse zum jungen
auux Albermarie, davon die Herzogin von Orleans so
— 69 —
viel erzählt; und wie wütend war Louis XIV., als man
ihm diese Maskeraden seines eigenen Sohnes Vermandois,
seines Bruders Orleans, des Prinzen Conti, des Kardinals
Boullon, des grossen Cond£, des Vendöme, des Gramont,
des Erzbischofs Tellier etc. hinterbrachte, ihre Gelüste
verratend, und er ausrief: „La France devenue italienne!*
Und dann die Komödie des Prinzen Heinrich zu Rheins-
berg mit seinem Pagen; danach der Herzog August von
Gotha, der Goethe soviel ärgerte, und der stets, als
„Griechin" gekleidet, auf dem Sopha liegend, Audienzen
erteilte — bis herauf zu den schon erwähnten Boulton
und Park, die 1874 in Damenkleidern vor den Londoner
Assisen standen, dann aber — verschwanden."
»Und sobald man in den Kreis dieses Sexual-Frei-
maurertums als Wissender tritt, welch ein Erstaunen er-
greift einen, gelangt man zu einer Uebersicht der Zahl.
Ich sagte in meiner „Statistik": auf eine Million Männer
20,000 Mutuelle und Pygisten. Ja, aber London, Paris,
St. Petersburg, Berlin, Wien u.s. w. haben ja alle schon
über oder nahe an eine Million Einwohner! Hier hat
man denn einen Massstab! Und gar, was die Stände be-
trifft! Aus der Nähe der Throne herab beginnend, in
der hohen wie in der bürgerlichen Gesellschaft, im Kauf-
mannsstande, beim Militär, im Klerus, in der Beamtenwelt
bis herab zu den Handwerkern, dem ungeheuren Tross
der Dienenden, sogar bis zu den Bauern; dann unter den
Staatsmännern, den Gelehrten, den Künstlern, besonders
beim Theater — überall Einzelne dieser Maurerei!"
„Ohne den traurigen Vorfall 1840 hätte ich die ganze
Welt zehnmal durchreisen, alle sonstigen Geheimnisse des
Alls ergründen können, ohne auch nur je im Schlafe da-
rauf zu geraten, dass es Homosex uale giebt. Die ge-
wöhnliche Gesellschaft denkt sich überhaupt gar nie was,
bis ein öffentlicher Skandal geschieht; die Gerichte —
sie hängen wie in Nürnberg nur die, die sie bekommen;
— 70 —
und leider fallen ihnen hin und wieder nur höchst Un-
glückliche, Wehrlose, Unüberlegte, besonders aber Alte
in die Hände, die sich durch ihr kindisch Wesen selbst
verraten; und bestraft werden nur meist Mittellose, Ver-
bindungslose, Unprotegierte; Leuten der „besseren Stände*
hilft man gern durch, oder ihre Advokaten „hauen* sie
durch, denn „nackte Skandale" meidet auch die Themis
gerne, lässt sich nur irgend eine Handhabe dazu finden,
oder stösst man in den Akten gar auf eine „hohe Person*,
die durch solchen Prozess, wenn auch nur nebenbei,
kompromittiert werden könnte. Endlich in „guten Kreisen*
spricht man ja überhaupt nicht von solchen „Unfläthe-
reien*, liegt aber ein bestimmter Fall als unausbleiblicher
Gesprächsstoff vor, so sagen alle Humanen : „Nun, es wird
sich wohl anders verhalten." Dazu reicht ihre Humanität
aber nicht aus, auch nur zu denken: „Nun, und wenn
doch; was weiter?"
»Der Anthropologe, der Biologe, der Psychologe etc.,
sie mögen daher noch so vielseitig und auch praktisch
gelehrt sein, sie ahnen von solchen Fragen nie etwas, so
lange sie sich ausserhalb des Zauberkreises dieser Fragen
bewegen. Doch trifft man zufällig auf den nächstbesten
Ersten, der zu dieser Sekte gehört, und der irgend welchen
Anlass hat, die streng gewahrte Maske vertrauensvoll zu
lüften, so hat man sofort für alle Gesellschaftsstände
der Welt den Schlüssel, um in derselben das „Benjamitter-
tum* — wie die witzigste Frau des XVII. Jahr-
hunderts, die Herzogin von Orleans, diese Sekte nannte,
von der sie am Hofe ihres weibersüchtigen Schwagers,
Louis XIV., so dicht umgeben war, den eignen Gemahl
dazu zählend — zu erblicken, für das man bis dahin
kein Auge hatte. Und nun erst erschrickt man über
Niegeahntes. Denn durchreist man alle Städte Europas,
dringt man in welche Gesellschaftsschichten immer —
vom höchsten Palast bis zur niedersten Hütte, inmitten
— 71 —
Millionen von glücklichen Normalsexualen — so genügt
ein Blick aus der Schule der Vertrautheit, ein Wort,
das Eingeweihtheit verrät — und man erlebt eine Zauber-
szene. Leute, mit denen man gar nicht gewagt hätte zu
sprechen, behandeln einen nun plötzlich als alte Bekannte,
und entgegengesetzt: Leute, von denen man sichs wahr-
lich nicht versieht, angesprochen zu werden, wagen dies
plötzlich. Wie viele Hunderte erklärten mir später: „Als
Sie mich so eigentümlich scharf ansahen, mit feuchtem
Blick, wusste ich sogleich, wieviel's geschlagen hat" Und
wie erstarrte ich, als einmal ein Lakai, der hinter seinem
Herrn, einem Prinzen, einherschritt, mir im Vorbeigehen
leise, mit vielsagender Miene zuflüsterte: „Wenn Euer
Gnaden nähere Auskunft wünschen, bitte sich nur an
mich zu wenden!" Wahrhaftig, das ist ja ein
förmliches Freimaurertum, das — wie das echte,
staatlich privilegierte — r durch ganz Europa, durch
alle Gesellschaftskreise geht, von dessen Existenz
aber nur die Eingeweihten wissen. Ja, einstmals setzte
ich sogar irgendwo bei einem Minister eine Zivilsache
durch, indem ich ein Wort fallen Hess, dass mir einen
scharfen Blick zuzog; aber das bisher Verweigerte wurde
sofort bewilligt. Und so könnte ich Ihnen noch ein paar
hundert Geschichtchen erzählen. Anfangs wusste ich mir
die Ursache dieses Zaubers selber nicht zu erklären, bis
ich die Natur dieser Leute studierte. Sie haben alle eine
angeborene Meisterschaft, sich in nichts vor der Welt
zu verraten, und geradezu ins Gesicht gefragt, antworten
sie mit eiserner Stirne, und man schwört darauf, sie ver-
stehen gar nicht mal, um was man sie fragt. Aber sie
haben insgesamt die Schwäche, dass, sobald jemand nur
durch ein Wort ihrer Geheimsprache zu erkennen
giebt, auch er sei ein „Eingeweihter", sie sofort vom
höchsten, vorsichtigsten Misstrauen ins grenzenloseste, oft
albernste Vertrauen überschlagen. Von diesem Jargon
— 72 —
wird sogleich die Bede sein. Dies plötzliche Vertrauen
ist dann aber ein um so aufrichtigeres, jemehr sie im
weiteren Gespräche merken, dass ihr neuer Freund zwar
völlig eingeweiht, aber „nicht selber so sei*, d. h. nicht
auch gleicher Leidenschaft Sklave, jedoch tolerant, daher
ehrenwert und zuverlässig sei. Denn — und hier das
dritte Wunder — ihre ganze Phantasie ist zwar ge-
schwängert von Vorstellungen ihrer geheimen Lüstern-
heit, und sind sie unter ihres Gleichen, so schwatzen sie
nur von diesem Thema — aber tiefst geheim fühlen sich
die Meisten höchst unglücklich über das Spiel der Natur,
verdammt zu sein als m anima mulicbris in corpore mas-
culino*, wie sie ihr Hauptverteidiger bezeichnete, sie
„Urninge" nennend — über ihre Zwitterstellung auf den
Rangstufen der Natur, über ihre Abnormität, die sie ver-
heimlichen müssen wie einen Mord. Welch Labsal daher
für sie, können sie endlich einmal, und wenn nur für
eine Sekunde, die Maske lüften und ihr Herz vor einem
Unparteiischen ausschütten, von dem sie nichts zu fürchten
haben, vielmehr mit ihrer zeitweiligen Sentimentalität gar
noch auf Teilnahme, Mitleid rechnen können, das ich
solch* Unglücklichen nie verweigerte, besonders nicht, da
ich in 39 Jahren beinahe an 100 Selbstmorde erlebte,
bei denen ich, direkt oder indirekt, die eigentlichen Motive
kannte — gerade, indem ich diese Zeilen schreibe, liegt
mir ein eben empfangener Brief vor, der vertrauliche Mit-
teilung über solch einen Vorfall macht"
„Also für gewöhnlich genügen sich die Homosexu-
alen unter sich selbst, wenn auch die Ueberzahl fast täg-
lich mit ihren Geliebten und Liebhabern wechselt, oder
eigentlich alle zusammen gleich lieb hat, nur dass sie
eben mit dem sich begnügen, der an jedem Tage zu-
f ii 1 1 i g tinterk om mt, *
„Jedoch das hauptsächlichste Wild aller beiden Sorten
von Homosex ualen sind die — Normalsexualen.
— 73 —
„Wie," werden Sie sagen, „das ist ja gar nicht möglich!
Das ist schon an sich ein Widerspruch im Wesen beider
Triebe, und überdies ein Widerspruch gegenüber bisher
Gesagtem.* 4 — Diese beiden scheinbaren Widersprüche
werden sehr leicht durch das, was nun zu sagen kommt,
gelöst sein."
„Es versteht sich von selbst, dass ein Homosexualer
nicht um die „Liebe" eines Normalsexualen werben, noch
sich der Hoffnung hingeben kann, dieser werde sich ihm
wirklich uneigennützig, in wirklicher Sympathie, und
wirklich blos „pour les beaux yeua? hingeben. Ja, ist der
Homosexuale auch noch so schön, liebenswürdig, bezaubernd,
und der Normalsexuale ihm noch so sehr freundschaftlich
zugethan, dass er, aus blosser Neigung für den Freund
sich etwa auch einmal zur Befriedigung von dessen ab-
sonderlicher Passion hergiebt, er thut's gewiss nicht wieder,
wenigstens freiwillig, uneigennützig nicht wieder; denn
einenteils befriedigt den Normalsexualen weder der
aktuelle, noch gar der passive oder aktive pygistische
Akt, und derselbe Akt auch mit dem unbegehrenswertesten
Weibe ist ihm hundertmal lieber, und zweitens, mag er
auch alle Freundschaft für seinen Freund haben, er hat
keine Sympathie für dessen Körper und mag dieser noch
so schön sein; ein Weiberkörper allein reizt sexuell den
Normalen. Das hab' ich oft genug Homosexualen, die
mir sonst ganz lieb waren, entschieden ins Gesicht gesagt,
merkte ich, das blos die Idee in ihnen auftauchte, etwa
mir selbst Zumutungen zu machen. Und wir blieben ganz
gute Freunde. Besuchten sie mich, so fanden sie meine
„Meine" vor, die ich in alles eingeweiht, die vor solchen
Zeugen zu küssen, ich mich also gar nicht scheute, und
die es auch ungefährlich fand, sich vor solchen Freunden
nicht zu genieren. Besuchte ich aber Homosexuale —
so genierten sich diese gleichfalls nicht, waren eben
Geliebte von ihnen anwesend. Der Kompromiss ergab
— 74 —
sich ohne Schiedsrichter. Aber völlig anders ist der
Homosexualen instinktives Verhalten in der Gesellschaft.
Es giebt ja auch .Mädchen und Frauen, die entweder in
alle hübschen Männer oder blos in einen sterblichst ver-
liebt sind, deren ganze Phantasie von diesem Idol erfüllt
ist, die im Traume murmeln: „Ach, könnte ich diesen
Halbgott nur einmal in den Armen haben!" die sich aber
wohl hüten, auch nur durch eine Miene, einen Blick oder
gar ein Wort diese geheime Glut zu verraten. Noch
weitaus vorsichtiger und zurückhaltender muss sich der
Homosexuale in auch nur halb guter Gesellschaft von
Normalsexualen verhalten, denn er riskiert nicht nur
kälteste Abweisung, niederschmetternde Verachtung, ja
von Brutalen schmerzlichste und entehrendste Thätlich-
keiten, er riskiert, sogar schon beim blossen Verdachte
seines eigentlichen Wesens, für immer Verlust seines
guten Rufes, Ausschliessung aus jeder besseren Gesell-
schaft — auch wenn er Prinz ist. Er wird zur Zielscheibe
des infamsten Witzes, Gerüchte verbreiten sich über ihn,
als litte er an einer Seuche. Darunter leidet sogar sein
bürgerliches Fortkommen, sein Geschäftsverhältnis, und
endlich erfährt den Ruf auch die Behörde. Und unver-
sehens kann's ihm passieren, dass man ihn bei einem
Falle zur Verantwortung zieht, ja blind verurteilt, der
ihn ganz und gar nichts angeht, an dem er absolut un-
schuldig ist, — jedoch seinem Rufe nach traut man ihm
eben alles zu. Das ist der Schlüssel zu dem Geheim-
nisse, dass manche, besonders höhere Gesellschaft oft
direkt durchspickt ist von Homosexualen, ohne dass die
Gesellschaft selber das Geringste davon ahnen würde.
Ein sehr scharfer Beobachter vermag die feine Bemerkung
zu machen, dass oft in Mänuerkreisen, in denen laszive
Weibergeschichten erzählt werden, sich Einzelne vorfinden,
welche dabei ein Gesicht machen, wie Hunde, zu denen
man spricht und die nicht sonderlich Witziges an solchen
Geschichten finden. Dann weiss man aber freilich noch
nicht, ob solche „Kühle 14 Monosexuale oder Homosexuale
sind. Aber unter sich erkennen sich Homosexuale leicht,
auch in buntester Gesellschaft, und ohne sich persönlich
zu kennen. Und im Kreise der Homosexualen kennt
man tausendmal mehr, als es eine geheime Polizei könnte,
die Namen fast aller andern Homosexualen derselben
Stadt, desselben Landes, ohne die Mehrzahl derselben je
zu Gesicht bekommen zu haben/
„ Wenn nun in einer Grossstadt auch nur 1000 Mutuelle
und Pygisten sich befinden, die sich doch wenigstens
mit — wie wir weiter sehen werden — 2000 Personen
sexuell was zu schaffen machen, während doch das Jahr
über kaum 3—4 Fälle in einer Stadt zu gerichtlicher
Verhandlung kommen, diese Fälle aber fast immer nur
arme Teufel, alte Leute oder höchst Unvorsichtige be-
treffen, die sich öffentlich oder durch bösen Zufall er-
tappen lassen oder die Opfer von Denunziationen durch
„Preller* sind — wenn wir all das bedenken, so können
wir uns die juridischen, sozialen, moralischen, psycholo-
gischen Schlussfolgerungen von selber machen. Es
scheinen also .offenbar keine schreienden, ununterdrück-
bare Untersuchungen notwendig nach sich ziehenden,
Skandal erregenden Folgen vorzukommen — wenigstens
nicht der Öffentlichkeit bekannt werdende, — während
man doch fast wöchentlich in den Journalen was liest
von Gewaltakten mit unreifen Mädchen, Notzucht u. d.,
verübt von Normalsexualen. — Der österreichische
Reichstagsabgeordnete Otto Hausner versendet soeben
durch den Buchhandel das Programm eines grossen
statistischen Werkes „Das menschliche Elend", in dem
er auch den statistischen Ausweis geben will von: „Not-
zucht, Unzucht mit Minderjährigen und schreckliche Ver-
mehrung derselben in den letzten Jahren, Sodomie, Blut-
schande, Abtreibung der Leibesfrucht, Ehebruch und Un-
— 76 —
zulänglichkeit desselben für die Statistik, Kuppelei, Pro-
stitution und ihre Regelung, Syphilis, übertriebene Strenge
der älteren Strafgesetzgebung und deren Folgen.* Man
sieht also, der Wortlaut der Gesetze ist noch heute
schärfer als die Praxis; zugleich aber auch, wie sehr sich
diese geheimen Triebe und ihre Befriedigung der Auf-
merksamkeit der Gerichte, der Gesellschaft, überhaupt
der Oeffentlichkeit — und schon durch ihre Natur —
entziehen, noch mehr, indem sie keine so äusserlich
wahrnehmbaren Folgen wie z. B. die Syphilis nach
sich ziehen, welch letztere — nach einem andern statist-
ischen Ausweise — in blos 60 Spitälern während eines
Jahres durch 32,215 Kranke vertreten war, indess geringst
gerechnet, mehr als 1 Million Personen sich privatärztr
lieh behandeln lassen und zwar unter 16 Millionen Ein-
wohnern. Kein Wunder daher, dass auch die Natur-
forschung bisher kaum was weiss vom Vorhandensein
des verhältnismässig so zahlreichen Abnormalsexualismus
unter Männern; und die Gerichtsmedizin weiss von gar
nichts als blos von jenen Auswurfsf allen, die ihr so spo-
radisch zur Beurteilung vorgeführt werden. Unsere
Aerzte denken aber gar nicht einmal daran, bei den ver-
schiedenen Krankheiten und Kranken zugleich auch nach
dem geheimen roten Faden zu suchen, der in manchen
Fällen bis in die Kinderjahre als sexuale Wurzel zurück-
reicht.*
„Aber mit was nähren diese Mutuellen und
Pygisten ihren Trieb? Suchen sie, und ausschliesslich,
Befriedigung ihres Triebs nur unter Ihresgleichen, den
Homosexualen, oder greifen sie auch hinüber in die
ungeheure Mehrheit der Normal sexualen? Leider!
Besonders unter den Mutuellen — sporadisch sogar unter
den Pygisten — giebt es in der That Verhältnisse
zwischen zwei Homosexualen, die Jahre hindurch andauern,
von so merkwürdiger Zärtlichkeit wie fast zwischen Manu
— 77 —
und Weib, ja wo das Gemüt mit ins Spiel kommt und
wo — wie in der Ehe — nachdem die Leidenschaft schon
längst erloschen, noch gegenseitige Zärtlichkeit, Gewohn-
heit der Zusammengehörigkeit, sogar gleiche Vermögens-
rechte bis ins höhere Alter, bis zum Absterben des Einen,
fortverbleiben. Freilich kommen solche dauernden Ver-
hältnisse, die beiderseitig auf gutes Gemüt hinweisen, auch
bei Normalsexualen nicht in absoluter Regel vor,
auch nicht innerhalb legitimer Ehe — man weiss ja, wie
entsetzlich viele schlechte Ehen weiter geschleppt, wie
viele Ehescheidungen jährlich verlangt werden. Und unter
der grossen Zahl unverehelichter Normalsexualer giebt es
gar Wenige, welche ihr lebelang derselben Geliebten treu
bleiben; die allergrösste Mehrzahl liebt, ob nun Normal-
oder Homosexuale — die Abwechslung."
„Die kulturhistorische Seite all dieser Fragen kann
hier nicht besprochen werden. Es sind hier nur so kurz
als möglich faktische Thatsachen zu geben, damit der Natur-
forschung überhaupt bisher übersehene Stoffe für ihre
Schlussfolgerungen geboten werden. Hoffentlich werden
nachfolgende Bemerkungen nicht ausserhalb der Forscher-
kreise missverstanden werden. Man darf es schon wagen
zu sagen, dass sogar einzelne Könige z. B. den Pocken er-
lagen, ohne damit gesagt haben zu wollen, dass alle
Könige der Welt zu Pocken inklinieren."
„Bei unseren modernen Verhältnissen hat sich unter
andern auch jener Stand vermehrt, dessen weibliche wie
männliche Mitglieder sich als freie Menschen unter gegen-
seitigen Bedingungen auf Zeit vermieten, um den Mietern
alle möglichen Dienste zu leisten. Kurz, es ist von der
dienenden Klasse die Rede. Was die weiblichen Per-
sonen dieser Kategorie betrifft, so kann nur ein Dumm-
kopf oder ein Mucker zweifeln wollen, dass man bei
zahlreichen — gemerkt nicht bei allen — Köchinnen,
Stubenmädchen, Dienerinnen u. s. f. durch „kleine Ge-
— 78 —
schenke", wenn nicht glattweg durch Geld ebenso leicht
zu Genusszielen gelangt, als bei der ausgesprochenen
Prostitution. Ebenso verhält es sich unter den Männern.
Die Homosexualen suchen sich zumeist „Willfährige"
(Concedcntes) in dem überaus zahlreichen Stande der
Bedienten, Kellner, Hausknechte, Lauf burschen
Friseure, Barbiere etc., wie jener Handwerker, w r elche
unmittelbar mit Kunden zu thun haben, wie Schneider,
Schuster, Tischler — bei all diesen Jugend bis zu 25
Jahren vorausgesetzt. — Dann kommt die zweite Gruppe
junger Handelsbeflissener, einzelner Studenten, junger Be-
amten. Endlich — wie schon Geheimrat Dr. Stieber
in seinem Buche betonte, nicht minder Dr. Casper —
bietet bei der ungeheuren Steigerung der Kriegsmacht
aller europäischen Staaten der Soldatenstand die
reichlichste und leichteste Auswahl für Leute, welche ge-
neigt sind, „einem jungen Freunde* nicht nur das Taschen-
geld zu verbessern, sondern auch sonst bescheidenen
Wünschen desselben zu entsprechen, bei Dienern durch
gutes Trinkgeld, bei jungen Leuten höherer Ansprüche
durch gute Diners und Soupers und durch Einführung
in fröhliche Kreise. Von all diesen Leuten verlangt die
bürgerliche Gesellschaft ganz trocken und nüchtern für
bares Geld, für meist kärglichen Lohn die schwersten,
oft schmutzigsten , erniedrigendsten, gesundheitsschäd-
lichsten oder aufreibendsten mechanischen Arbeiten, ohne
Rücksicht auf etwaigen Bildungsgrad, und nennt alle diese
Arbeiten und mit Recht „ehrenwerte", erfüllt der Dienende
seine Pflicht. Denn es ist in der That ehrenwerter, sogar
wenn man seinen Leib verkauft, oder ihn als Strassen-
reiniger, Gossenreiniger, zuletzt sogar als Henker ver-
mietet, als man wird Vagabund, Betrüger, Dieb, zuletzt
etwa auch Mörder. Also eine Gesellschaft, welche be-
rechtigt solche Grundsätze aufstellt, in allen Fällen, wo
ihr ein Dienst geleistet wird, darf nicht verurteilen, wenn
einer ihrer Diener mit freiem Verfügungsrecht seinen
Körper hin und wieder auch an die Lust verkauft, ohne
seinen andern Pflichten gegen die Gesellschaft untreu zu
werden, und ohne für die Gesellschaft so böse Folgen
hervorzubringen, als ihr vielfach der gefällige Teil der
weiblichen Dienerschär zufügt."
„Unter jenen jungen Leuten, welche sich die intime
Freundschaft eines, oft auch noch sehr jungen „Onkels*
gefallen lassen, entpuppen sich in solchen Verhältnissen
gar viele als selber zum Homosexualismus gehörend.
Aber die grösste Ueberzahl sind reine „unentvvegbare*
Normalsex u ale. Sie geben geduldig ihre Reize preis,
geschieht ihnen doch nichts Schmerzerregendes, im Gegen-
teile: sie fühlen ja selber, wenigstens halben Genuss da-
bei. Aber ihre volle Brunst, ihre sexuale Sympathie ge-
hört ausschliesslich dem Weibe. Sobald sie daher nach
solchem „Gefälligkeitsdienst" sich nur wieder potent
fühlen, verwenden sie die erhaltenen Mittel dazu, sich
voll am weiblichen Busen zu entschädigen. Sie selber
verhehlen das nie, und ihre Liebhaber können ihnen das
nicht übel nehmen; im Gegenteile, gar viele dieser
Willigen bekommen von ihrem „Freunde" mit der Zeit
sogar noch Aussteuer, um sich sorglos verehelichen zu
können; und dann ist nicht mehr die Rede vom alten
Verhältnisse. Der junge Mann hütet sich wohl, seiner
Frau Geständnisse in dieser Richtung zu machen, und
stellt den einstigen Freund objektiv als den alten Wohl-
thäter vor."
„Dagegen jene Sorte von Burschen, denen wüster
Charakter schon angeboren, sie geben sich zwar für
Geld ebenso gleichgültig einem alten geilen Weibe, wie
einem Homosexualen preis. Aber sobald die That voll-
führt ist, werden sie zu Vampyren, treten mit unersättlichen
Ansprüchen auf, und wenn sie auch noch so befriedigt
werden, sie kommen immer wieder, stets unverschämter,
-SO-
mit Denunziation drohend — obgleich sie wissen, dass
solchen Falles sie selber die gleiche Strafe mit träfe! —
und sich als arme Verführte erklärend. Genau dasselbe
Manoeuvre, das Jemand erlebt, dem man eine Vaterschaft
aufdisputieren will. Aber gar oft verbinden sich mehrere
solche Willige, oder auch ein Williger mit einem nächst-
besten Spekulanten, und nun geht man mit ., vereinten
Kräften" dem Opfer zu Leibe, ja. schliesslich auch ganz
unschuldigen Familienvätern, denen man droht, auch sie
solcher Dinge anzuklagen, wenn sie nicht blechen, was
diese Esel meist auch thun, in Todesangst, nur nicht vor
Gericht und in so abscheulichen Ruf zu kommen. So
bilden sich denn — besonders in Paris und in Berlin —
ganze Banden von handwerksmässigen Prellern oder
Chanteurs heraus, die förmlich reichliche Pensionen be-
ziehen. Dr. Tardieu erzählt einen Fall mit einem be-
rühmten französischen Gelehrten, der nicht den Mut hatte,
sofort zu Gericht zu gehen, sondern 30 Jahre hindurch
seinen halben Gehalt opferte, bis es zuletzt herauskam,
dass der ursprüngliche Willige längst nicht mehr lebte,
aber sein Erpressungsrecht an andere völlig Indifferente
als „Clientel" verkauft hatte, die es als „Geschäft" weiter
fort ausbeuteten. Ein berühmter Diplomat musste zwei-
mal auf andern Posten versetzt werden, um diesem Un-
geziefer zu entgehen. Der Mörder des Erzbischofe von Paris,
Sibour, Namens Berger, war seinerseits Überwiesenein Will-
fähriger; wie in Genf der junge Maurica Elcy, der mit
seiner Chanteurbande jahrelang die ganze Republik
tyrannisierte, bis er zuletzt den Uhrmacher ermordete.
Und eben wird wieder ein ähnlicher Mord aus Oesterreich
gemeldet Und all diese waren Normal sexuale, die
sich für Geld Homo sexualen ergaben.*
„So erzeugt das Gesetz gegen ein eingebildetes Ver-
brechen wirkliche Verbrechen!"
„All das bisher Gesagte beweist uns, die wir aus-
— 81 —
schliesslich auf dein Standpunkte der Naturforschung
stehen, eben noch weiter nichts, als dass es in unserer
europäischen Gesellschaft und besonders in der Gegen-
wart, eine verhältnismässig grosse Anzahl von Männern
aller Stände, bis zu den höchsten und niedersten giebt,
welche, wie es scheint, eigentlich nur aus Raffinement,
aus Blasiertheit oder angeborenem schlechten Geschmack
sich sexual vom Weibe abwenden und unter sich selbst
Unflätereien vollbringen, welche ebenso zwecklos sind,
als sie die körperliche wie geistige Gesundheit schädigen.
— Es fragt sich nun, ob das eine Willkür ist, eben so
frech als sinnlos, wie ja alle Moden, welche die Mensch-
heit schon so oft seuchenartig ergriffen, aber nach kurzer
toller Wirtschaft plötzlich wieder, gleich einem Nichts,
verschwanden, — oder ob dies ein pathologischer Zustand
einzelner Individuen ist, die, indem sie sich von Jugend
an durch Selbstbefleckung schwächten, — und das ist die
Anschauung der meisten Untersuchungsgerichte — , des
Weibes nicht mehr fähig und zu feig sind, zu versuchen,
Weibern gegenüber den Mann zu spielen, daher sie zu
dem elenden Surrogat onanistischen Genusses halten oder
gar zur widernatürlichen Imitation des Coitus greifen?*
„Oder aber, drittens, ist es ein angeborener un-
unterdrückbarer einseitiger Trieb, den gewissen Indivi-
duen einzuimpfen die Natur sich das herzlose Spiel er-
laubte, indem sie ja bekanntlich innerhalb ihrer strengen
und schönen Gesetze sich die Rücksichtslosigkeit ge-
stattet, ihrer eigenen Ordnung Hohn zu sprechen und
auch Abnormitäten Existenz zu verleihen? Nur in diesem
Falle hat die Naturwissenschaft ein Interesse, ein Recht
und eine Pflicht, sich auch noch um solche Fragen, ebenso
gewissenhaft als frei von aller Prüderie, zu kümmern,
welche bisher noch keinen anständigen Menschen ver-
lockten, sie in die Reihe der prüfenswerten Fragen zu
stellen."
Jahrbuch II. (J
— 62 —
„Aber wer kann das Angeborensein eines Triebes
beweisen, und mit welchen Argumenten?"
„Sehen Sie, Verehrtester, diese Frage stellte ich mir
selber schon tausendmal seit den 39 Jahren, in welchen
ich dies Phänomen und so vielseitig beobachtete. Sie
können mir bezeugen, wie leicht es mir fiel, Ihnen die
vielseitigsten Beobachtungen über das sexuale Wesen
des Weibes mitzuteilen; und welche Fülle ich Ihnen
hierüber zur Disposition stellte, wähnend, ich allein wäre
auf jene scharfsinnige Entdeckimg verfallen, es war doch
kaum Eine Observation darunter, die Sie nicht schon
längst selber gefunden, und deren Ursachen Sie nicht
schon weit gründlicher wussten, als ich. Wir normalen
Männer kennen eben das Weib durch und durch schon
aus Instinkt. — Nicht viel mehr Schwierigkeiten fand es
dann, meine Anschauungen über den Monosexualismus
beim Manne und beim Weibe begreiflich zu machen und
mich klar darüber auszudrücken. Aber über den Homo-
sexualismus habe ich Ihnen nun schon private ein
dickes Manuskript zusammengeschrieben, jedoch noch
nicht einmal die Hälfte von den Daten und Schluss-
folgerungen mitgeteilt, die sich mir während 39 Jahre
langer Beobachtungen in drei Weltteilen aufdrängten, mir
im Gedächtnis haften blieben, ohne dass ich den Schlüssel
zu diesem Rätsel gefunden, welches schon dadurch dop-
peltes Rätsel ist, weil man es seit Jahrhunderten noch
nicht der Mühe wert fand, es mit dem vollen Ernst der
Wissenschaft, also frei von jeglichem Vorurteil und von
individueller Antipathie oder Sympathie anzusehen."
v Sie müssen aber ja nicht glauben, dass noch Niemand
über dies Rätsel geschrieben. Im Gegenteil, allein
schon aus der Literatur der Griechen liesse sich eine
ganze Bibliothek zusammenstellen. Dann wieder eine
Bibliothek für sich machen seit christlicher Aera jene
Humanisten und Philologen aus, welche sich bestrebten
- S3 —
das Helenentum bis ins geringste Detail zu verherrlichen,
die aber, sobald sie von Schritt zu Schritt auf die Rätsel
stiessen, in zimperlicher Vorsicht zur Schönfärberei griffen
und sich abmühten, die hinkendsten Beweise zu liefern,
wir missverstünden die Frage, denn es habe sich nie um
etwas anderes gehandelt, als um reinsten Piatonismus so
edler Art, den zu verstehen wir heute gar nicht fähig
sind (hat man doch auch schon hunderte übergelehrte
Kommentare geschrieben, um zu beweisen, Shakespeare
habe in seinen Sonetten nicht einen schönen jungen
Freund verherrlichen wollen, sondern in ihnen — sich
selbst, seinen unsterblichen Geist besungen!!) — Endlich
übersende ich Ihnen anbei eine — nicht entfernt komplete
— Bibliographie — nachweisend die meisten Werke,
welche — vom Standpunkte der Philosophie, der Rechts-
geschichte, der gerichtlichen Medizin, der Gesetzgebung
aller Länder, der Prostitutionsgeschichte u. s. w., — über
Homosexualismus beider Geschlechte handeln, sowie eine
reiche Liste von Memoiren, Geschichtswerken, Reise-
schilderungen, biographischen Lexiken u. dgl., in denen
Sie jede Angabe uon mir historisch nachgewiesen finden.
Es sind 173 Titel, und daneben fehlt noch mehr als die
Hälfte der schon früher notiert gewesenen. Aber ich er-
schöpfte auch möglichst alle literarischen Quellen über
diese Frage. Was ist das Resultat dieser Forschung?"
B a) Soweit unsere Geschichtskenntnis zurückreicht,
finden wir Daten über Homosexualismus. Nicht nur bei
Homer und in der Bibel, auch in allen indischen Quellen. 14
,,b) Griechenlands Kultur blühte etwa 1500 Jahre,
die Weltherrschaft Roms gut 2000 Jahre, und es durch-
sickerte in beiden Kulturepochen der Homosexualismus
kontinuirlich, die hervorragendste Rolle spielend; die
Majorität des Griechen- und Römertums pflanzte sich
ebenso kontinuirlich stets reichlich fort, und dieser Welt-
6*
— 84 -
Staaten endlicher Verfall ist in allen andern Ursachen,
nur nicht ausschliesslich in sexualer Entartung zu suchen."
„c) Für ganz Asien nimmt man 700 Millionen Be-
wohner au, und ihre Geschichte kennen wir seit 5000 Jahren.
Es gab nun nie und giebt heute noch keinen Asiaten,
welchen Yolksstamms immer, der nicht Homosexualis-
mus, passiv und dann aktiv, erduldete und verübte.
Aber so sehr auch die einzelnen Völker in ihrem Da-
sein wechseln — ganz Asien ist seit 5000 Jahren nicht
entvölkert. 11
,dj Aber wahrscheinlich, sagt man, war und ist
M onosexualität immer nur Giftblüte allerhöchster
Kultur, des Raffinements, und das gesunde Volk muss
erst dazu angesteckt werden. Nun wir haben aus dem
15. — 17. Jahrh. die zahlreichen Reisewerke gleich nach
Entdeckung Amerikas von Gomora, Ramusio, Garzia
über die Indianer, von Gacilasso über die Inkas,
von Flacourt über Madagaskar, von Rochefort,
von Hennepin über Louisi ana, von Garlevoix über
Paraguay, von De la Potherie, Lafiteau, Paur,
Virey über's übrige Südamerika: überall, von Urzeit
an, war Hoinosexualismus eingewurzelt. Stell er fand
ihn bei den Kam tschadalen, Reineggs überall im
Kaukasus. Neugriechenland und Italien gehören ihm
ganz, und seine Herrschaft in Portugal schilderte schon
Byron, der selbst zu diesem Kultus zählte. Man trifft
auf seine „Willigen" bei allen „Büeblen" der Schweizer
Alpen, wie bei den Bauerburschen der Steycrmark,
im einsamsten Hochschottland und auf den ameri-
kanischen Prärien oder ungarischen Puszten. Serben
und Rumänen sehen dies Amüsement als ein National-
recht an, das sie sich nicht antasten lassen. Den jungen
Zigeuner braucht man gar nicht zu fragen, man be-
fiehlt ihm. BertholdSeemann erzählte lustige homo-
noxuale Geschichten von den Fidschi-Inseln, Kapt.
— 85 -
Morris von Kalifornien, Dr, Comba von Brasilien.
Wo man hinsieht, in allen 5 Weltteilen, überall auch
Homosexuali6mus neben Normalsexualismus; und zwar
von Urzeiten her, instinktiv."
„e) Die Kirche erklärte diesen Trieb für „Todsünde,
Laster und Verbrechen", und ganze Bögen reichten nicht
aus, all* die Päpste, Kardinäle herzuzählen, welche die
Sache offen betrieben, und jeglicher Klerus stand von
jeher unter dieser Anklage; und die Jesuiten Benedicti,
Sanchez, Beroalde im 16. Jahrhundert erwarben sich
durch ihre Schriften den Namen als „Klassiker der
Sodomie".*'
„f) Schlagen wir endlich — die Griechen und
Römer gar nicht beachtend — die Blätter der Geschichte
der letzten 18 Jahrhunderte auf, und wir finden den Hohen-
staufen Friedrich I., die Templer, Juan II, Cosimo
v. Medici, Papst Giulio III., Charles IX., Henri III.,
James L, Wilhelm von Oranien, Peter den Grossen,
Friedrich den Grossen, Karl XII., Karl von Lucca;
oder Macchiavelli, Consalvez de Cordova, Con-
fadio, Shakespeare, Moliere, Jodella, Palla-
viani, Lully, Vendome, Cond£, Corregio, Michel
Angelo; oder den Schöpfer des französischen Code,
Cambac^r es, Winkelmann, Johannes von Müller,
A. W. Schlegel, Byron, Custine, E. Sue; oder
Jffland, Wurm, Kunst, Hendrichs, v. Stern berg,
Graf Platen — um nur Einige aus tausenden altbe-
rühmter Namen zu nennen — angeklagt des Homo-
sexualismus und meist auch mit solchen Belegen und
Dokumenten, die schwer anzufechten sind uud deren viele
sogar in Meyers Konv.-Lexikon übergingen.*
„Wahrlich: , 9 Le diahlc in empörte! ils sout toits fous;
ou s'ils ne Ic sont pas: misericordc, mon Dicv 9 t'est moi
qui le suisl"
„Also die Geschichte lehrt uns, dass dieser Trieb des
— 8(5 —
Hoinosexualismus — wie in einzelnen Fällen auch der des
Monosexualismus — ein angeborener sein muss. Soweit
unsere historische Kenntuisse zurückreichen — siehe : Ed.
S e 1 1 o n's Schriften über das alte Indien, London 1863—65, —
bei allen wilden, bei allen primitiven, wie bei allen hoch-
kultivierten Völkern finden wir seit Jahrtausenden und
bis heute diesen Trieb, der noch dazu, auch wo er am
freiesten sich ausbreiten konnte, insofern seine Gegner
hatte, dass man ihn nie dem Norm als exualismus völlig
gleich stellte. Aber schon das Altertum bestrebte sich
wiederholt, diesen Trieb entweder zu Kulturzwecken aus-
zunützen, oder noch mehr, ihn für Staats vorteile zu dis-
ziplinieren. Die Lehre Christi hat auch kein Wort gegen
diesen Trieb, erklärt vielmehr: eher wird 10 solchen
Leuten vergeben werden, als auch nur einem Pharisäer.
Erst das historische Christentum — von jener unheil-
vollen, naturwidrigen Verachtung alles Irdischen, Körper-
lichen ausgehend — erklärte Wollust für teuflisch, diese
aber insbesonders ; es verfluchte sie und verfolgte sie mit
Feuer und Schwert. Doch jedes Volk, das sich dem
historischen Christentum anschloss, brachte das „Laster"
mit — wie Tacitus, noch weitmehr aber Engiritus
von den alten Germanen erzählt. — So entstand der
Begriff des Ketzertums, wobei unter Atheismus Unzucht,
unter Unzucht Atheismus verstanden wurde." (? Jaeger.)
„Und nun der zweite, noch viel stärkere Beweis des
Angeborenseins. Seit 19 Jahrhunderten sind sogar
Vatermord und frechster Raub nicht so verachtet, ge-
hasst, lange sogar mit Feuertod, dann doch noch mit
schwersten Strafen, mit Entehrung, Brotlosmachung, Zer-
reissung aller Verwandtschaftsbande etc. noch heute be-
droht wie der Homosexualismus, ja, der blosse Ruf,
demselben zuzuneigen. Und siehe da — von antiker
Welt gar nicht zu sprechen — die Geschichte aus dem
modernen Zeitalter weist uns evident eine Reihe von
— 87 —
berühmten Männern nach, welche die Welt mit ihren
edlen Ideen erfüllten, als Menschen und als Bürger gleich
gut waren und gut wirkten, und die sich doch nicht so
weit beherrschen konnten, ihre geheime Leidenschaft
nicht zu verraten. Und dort: Fürsten, Mächtige und
Reiche, die sich willkürlichst ganze Weiberharems hätten
halten oder sich zu willigsten Sklaven von Maitressen
hätten machen können, bei freiester Wahl unter allen
Schönen der Welt — aber auch sie ergaben sich dieser
sie brandmarkenden Leidenschaft. Kann man sich ein
schlagenderes Argument für das Angeborensein denken?"
„Jedoch, bevor ich auf ein weiteres Argument über-
gehe, das ich aus eigener Erfahrung schöpfte, will ich
die zwei Hauptcharakteristiken dieser unglücklichen In-
guinität (ich weiss nicht, ob ich das rechte Wort wähle)
scharf hervorheben."
.,a) Kein geborener Homosexualist ergab sich jemals,
auch nicht in frühester Jugend, der sogenannten ein-
samen Onanie, denn sobald in ihm der Trieb erwachte,
suchte er stets schon Kameraden, mit denen er den
Akt verübte — also der diametrale Gegensatz zum
M o n o s e x u a 1 e n. Es lässt sich daher kein ärgerer Fehl-
schluss denken, als der gewisser Richter und Verteidiger,
die Homosexualität sei die Folge zu übertriebener ein-
samen Onanie, die zum Genuss des Weibes unfähig mache. "
,,b) Ich glaube die Beobachtung gemacht zu haben,
dass die meisten Homosexualen — wenigstens unter denen,
die ich studierte, — fast immer die Letzten ihrer, oft
sogar Jahrhunderte hindurch überfruchtbaren Familien,
oder doch jenes Zweiges derselben waren, der, selbst-
verständlich, mit ihnen ausstarb. Ich bitte, mich ja nicht
misszuverstehen, und nicht an jenen hübschen Witz junger
Mediziner zu denken, dass sich manchmal die Unfrucht-
barkeit von der Mutter auf die Tochter vererbe. Wer
je Genealogie studierte, besonders die so wenig gekannte
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Wer
89 —
dabei. — Vor ein paar Jahren besah ich mir einmal inv
dichten Gedränge zwischen anderm Publikum die jetzt
in Mitteleuropa so viel gezeigten Nubier. Dabei fixierte
ich die drei jüngsten der Burschen, und richtig, sofort
warfen sie kokette Blicke auf mich, griffen sich, nach
mir deutend, an die Scham und lachten unbändig, in ihrem.
Kauderwelsch offenbar mich betreffende Bemerkungen
austauschend; plötzlich aber wendeten sie sich alle drei
um, und suchten was am Boden, um ihre Hinterteile
plastisch bloßzustellen. Ueberaus gutmütige, elastische
Geschöpfe, erlauben sie sich nie Unhöflich keiten gegen-
über dem andern Publikum. Aber fast alle Nubier sind
geborene Homosexuale.*
„Besonders Mutuelle und die passiven Pygisten
— die aktiven im Gegenteile — lieben meist ganz-
schwärmerisch ihre Mütter, halten sich überhaupt gern
an Weiber, tratschen um die Wette mit diesen in deren
Gesellschaft — sind aber schroff gegen Mädchen —
haben förmliche Wut, sich in Weiberkleider zu stecken,
iticken, stricken, nähen — ich kannte in Köln einen alten,,
viel belachten Major, der den ganzen Tag am Stick-
rahmen sasa und wirklich hübsches leistete. T , -Jugend -
renriniazenx*, pflegte er affektiert diese sonderbare Passion
u entschuldigen* Udingens teilen sieh die Mut Hellen
nfern in Aktive und Passive, als bei diesem Verhält-
— 88 —
in bürgerlichen Familien, den sogenannten Patriziern, und
beim Adel, der streng auf reines Blut hielt, wird das
Gesetz erkannt haben, dass sich Familien oft durch Jahr-
hunderte kräftig fortpflanzten durch 1 — 3 Söhne, dass in
diesen Familien aber plötzlich, nachdem sie wiederholt in
10 — 12 Kindern sich auszweigten, die letzte so überfrucht-
bare Generation überwiegend mehr Töchter hatte, dagegen
ihre Knaben entweder während der Entwicklungszeit oder
später in kinderloser Ehe starben, oder auch, dass Einzelne
davon dem Wahnsinne oder stillem Hinsiechen verfielen,
während der allerletzte sich gar nicht mehr verehelichte.
Ich bin natürlich weit davon entfernt, dies Vorkommen
als das alleinige zu bezeichnen; jedoch ich habe diese
Beobachtung frappierend oft gemacht, um sie nicht der
Beachtung zu empfehlen."
„Das Angeborensein des Triebes lässt sich schon beim
Kinde ersehen. Es hat Lieblingskameraden, schmiegt
sich körperlich an diese, berührt sie an gewissen Stellen
wie unwillkürlich, oder lässt sich wie zufällig berühren,
kokettiert — aber nur männlichen, nie weiblichen Indi-
viduen gegenüber — durch Entblössung des Hintern,
durch ungeniertes Harnen etc. Erst oh 11 längst beobachtete
ich einen solchen Fall bei einem elfjährigen Knaben, der
mit mir, da ich ihn scharf ansah, lächelnd sein Spiel
treiben wollte. Und als ich seine Mutter darauf auf-
merksam machte, meinte sie, das sei harmloser Ueber-
mut, und rühmte es noch, dass er sich mit den Nachbars-
mädchen keinerlei Unziemlichkeiten zu erlauben pflegte.
Es ist bei dem Kinde auch wirklich bloss erst Instinkt.
Vber Kinder fühlen schon instinktiv das Recht oder Un-
recht selbst eines Spasses, und als der Kleine das that,
hatte sein, blos ein Jahr älterer Bruder sofort ein „Pfui!"
zur Hand, obgleich ich blos dazu lächelte; und seine
Mutter sagte mir, der Kleine spiele am liebsten mit
fremden Knaben allein und habe nicht gerne seinen Bruder
89 —
dabei. — Vor ein paar Jahren besah ich mir einmal inv
dichten Gedränge zwischen anderm Publikum die jetzt
in Mitteleuropa so viel gezeigten Nubier. Dabei fixierte
ich die drei jüngsten der Burschen, und richtig, sofort
warfen sie kokette Blicke auf mich, griffen sich, nach
mir deutend, an die Scham und lachten unbändig, in ihrem.
Kauderwelsch offenbar mich betreffende Bemerkungen
austauschend; plötzlich aber wendeten sie sich alle drei
um, und suchten was am Boden, um ihre Hinterteile
plastisch bloßzustellen. Ueberaus gutmütige, elastische
Geschöpfe, erlauben sie sich nie Unhöflichkeiten gegen-
über dem andern Publikum. Aber fast alle Nubier sind
geborene Homosexuale.*
„Besonders Mutuelle und die passiven Pygisten
— die aktiven im Gegenteile — lieben meist ganz-
schwärmerisch ihre Mütter, halten sich überhaupt gern
an Weiber, tratschen um die Wette mit diesen in deren
Gesellschaft — sind aber schroff gegen Mädchen —
haben förmliche Wut, sich in Weiberkleider zu stecken,
sticken, stricken, nähen — ich kannte in Köln einen alten,,
viel belachten Major, der den ganzen Tag am Stick-
rahmen sass und wirklich hübsches leistete. „ Jugend-
reminiszenz pflegte er affektiert diese sonderbare Passion
zu entschuldigen. Uebrigens teilen sich die Mutuellen
insofern in Aktive und Passive, als bei diesem Verhält-
nisse der eine stets etwas älter ist als der andere, und
der A eitere sich — sehr oft süsslich und schleichend,
daher „warmer Bruder* genannt — auch mit lüsternen.
Blicken an nichts ahnende Normalsexuale macht, während
der Passive sich solchen gegenüber mehr lockend ver-
hält. Aber alle, am stärksten die passiven Pygisten,
haben etwas sonderbar Weibisches an sich — daher sie
schon die Alten direkt „Fftcminati" nannten, und noch
heute die Franzosen „E/fcmmwes" — sind affektiert,,
kokett, nicht immer physisch, aber stets moralisch feig,-
— 90 —
wie in geheimem Schuldbewusstsein, werden gar oft die
Zielseheibe schlechter Witze entschiedener Männer, die
aber nichts ahnen von der eigentlichen Natur der Ge-
hänselten. Letztere sind dann zänkisch, schmollen über
jeden auch harmlosen Spass, „ verbitten* sich denselben
4ind gehen vornehm thuend ab. a
„Am merkwürdigsten für den Naturforscher ist aber
•das Verhalten der Weiber gegenüber den Homo-
sexualen. Jungfrauen würdigen dieselben kaum eines
Blickes, halten sich dieselben eiskalt ab. Frauen schwatzen
gerne mit ihnen, thun sogar so vertraut mit ihnen, als
wüssten sie, dass es Eunuchen sind. Ich fand sogar, dass
Frauen Homosexuale in allerlei häusliche Fragen ein-
reihten, sie um Rat bei direkt häuslichen Arbeiten frugen,
ja und mit den jüngsten über Schwangerschaft und Kinder-
aufpäppeln plauderten, aber keine Spur eines koketten
Blickes, eines gefühlvollen oder zärtlichen Tons, oder gar
eines jener tausend Zeichen sinnlicher Liebe des Weibes
.gegenüber dem Manne wurde je an diese oft sehr schönen
Hämmlinge vergeudet. Und noch dazu wusste ich oft
allein, dass es Hämmlinge seien. Bei solchen Beobach-
tungen griff ich mir oft an den Kopf und monologisierte :
„Den Kukuk noch einmal, riechen denn die Weiber diese
Impotenz ihnen gegenüber, oder sehen sie es jenen Leuten
an den Mienen an?" (Die meisten dieser Frauen werden
wohl gerade nichts mit der Nase wahrgenommen haben,
das Geheimnis ist nichts andres als die Wirkung des
■ ; iij:eatmeten Duftes auf das körperliche Gefühl. Jaeger.)
„Und nun erst das Verhalten der Homosexualcn
-Hinüber den Weibern!"
„Wie gesagt, die Homosexualen verkehren sehr gern
mit Weibern, denen gegenüber sie sich nicht sowohl als
M rinner benehmen, vielmehr als wären auch sie Weiber,
fcssch, häusliche Arbeit und Sorgen liebend und an-
bfnglich wie Schwester an Schwester. Aber keine Spur
Oi —
sinnlichen Reizes, unfähig jeden Tons der Leidenschaft
des Mannes zum Weibe. Der berühmte Heldendarsteller,
weiland Hendrichs, besonders in seiner Jugend ein
prachtvoller Mensch, war in Liebesroilen hinreissend bis
zu dem Momente, wo er zu sagen hatte: „Ich liebe dich!*
Das war stets gefühllos, ebenso sein Kuss kalt, hatte er
ihn auch der schönsten Schauspielerin zu geben, die ihn
aber auch eben so kalt zurückgab. Manche seiner Part-
nerinen in solchen Rollen gestanden mir, er sei so lieb
und geistreich, auch wahrhaft berauschend durch grosses
Pathos, aber kein Weib könne an seiner Seite warm
werden. Und auch in seinen schönsten Jugendtagen, wie
er mir selbst sagte, erhielt er nie von Damenseite einen
Liebesbrief, obgleich man lange nichts von seiner Passion
wusste, und er auch blos Mutualer war. Noch auffallender
erschien dies einige Dezennien vorher bei dem herrlichen,
wenn auch etwas koulissenreissenden Heldendarsteller,
weiland Wilhelm Kunst, der sogar auf ein paar Tage
Gatte der grossen Tragödin Sophie Schröder wurde
— um ins Wiener Burgtheater zu gelangen, was fehl-
schlug — dann aber geradezu aus der Gattin Haus ge-
jagt wurde, da er sich empörend betrug. Also kein
Homosexualer ist dem Weibe sexualsympathisch.* (Dazu
gehört eben unbedingt die Einatmung eines adä-
quaten Männerdufts, und über einen solchen verfügt dem
Weibe gegenüber nur der Normalsexuale. Jaeger.)
„A 11 e Homosexualen erklären dasWeib für
antipathisch riechend. Besonders die Brüste sind
ihnen fatal, sowohl plastisch, als noch mehr der Ausdünst-
ung, oft auch des Milchgeruches wegen. Sie haben einen
Horror vor dem weiblichen Körper und seinen Reizen,
sie sind überhaupt des Weibes nicht fähig, und auch ein
ganzer Harem der schönsten nackten Weiber kann, selbst
mit allem Raffinement, bei ihnen ebensowenig eine sexuale
Regung erzielen, als beim Monosexualen. Doch darauf
— 92 —
werdeich beim aktiven Pygismus nochmals zurückkommen.*
(Die obige Bemerkung, dass sie trotzdem sich gerne in
Weiberkreisen bewegen, ist kein Widerspruch, sondern
Umschlag verdünnten Ekelduftes in Lustduft durch ge-
nügende Distanzierung. Jaeger.)
„Von den Beziehungen der Homosexualen unter
sich und gegenüber Normalsexualen, auf die sie
lüstern werden, gilt ganz dasselbe in sexualer Beziehung,,
wie zwischen normalen Männern und Frauen. Ein Homo-
sexualer sieht Hunderte seines Gleichen und Tausende
hübscher, junger Normalsexualer ganz gleichgültig an y
bis ihn plötzlich der Hundertste oder der Tausendste
geradezu verrückt macht. Er scheut nun weder Demütig-
ungen noch brutalste Zurückweisungen, noch Opfer,
Liebesdienste oder Geld. Wie oft wundert man sich
schon bei Normalsexualen, von denen manchmal einer
für eine bestimmte Maitresse Hunderttausende vergeudet,
während er für wenige Thaler dutzendweise Schönere
erlangen könnte; ja längst überdrüssig der Reize der
Teuren, zahlt er, weder durch Gesetz noch durch Sitte
hierzu gezwungen, Pensionen. Ebenso handelt der reiche
Homosexuale; er adoptiert fast den Liebling — und fast
alle Adoptierungen jüngerer Leute durch ältere Personen,
mit denen sie nicht blutsverwandt sind, haben diese Wurzel
— sorgt, wie schon gesagt, dass der Liebling, dessen
man satt geworden, gut ausgeheiratet werde, oder ist's
selber ein Homosexualer, dass er eine gute Lebensstellung
erhalte etc. Man könnte hier aus der Geschichte merk-
würdige Beispiele zitieren, wie z. B. weiland Herzog
Karl von Lucca oder der weiland holländische Gesandte
Baron Heckeren für ihre Lieblinge sorgten, die heute
in verschiedenen Staaten hohe und sozial wie politisch
berühmte Positionen einnehmen und „in der Welt-
geschichte mitmachen 0 .
„Bei den letzen Ausführungen muss besonders bemerkt
— 03
werden, dass alle Homosexuale — die Mutuellen wie
«die Pygisten — sich in zwei scharf zu unterscheidende
•Gruppen sondern, nämlich in Aktive, welche in solchem
Verbände den Mann repräsentieren, und in Passive,
welche der weiblichen Hälfte entsprechen."
„Am positivsten ist das natürlich bei den Pygisten
betont, obgleich es auch solche giebt, welche mit der
aktiven und passiven Rolle gegenseitig wechseln. Aber
auch bei den blossen Mutuellen (den gegenseitigen
Onanisten), die ja im Vergleich zu den Pygisten in über-
grosser Mehrzahl sind, besteht dieser Unterschied sehr
deutlich. Nie sieht man ein Verhältnis zwischen zwei
Oleichalten. Stets ist der eine, meist der Passive, jünger,
und wenn bloss um ein Jahr; und eben der Passive, der
auch bei blosser Onanie sich weibisch Hingebende, ist, wie
schon früher geschildert worden, der Effeminierte, von
weibischem Charakter, anlockend und sich sofort ergebend,
aber nie der keck Angreifende; während der Aktive, der
Aeltere, sowohl um Homosexuale als um Normalsexuale
wirbt, sich an sie herandrängt. Diese Aktiven der
Mutualität sind in der grössten Mehrzahl von 16 — 50
Jahren; doch auch später lassen sie, oder richtiger lässt
■der Trieb sie nicht los, und sie sind Verführer bis ins
hohe Alter hinein, auch wenn sie selber gar nicht mehr
fähig sind, wo sie dann um so mehr die jugendlichen
lebenswarmen Körper lieben und mit ihnen gerne spielen.
Jedoch einen alten aktiven Pygisten, bleibt er auch potent,
giebt es nicht, denn zu solchem Akte gehört vollste
Jugendkraft; sie werden also zuletzt aktive Mut uelle, frei-
lich auch hierbei mehr an die Rückseite sich haltend."
„Hier muss ich wiederholen und noch besonders
betonen — weil das bei den aktiven Pygisten als Haupt-
rätsel ausführlicher besprochen werden wird — , dass
sich wenigstens in unserem Klima auch die aktiven
Mutuellen nie an Kindern vergreifen, nie an Knaben,
welche noch nicht gehöriger Ejakulationen fähig sind.
Schon der grosse Praktiker, der Geheime Polizeirat Dr.
Stieb er, erwähnt dies ausdrücklich und ziemlich be-
stimmt von Berlin, dass man dort nur Burschen oder
Jünglinge, besonders Soldaten, von 15 — 25 Jahren als
Passive sucht; und auch Medizinalrat Dr. Casper macht
diese Bemerkung, gleichfalls etwas verblüfft darüber.
Die Lösung dieser Frage ist eine höchst einfache, in der
Natur der Sache liegend, von der aber freilich unsere
Gerichtsärzte noch nichts träumen. Der homosexuale
Trieb wird ja eben dadurch charakterisiert, dass
er ausschliesslich auf das jugendlich Männliche ausgeht,
dessen Duft ihm allein sympathisch ist und ihn in Erek-
tionen versetzen kann — genau so, wie die Tribade
(s. d.) nur auf das schon ausgesprochen Weibliche los-
geht. Dem männlichen Homosexualen beider Genres ist
ja das Weibliche so entschieden antipathisch (wie der
Tribade das Männliche), und dem Homosexualen muss
ein unreifer Knabe als doppelt noch weibisch, übelriechend,
unmännlich reizlos erscheinen. Es ist um so unbegreif-
licher, dass man bisher dies so deutliche Naturgesetz so
sehr raissverstand und gar nicht daran dachte, dass ja
der männliche wie der weibliche Homosexuale an seinen
Trieb gebunden und keiner Freiheit des Willens hierin
fähig ist. Der Homosexuale, auch wenn er den festen
Willen hat, ein Weib zu begatten, bringts gar nicht zur
rechten Erektion, um selber einen Genuss dabei zu haben
— wie mir mehrere Homosexuale sehr im Detail ver-
sicherten, die sich durch Verhältnisse verlocken Hessen,
/Ai heiraten, stets Schande erlebten und stets in wenigen
Wochen oder Monaten sich zur Scheidung gezwungen
-:ihen, wie es ja auch jedem Monosexualen ergeht, der
ein Ehebett besteigt. Und wie erst sollen sie sich an
unreifen Knaben vergreifen, die gar keinerlei Reiz ihren
Gelüsten bieten, wie denn auch die Tribade gar oft von
— 95 —
einem Manne, besonders ist sie Ehefrau, bezwungen wircL
und es erdulden inuss, aber weder Genuss dabei empfindet,
noch sich es je ein zweites Mal wünscht. "
„Es ist also grobe Ignoranz, wenn ein Unter-
suchungsrichter bei Schändung oder Verstümmelung eines
unreifen Kindes nach Jemand greift, der oder gar weil
er im Rufe eines Homosexualen steht, und es ist von einem,
Gerichtsarzt Gewissenlosigkeit, wenn er, ohne Proben,
darüber anzustellen, welcherlei Personen erektiv auf ihn
wirken, ein Urteil giebt. Im Gegenteil, nur der Nor-
malsexuale, dem in Vollkraft seines Triebes freigestellt
ist, welchen Akt er verüben will: Onanie, gegenseitige
Onanie, beide Formen des Pygismus, wie die Entjungferung*
und alle Sorten, das Weib zu gemessen — der nicht wie
der Monosexuale und der Homosexuale an ein bestimmtes
Gelüste gebunden ist, er vermag auch jede Art von.
Kinderschändung zu verüben, ja sogar Sodomie mit Tieren-
und Schändung von Leichen, er ist bestialisch genug, denn
er hat ja die ungebundene Kraft dazu. Und was be-
sonders zu erwähnen ist, nur der Normalsexuale ist
manchmal brutal genug, sein Opfer als Steigerung der
Wollust auch noch grausam zu quälen, ja nach Blut zu
lechzen — was ja auch bei manchen Tieren während der-
Begattung eintritt. Man frage nur öffentlich Dirnen, was^
sie von den „Blutern", d. h. den allerdings selten vor-
kommenden Liebhabern halten, welche während des Akts r
im Momente der Brunst, die Geliebte blutig beissen, sie
verwunden — ja auch Weiber thun das bei leidenschaft-
licher Umarmung. Und dass solche Brunst in gewissen
Fällen sogar zu Morden führt, hat doch die grässliche
Geschichte des Herzogs von Praslin-Choiseul in
Paris 1864 bewiesen, der seine junge Gattin, die Tochter
des General Sebastiani, während des Coitus erdrosselte.
— Die Geschichte und die Literatur bewahrten uns die
Erinnerung an die sexualen Greuelthaten zweier Unge-
— 96 -
heuer. Der eine war der Marschall de Retz im 17. Jahrh.,
der andere jener berüchtigte Autor der so bodenlos un-
züchtigen und vielbändigen Romane, der Marquis de Säde
(Urenkel von Petrarka's Laura!), beide in Frankreich.
Ueber letzteren, der erst 1824 starb, nachdem ihn Napo-
leon I. für lebenslänglich nach Bicetre unter die Narren
hatte sperren lassen, schrieb Jules Janin ein besonderes
•und charakteristisches Buch. Waren diese beiden etwa
Homosexuale, obgleich sie auch genug der Männer, Jüng-
lmge, Knaben, ja Kinder grausamst missbrauchten? Nein,
es waren entschieden und .vehr potente Normalsexuale,
denn sie gebrauchten hunderte und hunderte von jungen
Mädchen, Frauen, ia alten Weibern, die sie während des
Coitus oder darnach, niederstachen, niederschossen, schwer
verwundeten, dann ihre Leichen mit denen der noch
scheusslicher ermordeten Knaben und Kinder in Sümpfe
-warfen, oder sie in Kellern vergruben."
„Also was soll das Geschwätz, gegenüber wissen-
schaftlicher Forschung unserer Zeit, dass gewisse Arten
von Schafen gefährlicher seien als Stiere in Brunst!"
„Also Passive sind überall bereits Geschlechts-
reife, nur mit dem Unterschiede, dass im Orient, im
Süden, wie bei uns unter den Zigeunern, ja vielfach auch
unter den Dorf juden, der Knabe schon mit 10 — 12 Jahreu
geschlechtsreif ist, ja sogar heiratet; in unserem Norden
aber der Bursche oder Jüngling indogermanischer Rasse
erst mit dem 15.— 18. Jahr sich sexual fühlt, zur
Verführung lockt und ihr leicht zugänglich ist Die
meisten Passiven stehen bei uns in dem Alter des Studenten,
des Soldaten, des Ladendieners, des Kellners etc. Erst
vor einigen Monaten wurde in Berlin eine ganze Gesell-
schaft Mutualer freigesprochen, weil von ihren Anklägern
keiner unter 18 Jahren war, also jeder Bewusstsein genug
hatte, um zu wissen, zu was er sich preisgab. Die Be-
zeichnung »Knabenliebe * ist also in jeder Konsequenz
— 97 —
falsch, war sogar, anthropologisch gesprochen, bei den
"Griechen nicht, ist bei den Orientalen etc. nicht vor-
handen, denn in jenen Kliinaten sind Knaben schon so
früh nicht mehr Knaben in unserem Sinne, sondern schon
Burschen, Jünglinge — der junge Grieche zog schon mit
in die Schlacht, wie Pin dar es verherrlicht. Für uns
Naturforscher ist es das Allerwichtigste, zu wissen, dass
auch in der Homosexualität erst der Geschlechtsreife —
und trete diese Periode noch so früh ein — sexual reizt,
wie ja auch in der Normalsexualität der Backfisch selbst
den geilsten Mann kalt lässt. Dass aber trotzdem — wie
Hausner sagt — jetzt so gesteigert Kinderschändung
beider Geschlechter vorkommt, lässt sich nur durch die
Verwilderung und immer mehr zunehmende Zügellosigkeit
gewisser Normalsexualer erklären, die vielfach, tierisch
berauscht, oder, wenn nüchtern, so hellerlos und ver-
lumpt, dass sie Erwachsenen keinen Antrag machen können^
aber krankhaft geil, und nur Befriedigung ihrer eigenen
Geilheit suchend, nicht Gegenliebe, sich an wehrlosen
Kindern vergreifen — oft sogar selber geschlechtskrank,
also gewiss Normalsexuale! — aber ebenso gleichgiltig,
aus Mangel an Besserem, sogar mit Tieren vorlieb
nehmen. — Also unsere Handbücher der gerichtlichen
Medizin bedürfen in dem Stück einer gründlichen Um-
arbeitung. "
Ich unterbreche nun die Auslassungen meines Korre-
spondenten durch eigene Bemerkungen.
Eine weitere naturwissenschaftlich höchst interessante
Scheidung der Homosexualen ist die in Mu tu eile, welche
•die überwiegende Mehrzahl bilden, und in Pygisten,
die aber allerdings höchstens 2 — 3 Prozent der Gesamt-
heit repräsentieren. Die Auf klärung über diesen Unter-
schied liegt in dem, was ich über den Regionalduft
<les Körpers gesagt habe. Es duften nie alle Duftprovinzen
«des Leibes gleich; und eine idiosynkrasische Regel, von
Jahrbuch II. 7
— 98 —
der es nur verhältnismässig wenig Ausnahmen giebt,
lautet:
„Einem Partner duften nicht alle Duft-
provinzen eines und desselben Leibes idiosyn-
krasisch gleich; er bevorzugt stets eine bestimmte
Provinz; ich nenne sie: die positive Duftprovinz
oder die Sympathieprovinz, und dieser steht stets
eine negative oder ant i pathische oder Ekelprovinz
gegenüber. Dieses Gesetz fand ich bei allen Personen,
die ich untersuchen, resp. befragen konnte, bestätigt.
Die Variationen sind hier zahlreich. Entweder ist nur
eine einzige Duftprovinz sympathisch, alle anderen sind
unsympathisch, oder es sind mehrere sympathisch, dann
aber stets die eine ganz besonders. Sind aber alle sym-
pathisch — und dieser Fall ist ganz besonders vor-
handen bei Sympathie zwischen Mutter und Säugling,
bei der es keinen Punkt am Körper des Säuglings giebt,
den die Mutter nicht in Sympathie leidenschaftlich
abküsste — so ist doch stets einer am wenigsten sym-
pathisch. — Im Verhältnis zwischen Erwachsenen ist es
aber meist so, dass den sympathischen Provinzen einige
unsympathische Provinzen gegenüberstehen, unter denen
dann die eine geradezu Ekel- oder Greuelprovinz
ist. In der Begel ist diese Greuelprovinz der After,
aber durchaus nicht immer. Selbst im Verkehr
zwischen zweierlei Geschlechtern stösst man bei genauer
Prüfung auf das Gegenteil; es giebt sogar Rassen und
Völker, bei denen die „St eissliebe" ganz besonders häufig
zu sein scheint. Mein Korrespondent sagt: „Bei der
jüdischen, griechischen, italienischen und teilweise der
französischen Nation zählt — und nicht blos bei Freuden-
mädchen, auch in der Ehe und bei Liebschaften neben
dem Schoosskuss auch der Steisskuss (siehe Martial und
das vortreffliche Werk des Dr. Rosenbaum) zu den
— 99 —
Raffinements beim natürlichen Coitus. Ja, es giebt bei
der Normalsexualität direkt ein Raffinement durch
i Exkrementenduft«, und ganz Wien erzählt sich noch
heute nach 50 Jahren von einem altberühmten baronisierten
weiland Bankier, von dem die Dirnen, welche er ge-
brauchte, aussagten, sie hätten ihm ihre Notdurft unteres
Kinn auf die Brust verrichten müssen, da erst dieser Duft
ihn erektierte. Dr. F. A. Forberg erzählt übrigens in
seinem Hermaphrodit us des Pannormilanus genug
solcher Geschichten auch von den römischen Cäsaren bis
in seine Zeit; und noch weitaus mehr der ekelhafte Mar-
quis de 8 ade in seiner »Justine«."
Nun, dieser Gegensatz kommt auch bei den Homo-
sexualen scharf zum Apsdrucke in der Scheidung
zwischen Mutuellen und Pygisten. Dem Mutuellen,
der die übergrosse Mehrzahl ausmacht, duftet nur die
Vorderseite seines Geliebten und dessen Genitalien
angenehm — „bouillonartig", — wie sich so viele über-
einstimmend gegenüber Dr. M. ausdrückten — lange bevor
ich meine Aeusserung über den „B°iiillonduft" beim
lebenden Menschen machte. — Und sie tasten zwar auch
sehr gerne, im plastischen Genüsse, den Hintern ihres
Objekts ab und lassen sich am eigenen Hinterteile aus
gleichen Gründen abtasten, dagegen der After selber
ist den Mutuellen in der Regel überaus ekelhafte Greuel-
pro vinz, wie etwa auch für sie die Zumutung, die
Vulva eines Weibes zu berühren ! Wenn der M utuelle
schon als Kind anderen Knaben oder direkt jungen
Männern ganz ungeniert und naiv nach den Genitalien
greift, so ist das — naturwissenschaftlich gesprochen —
gerade so instinktiv, wie das Kraulen des Liebenden in
den Haaren der Geliebten, wenn der Kopfduft die positive
Sympathie begründet! Der merkwürdigste Teil der Homo-
sexualen sind die Pygisten, und hier ist die Sache
7*
— 100 —
nicht so einfach wie bei den Mutu eilen, die ja nur
gegenseitige Phallizismen treiben. Wir müssen daher die
P y g i s t e n gesondert betrachten, und zwar die Aktiven
für sich und darnach besonders die Passiven; denn der
Unterschied zwischen beiden ist ein sehr grosser. Ich
lasse zunächst Dr. M. das Wort:
„So oft ich einen Aktiven frug — und wie oft ge-
schah das! — behauptete jeder stets dasselbe: Das Weib
rieche übel, d£goutant, schon allein an den Brüsten,
die auch plastisch ekelhaft sind; besonders aber stinke
ihr Schoossduft wie Käse, wie Fussscb weiss. Ueberhaupt
sei die ganze Atmosphäre der Weiber anwidernd, und sie
duften ja an sich auch viel stärker als der Mann, daher
sie soviel Parfüms gebrauchen. Und jener Knabe habe
instinktiv Recht gehabt, der in Frauengesellschaft plötz-
lich ausrief: »Hier riecht's nach Weiberfleisch !t Nun,
wenn ich an meine eigenen hundertfachen Abenteuer mit
— nicht feilen — Mädchen und Frauen zurückdachte, so
musste ich mir gestehen, das9 ich — besonders in der
Kegion der Mittelstände, auf manch ein reizendes Wesen
stiess, das allerdings »verflucht pikante roch — besonders?
wie ja schon von mir eigens betont wurde, gerade solide
weibliche Personen absichtlich an jenen Stellen sich nicht
waschen, um nicht für Dirnen zu gelten. Aber gerade
dieser dubiöse Geruch errektiert ja uns Normale ganz
ungemein, obgleich er Hauptschuld des rasch nachfolgenden
bekannten *Post cöitum* etc. sein mag, welchen sexualen
Katzenjammer ich bei jenen herrlichen Frauen der höheren
Stände nie erlebte, die sich so sorgsam baden und waschen.
Und schon unter uns etwas erwachsenen Jungens gab
man sich gegenseitig eine grüne Pflanze zum Beriechen
herum — deren botanischen Namen ich nie erfuhr —
die aber veritabel wie eine Vulva roch, was uns sehr reizte."
(Chenopodiura vulvaria.) „Wenn ich dann solche Aktive
höhnisch frug, ob etwa der After nicht auch übel rieche,
— 101 —
ja noch viel übler? so bekam ich stets dieselbe Antwort:
»O, das ist was ganz anderes! Der After bei der Jugend
ist meist geradezu verblüffend rein und trocken — nur
der älterer und nicht besonders propre sich haltender
Männer ist vielfach schmierig uud feucht, so übel wie ein
Weiberschooss. Aber ein Junge von 15 — 25 Jahren ist
von Natur aus, und sei's ein Strassenjunge, gerade an
jenen Stellen reiner als eine Jungfrau. Der Junge, der
sich schon selber mit seinen Genitalien zu schaffen
machte und nicht als Phimosist geboren wurde, ist am
Glied ebenso rein und trocken wie am After und wie
wohl nie ein Weib!" — Wenn ich topographisch-ana-
tomisch diese Behauptungen überdachte, so konnte ich
im Punkte der natürlichen Reinlichkeit des Afters nicht
gut widersprechen, denn derselbe ist ja durch seine
Konstruktion und Funktion selbstverständlich reiner als
der weibliche Schooss, wird letzterer nicht ganz besonders
gepflegt. Der After stösst ja mit Muskelkraft alles aus,
was zwischen dem drei Zoll langen Kanal vom sphineter
ani internus bis zum sphineter externus sich ablagert und
schliesst darin so fest, dass keine Gährungfermente in ihn
eindringen, wie dies so leicht beim Schooss des Weibes
stattfindet, dass, um nicht noch stärkere Ausdrücke zu
gebrauchen, die Vagina »verflucht pikant« duftet und,
wie schon gesagt, gerade bei anständigen Frauen, — das
ist auch ein merkwürdiger Beweis, wie der Instinkt alles
auf die Duftstoffe Bezügliche ganz unbewusst herausbringt.
Denn, wie ich Ihnen schon früher schrieb, die Lustdirnen
waschen sich sorgfältig — schon aus Sanitätsrticksicbten
— und eben durch diese Geruchlosigkeit verrät sich
die Dirne im Vergleiche mit dem anständigen weiblichen
Wesen."
So weit Dr. M.
Also die Eine Seite beim aktiven Pygisten ist nicht
etwa — wie doch beim kotliebenden Normalsexualen — ,
— 102 —
-dass ihm der Afterduft — der doch immerhin, wenn auch
sehr gering, vorhanden sein muss — das positiv Sym-
pathische am Passiven wäre; er gesteht blos zu, dass der
After ihm kein Greuel ist, dagegen aber das ganze
Weib.
Gerade deshalb wählt aber auch der Aktive den
After des jungen Mannes und nicht den des Weibes.
Es giebt zahlreiche Weiber — besonders in Serbien — ,
welche ganz besondere Lust daran finden, sich in den
After koitieren zu lassen, und andere, z. B. in Italien,
die es verlangen, um sicher vor Befruchtung zu sein.
Endlich jede Lustdirne lässt, gegen gute Bezahlung, mit
sich machen, was mit ihr vorgenommen wird. Und —
unglaublich, aber wahr — nie war ein solcher Afterakt,
verübt vom Normalsexualen am Weibe — strafbar, nicht
einmal in der Carolina. Wäre es also dem aktiven
Pygisten nur darum zu thun, rein mechanisch in eine
engere Oelfnung zu koitieren, als gewöhnlich die Vagina
ist — nun, er könnte ja bei Weibern spielend leicht dies
Gelüst befriedigen, straflos, mühlos, folgenlos und ohne
Angst und Zittern. Aber ihm ist eben die ganze Atmo-
sphäre des Weibes antipathisch, die des Jungen sym-
pathisch. Schon Martial lässt einen Ehemann, der aber
aktiver Pygist ist, seiner Frau höhnisch antworten, die
Bich selber ihm als Ganymed antrug, um ihn von Knaben
abzuhalten: »Das verstehst du nicht! Weiber haben gar
keinen Anus — blos zwei Vaginen*.
„Der aktive Pygist — im Gegensatze zu allen an-
dern Homosexualen — fühlt sich — gleich dem Normal-
sexualen — als Mann; er ist eine durchaus aktive
Natur. Er ist nie — weder in seinem Aussehen (oft
sogar schon mit Vollbart!) noch in seinen Manieren und
in all seinen Geschmacksrichtungen „weibisch", — was
doch alle andern Homosexualen — auch die aktiven
Mutuellen — sind. Solch ein aktiver Pygist ist in der
— 103 —
Mehrzahl ein — zwischen 20—30 Jahre alter, richtiger
gesagt junger Mensch, so völlig ungeniert, wie jeder
Normalsexuale, Damen gegenüber zwar kühl, aber sehr
weltgewandt, oft auch liebenswürdig ohne Sinnlichkeit,
jungen Leuten gegenüber aber so offenherzig keck heraus-
fordernd, direkt zugreifend, dass sein Opfer eher an über-
sprudelnden Jugendübermut glaubt als an überlegte Ver-
führung und direkt homosexuale Absicht. Hören Sie
nur folgende kurze Schilderung eines wahren Monstrums
von aktivem Pygisten, der in einer Weltstadt vor 14
Monaten starb, volle 55 Jahre alt, aber von jedermann
für einen Dreissiger gehalten, so gesund, natürlich jugend-
lich (nicht gefärbt) sah er aus, und er starb am Auf-
bruch alter Kniewunden, die er sich 1848 als Offizier im
Gefecht geholt hatte, und man begrub ihn, ohne dass er
noch ein graues Haar hatte. Er hiess Valerian Schober.
Früh verwaist, nahm den Knaben Schober ein Pfarrer
(ein aktiver Mutueller) zu sich, der ihn erzog und
verzog, bis der Junge 20 Jahre alt geworden. Er
wurde ein blendend schöner Bursche; zuletzt Erbe
seines Wohlthäters, trat er in bester Gesellschaft auf
und hatte rasch einen Kreis junger Kavaliere und
reicher Bügerssöhne um sich. Bis dahin passiver
Mutueller des Priesters, entwickelte er nun plötzlich seine
Leidenschaft als aktiver Pygist. Alle seine Kameraden
verfielen ihm, und von da ab volle 35 Jahre hindurch
verging keine Woche, in der er nicht ein- bis zweimal
wenigstens sein Gelüste stillte., am liebsten mit jungen
Handwerkern, sowie mit Soldaten, die bei ihm schliefen,
ihn aber andern Tags nie mehr fanden, da er stets sein
Nachtlager wechselte und 6 Wohnungen hatte. Trafen
sie mit ihm später zufällig öffentlich zusammen, so be-
nahm er sich höchst ungeniert, war grossmütig oder kurz
angebunden, oder nahm seinen Liebling wieder für eine
Nacht in ein andres seiner Quartiere mit. Stets trug er
— 10t —
ein Flacou feinstes Oel mit sich, um beim Akte alle Ver-
letzungen zu vermeiden. Schober war stets sehr ge-
schmackvoll, doch vornehm bescheiden gekleidet, blühend
jung, gesund und schön, von unwiderstehlichem Humor,,
in allen besten Gesellschaften, nicht reich, doch unab-
hängig wohlhabend, glücklicher Börsenbesucher, bei dem
man über alle Geschäfte sich Rats erholte, wie so viele
Familienväter ihn über ihre Söhne und Töchter zu Rate
zogen — und waren die Söhne hübsch, so waren sie ihm
rasch verfallen, und ihm dann treu anhänglich. Und so
ahnte denn 35 Jahre niemand etwas von dieses sehr
strammen Mannes geheimer Leidenschaft, im Gegenteil
man hatte ihn als furchtbaren Weiber-Don Juan im Ver-
dacht. Ein paar Mal hatte er Fatalitäten mit Normal-
sexualen — und nur solche suchte er sich aus,
nie passive Pygisten — die darnach mit Anzeige
drohten. Da ergriff er aber gleich selber die Initiative,
lief keck und mutig zur Polizei, beschwerte sich energisch
wegen solcher Zumutung, und man gab ihm lächelnd
Recht, denn sein Aeusseres schon und sein Benehmen
Hess keinerlei Verdacht aufkommen, um so weniger, als
er 1848 tapfer für die Ordnung gekämpft hatte und ver-
wundet worden war, und zuletzt war er ganz sicher, als
er heiratete. Das that er aber freilich nur in Aussicht
auf eine Erbschaft, der zu Liebe er auch wirklich seine
Frau befriedigte. Doch wie er selbst öfter erzählte, er
hielt es nur ein Jahr neben der schönen Frau aus, dann
war ihm alles Weibertum so sehr zum „Ekel* geworden,
dass er sogar die Aussicht auf die Erbschaft aufgab, sich
von seiner Frau trennte und sich um so leidenschaftlicher
dem alten Gelüste ergab. Er starb zuletzt, ohne dass
seine Verwandten oder das Publikum je was ahnten, noch
jetzt ahnen. Und so könnte ich Ihnen noch ein paar
hundert junger Leute herzählen — lieferte Ihnen auch
schon Dutzende solcher Charakteristiken — welche
— 105 —
zwischen ihren 20. — 40. Jahren leidenschaftliche aktive-
Pygisten waren, ohne dass jemals jemand das von ihnen
ahnte. Schober war nur hierin die einzige, phänomenale
Ausnahme, dass seine Potenz wie sein jugendliches Aus-
sehen bis in das ziemlich hohe Alter von 55 Jahren aus-
hielt, und dass er dazwischen faktisch auch des Weibes
fähig war, freilich nur durch grosse Selbstbeherrschung
und unter beständigem Ekel.
Es ist daher nichts lächerlicher, als die so allgemein,
verbreitete Ansicht, Päderasten seien nur alte gebrech-
liche, gegen jeden andern Sinnenkitzel schon abgestumpfte,,
impotente Leute. Man giebt sich gar nicht die Mühe
nachzudenken, denn dann müsste man von selber zu dem
Schluss geraten, welche volle Jugendkraft und Potenz,
zur Verübung solch' eines Akts gehört! Nur Geheirarat
Dr. Stieb er erkannte bisher das klar und riet noch da-
zu der Polizei, bei solchen Fällen lieber ein Auge zuzu-
drücken, oder alle beide, „denn ein Beweis sei äusserst
selten herzustellen und die Thäter meist vornehme junge
Herren, ja oft sehr hohe Persönlichkeiten, und übergrosser-
Eifer führe nur zu Verdriesslichkeiten."
Hieran knüpfe ich (Jaeger) Folgendes: Wenn ich
das mir übersandte Portrait des Schober mit den Portraits-
passiver Pygisten, die mir Dr. M. schickte, vergleiche,
so ist klar: Schober ist in jeder Linie ein Mann, in de&-
Wortes verwegenster Bedeutung, die Passiven haben
weibische weichliche Physiognomien. Solche aktive
Pygisten sind % superviril* , sie sind dem gewöhnlichen
Mann ebenso überlegen, wie dieser dem Weibe „durch
Duftwirkung*, daher die dominierende Stellung Schobers.
Das Weib steht einem solchen etwa so fern, wie uns
Normalsexualen ein Backfisch. Die Supervirilität
Schobers spricht sich auch darin aus, dass er nicht die-
weibischen passiven Homosexualen, sondern gerade Normal-
— 106 -
sexuale auswählte. Ueber den Unterschied des aktiven
Pygisten vom Mutuellen sei noch Folgendes gesagt.
Die aktiven Pygisten sind herrische, leidenschaftliche
Menschen, die auch beim Geschlechtsgenuss ein sich
ihnen völlig unterwerfendes passives Objekt brauchen,
wenn ihr Trieb gestillt werden soll, während die Mutualität
als ein viel zu passiver zahmer Akt sie absolut unbe-
friedigt lässt. Man wird also sagen, das sei somit doch
bewusstes Raffinement, und das Instinktive sei nur die
Abneigung gegen das Weib, während ihr Unterschied vom
Mutuellen andere Gründe haben müsse. Das halte ich
für falsch, und ich will die Erklärung etwas ausführlicher
geben, weil sie ein schlagender Beweis für meine ganze
Seelenlehre ist und stets zum richtigen Verständnis der-
selben beiträgt.
Wie ich bei dem normalsexualen Wollustaffekt aus-
führlich schilderte, funktionieren bei der Begattung
mehrere Organe als Duftquelle, nämlich ausser den
Generationsdrüsen erstens das Begattungsglied, der
Schwellkörper, zweitens die Muskulatur. Von dem
Grad der Zersetzbarkeit des Eiweisses hängt es nun ab,
ob die Duftstoffentbindung leicht oder schwer vor sich
geht JDie aktiven Pygisten sind nun meines Dafür-
haltens Leute mit schwer z ersetzbarem Ei wei ss:
der Schwellkörper braucht eine starke Friktion, bis es
zum Friktionsaffekt kommt, und die Muskeln müssen
stärker angestrengt werden, um den Muskelaffekt zu ent-
binden. Das ist nun bei der Mutualität nicht möglich,
hier sind die Reize zu schwach, und deshalb greift der
aktive Pygist zum After, welcher die höchste Aktivität
verlangt, denn der Wollustaffekt ist eben nicht perfekt,
wenn sich nicht der Schwellkörper- und Muskelaffekt
dazu gesellen. Zu dieser schwereren Zersetzbarkeit des
Eiweisses stimmt das ganze übrige Bild des kräftigen,
kecken, aktiven Pygisten im Gegensatz zu dem weibischen
— 107 —
Mutuellen und passiven Pygisten: der Unterschied zwischen
Mann und Weib ist aber hauptsächlich der, dass das
Eiweiss des ersteren schwerer zersetzbar ist als das des
letzteren. Warum nicht der After des Weibes gewählt
wird, ist klar: das Weib ist ihm antipathisch, ekelhaft.
Ueber die passiven Pygisten schreibt mir mein
Korrespondent:
. „In der That, es ist geradezu verblüffend, wenn man
bedenkt, dass sich jemand, und wenn für noch so viel
•Geld und schöne Worte, freiwillig dazu hergiebt, einen
Akt an sich vollziehen zu lassen, der nach gemeinem
Menschenverstand entsetzlich schmerzen muss, dem Er-
clulder selbst keine Wollust zu gewähren scheint, im
Gegenteil von den übelsten Folgen bedroht ist. Aber
noch verblüffender ist es, wenn man weiss, dass es zahl-
reiche schöne, junge Männer giebt, Männer, welchen die
halbe Frauenwelt zu Gebot stünde und die doch sich
nicht etwa blos freiwillig gebrauchen lassen, sondern
geradezu dafür noch bezahlen und die Sache Jahre lang,
selbst weit ins reife Alter hinein treiben."
„Nachdem ich mich endlich durch die ausführlichste
Beobachtung und Befragung vollständig überzeugt hatte,
dass die Schmerzhaftigkeit des Aktes nicht blos nicht
existiere, sondern im Gegenteil beim Passiven wegen der
Reizung der am Mastdarm anliegcuden Samenbläschen
ein höchst intensiver Wollustaffekt, sogar mit mehr-
maliger Ejakulation erfolge, verfiel ich in die entgegen-
gesetzte Vermutung, ich dachte: die äusserst angenehme
Erfahrung einer erstmaligen Erduldung des Aktes werde
zur bewussten Ursache einer jetzt unwiderstehlichen
Leidenschaft. Allein auch davon musste ich zurück-
kommen, als ich passive Pygisten kennen lernte, von
<lenen es undenkbar war, dass sich jemand erstmals an
sie gewagt und sie verführt hatte."
,Dass es sich um etwas Instinktives handeln müsse,
— 108 —
war mir also klar, und ich sah jetzt immer mehr: der
Passive ist ein Weib, ist „effeminiert*; er ist Weib in
Gaug, Gesten, Tracht. Neigungen, sogar in der Stimm-
lage, treibt das Weibische so weit, dass er sich schminkt,
und jetzt war nuYs klar: der Blick des Wissenden er-
kannte sie auf den ersten Sitz, auch die Polizei kennt sie
meistens, aber das grosse Publikum ahnt nichts davon,
belustigt sich an ihrer WeibiscKkeit, bewundert etwa ihre
Frauenarbeit, was sogar ihre Eltern thun, die Geschick-
lichkeit ihres Sohnes preisend, und merkwürdig, es ist
ein Stand, der sie ganz vorzugsweise in sich schliesst:
Friseure und Barbiere, und zwar so sehr, dass ich
die passiven Pygisten bald nur stereotyp Ä Bar bier-
gesellen" nannte. Dieses Gewerbe ist wie geschaffen
für passive Pygisten, diese Weiber in Mannesgestalt, es
ist eine weibische Beschäftigung und biingt sie zu der ihnen
sympathischen Männerwelt in angenehme Beziehungen. 11
„Man denke aber ja nicht, dass jeder Friseur oder
Barbier sich von Homosexualen an den Leib kommen
lässt und effeminiert ist. Im Gegenteile, die meisten sind
entschiedene Weiberliebhaber. Und dann gehört ja ein
gewisser Grad von Schönheit dazu, um überhaupt ver-
führt zu werden. Hässliche Gesellen fallen also ganz
ausserhalb dieser Behauptung. Aber dieser Leute höchst
intime Beschäftigung mit dem männlichen Körper macht
es doch selbst begreiflich, dass Homosexuale leichtes
Spiel mit hübschen jungen Gesellen haben, die sie zu
sich kommen und von denen sie sich alles Mögliche am
Körper verrichten lassen. Aber die meiste Konkurrenz
hierin machen die Kellner, besonders in den Gasthöfen;
selbstverständlich wieder nur die jungen und hübschen.
Sie bedienen auf den Stuben und — sind Trinkgeldern
zugänglich. Ich glaube, man könnte ganz Europa durch-
reisen und sicher sein, in jedem der tausende von Hotel»
wenigstens auf 1—2 „Willige - zu stossen, ist es auch zu-
— 109 —
meist ein Normalsexualer, der aber für Geld gern »Mäd-
chen für alles« ist. Jedoch auch die geborenen Homo-
sexualen sind zahlreich, die, wenn sie älter werden, sich
durch ganz besonders affektierte Manieren und weibische
Allüren dem Eingeweihten kenntlich machen, während
solch einen Burschen der Uneingeweihte für einen »sehr
höflichen Mann« hält, da sie meist auch sehr gewandte
Kellner sind. Dann kommt die lange Reihe der Soldaten,
besonders Kadetten, Schneider, Schuster, Tischler —
bei denen allen man leicht etwas bestellen und sich's
auf die Stube bringen lassen kann."
„Doch zurück zur Weibesnatur des passiven Py-
gisten!*
„Schon Aristophanes im Symposion des Plato
stellte bekanntlich die Hypothese von der „Verwechsiung
der Seelen" bei der Erzeugung auf, und so komme es,
dass oft eine Männerseele den Leib eines Weibes be-
herrsche, noch mehr aber komme es vor, dass eine
Weiberseele in einen männlichen Körper eingeschlossen
werde, und das seien dann die „Moles", die leidenschaft-
lichen Lustknaben und überhaupt die passiven Pygisten.*
„Die Philologen haben selbstverständlich diese ganze
Stelle für einen ironischen Witz eines fingierten Aristophanes
erklärt, denn der wirkliche könne gar nicht beim Sym-
posion gewesen sein.*
„Aber die Rabbiner der ersten christlichen Jahr-
hunderte stellten dieselben Lehre auf und suchten sie sehr
im Detail zu beweisen, das „anima muliebris in corpo-
re virili.*
„Auf alles das erwiderten dann deutsche Philo-
sophen, man möge zuerst die Existenz einer Seele
beweisen, dann wolle man die Verwechselungsmöglichkeit
glauben. Nun, sie haben mit ihrer Entdeckung diese
Forderung erfüllt, und so denke ich, wird Aristophanes
Recht behalten."
— 110 —
Ich gebe nun aus der reichen Auswahl von Charak-
teristiken bestimmter Personen, die mir mein Korrespon-
dent übermittelte, zwei Fälle, von denen uns der erste
noch eine ganz eigentümliche, übrigens, wie wir sehen
werden, auch bei Normalsexualen vorkommende Variation,,
die Senilophilie, vorführt.
1. Giovanni Campi, von italienischer Abkunft,.
Marchand de Mode in einer deutscheu Grossstadt, der so
seinen Geschmack beim Einkauf entwickelte, dass er schon
mit 20 Jahren wohlhabend war. Er war nicht üj>er
Mittelgrösse, fein und aristokratisch gebaut, jugendlich
schön von Gesicht, doch schon nervös, bartlos, am ganzen
Leibe schön und rein, aber mädchenhaft, selbst jedoch
in nichts affektiert, leidenschaftlicher aktiver Pygist,
aber nie mit Jüngeren, sondern stets mit
Aelteren, als er selbst war! Ich konnte ihn recht
gut leiden, aber wie oft musste ich lachen, wenn er sogar
vor mir kniete, flehend, ihn zu erhören, und er schliess-
lich wütend über meine Weigerung von dannen lief, um
wochenlang mit mir zu schmollen. Vergeblich entblösste
ich vor ihm die hübschesten Mädchen. Nur allein mit
mir, der ich ihn doch nie erhörte,, war er glücklich oft
stundenlang, mir, der ich damals schon Dreissiger war,,
zärtlichst die Hände küssend, und solch ein Trieb sollte
kein angeborener sein?
2. Heinrich Kittmann, damals 22 Jahre, mittel-
gross, schlank, nicht schön, blos hübsch, bartlos, ungemein
freundlich mit jedermann und bescheiden, daher bei allen
wohlgelitten; ein aussergewöhnlich fleissiger, pünktlicher,
stets Ordnung haltender Beamter, der sehr getreu seine
etwa 50jährige Mutter versorgte, welch letztere nicht da»
geringste von seinen geheimen Trieben ahnte. Jedoch
so harmlos und züchtig aller Welt Gunst erwerbend H.
im öffentlichen Leben war, um so leidenschaftlicher, geiler
und unzuchtmässiger — doch stets humoristisch — war
— 111 -
er im Kreise Vertrauter. Er gesellte nach und nach ein-
Dutzend alter wie junger „ Vernünftiger" um sich, wusste
alles, was homosexuell in der ganzen grossen Stadt vorging, .
kannte zu Tausenden jede Person gleichen Triebes bis
hinauf in die höchsten Gesellschaftsschichten und bis
hinab zum Strassen] ungen. Er selbst, sagte er mir stets,
gebe sich jedem passiv hin, der ihn pygistisch oder mutual
benutzen wolle, auch diene er gern aktiv, immerhin doch
lieber passiv, »denn er sei Weib«. Und in der That war
seine Stimmlage eine höhere, fast wie die eines Mädchens,
am Körper dagegen war er keinenfalls auffallend weibisch.
Damals ahnte ich noch nichts von Ihrer Geruchs theorie,
jedoch ich erinnere mich noch ganz genau, dass ich später
nie wieder so geruchlos angenehm riechende
Körper gefunden habe, als von diesem und dem vorigen.
H. war passiv gesucht bis in die höchsten Kreise. Ich
staunte ihn oft eine Weile an, was das für ein gutmütiger,,
lieber Kerl sei, der wie ein Spiessbürger harmlos aussah
und doch so fieberisch geil war. Von Krankheitssymp-
tomen bemerkte ich nie etwas /nehr an ihm, als dass ihn
zeitweise ein Magenkrampf überfiel. Plötzlich wandelte ihn
eine förmliche Satyriasis an, er gab sein gutes Amt, in
dem man ihn so sehr achtete, auf und ging — als Frater
in ein Mönchskloster, nicht aus Religiosität, sondern —
um Liebhaber zu finden. Und er fand sie auch fast
während 8 / 4 Jahren. Jedoch der Skandal wurde ruchbar
— man jagte ihn davon. Von da an erfuhr ich nichts
mehr von ihm, nur vor ein paar Jahren, dass er ca. 40
Jahre alt an Lungenschwindsucht gestorben sei. — Ist
das nicht ein psychologisch wie physiologisch höchst merk-
würdiger Charakter und war bei dem die Homosexualität
nicht direkt angeboren? Er gestand mir, nie ein Weib
berührt zu haben, er „liebe nur ältere, ja ganz alte Leute 1 .
So oft ich ihm zuredete, es doch einmal mit einem
Mädchen zu versuchen, er ging nie darauf ein, erklärte
— 112 —
sie für reizlos für seinen Trieb. Gesellschaftlich war er
aber um so lieber in dieser Weibergesellschaft, gab allen
Atout vor in Schwatzen und Witzemachen, verstand
sich auf Stricken, Sticken, alle Weibermoden. Die Weiber
.nannten ihn stets »einen lieben Menschen <, aber keine
wurde von ihm sexual angezogen, sie betrachteten ihn
»als Ihresgleichen«. Jetzt bitte ich, mir dies sonderbare
Rätsel zu lösen!"
„Eines steht fest; alle diese Abnormitäten des Ge-
schlechtstriebes werden, positiv oder negativ, durch den
•Geruch beherrscht, angezogen oder abgestossen. Diese
Thatsache weist allein schon auf das Instinktive hin.
Hierzu kommt noch die Intensität des Triebes. Wir
wissen, es gab Fürsten, reiche Leute, Denker, Dichter,
Künstler, mit gewiss logischer Zurechnungsfähigkeit,
Kenntnis des Guten und Bösen, des Gesunden oder Schäd-
lichen, und ihrer Viele sonst ganz ehrenhafte Charaktere,
gute Bürger, moralische und humane Menschen, ja
Einzelne sogar der Stolz ihrer Zeit und der Menschheit,
und alle diese sind Sklaven ihres Triebes, als beherrschte
sie ein Dämon. Die Hohen, die Reichen, die Jungen,
die Klugen könnten sich ja ganze Harems von Weibern
halten oder sich glücklichst verehelichen, während sie bei
ihren Trieben in der Selbstbefleckung nur Austrocknung
von Leib und Seele, Zehrkrankheiten, Erblosigkeit, die
Homosexualen noch Spott, Schande, Verachtung, ja Ehr-
verlust, Verlust des Broterwerbes, sogar brutalste Strafen
erwarten. Trotzdem lassen sie nicht von ihren Trieben,
können eben nicht lassen, so wenig als der Normalsexuale
von seinem. Und das soll kein Instinkt sein? Alle
diese Triebe sollten nur bewusst beabsichtigte, erst an-
gewöhnte Laster sein, blosse verirrte Frivolität, Ueber-
mut Geiler? Das ist ja Unsinn, Beleidigung des gesunden
Menschenverstandes ! M
Vollständig richtig gesagt: das ist einer der ekla-
tan testen Falle, welch mächtige Rolle die bisher von aller
Forschung übersehene „Riechseele" im Körper spielt,
wobei der Geist, der Seele gegenüber, machtlos ist,
höchstens quantitativ einschränkend, Unersättlichkeit hin-
dernd, niemals qualitativ umändernd einwirken
kann. Dies ist ein Beispiel, welch würdiges, merkwürdiges
Objekt diese „Seele* für die Naturforschung ist, und
jeder Gelehrte, dem es nicht blos um Kultivierung seines
Steckenpferdes zu thun ist, sollte mit Energie darauf
dringen, dass die Wissenschaft endlich diesem mächtigsten
Faktor des menschlichen und tierischen Leibes die ge-
bührende Beachtung schenkt.
Nun noch einiges über die weiblichen Horaosexualcn
die sogenannten Tribaden (von gr. tribo = reiben). Ich
gebe hierüber Herrn Dr. M. das Wort: •
„Ueber die Tribaden giebt es eine ziemliche Literatur,
die ich Ihnen unten zusammengestellt habe: die eigent-
lichen „viragines" mit tiefer Stirne, vierschrötigem Knochen-
hau, Bartanflug bis starkem Bart, auch meist starker
Pubcs, sind keine Tribaden, sondern im Gegenteil sehr
männersüchtig, was ich bestimmt weiss. Was sind, was
thun also Tribaden? Da Männer ihnen Gräuel sind, so
habe ich nur sehr wenig Selbsterfahrung darüber, doch
ganz fehlen auch sie mir nicht, da ich nichts unversucht
Hess, um hinter alle Sexualitätsverhältnisse zu kommen. 0
„Schon in frühester Gricchen«eit kam diese Leiden-
schaft vor und hatte ihre besondere Göttin. Ihre Dich-
terin war Sappho, weshalb man diese Form auch die
„sapphische*, oder, weil sie auf der Insel Lesbos besonders
häufig gewesen sei, die „lesbische 44 Liebe nannte. Es
werden auch einige neuere historische Persönlichkeiten
dieses Triebs beschuldigt, mit wie viel Recht, weiss ich
nicht. 11
Den vorstehenden Ausführungen meines Korrespon-
denten möchte ich noch einiges Thatsächliche aus eigener
Jahrbuch II. 8
— 114 —
Erkundung und Beobachtung zufügen, zunächst über die
Tribadie:
Da an dieser Sache, wie Dr. M. richtig sagt, die
Männer nicht beteiligt sind, ist es für einen Mann schwer,
etwas zu erfahren. Am besten gelingt es noch in Theater-
und ähnlichen Kreisen, und da erfährt man denn genug
von Personen, die bei der Tribadie den aktiven Teil
spielen, also den „ Superfemininen*, umsomehr, da sie gleich
ihren Kollegen auf dem männlichen Gebiet, den v Super-
virilen", immer eine hervorragende, beherrschende
Rolle spielen, eben kraft ihrer seelischen Natur; sie sind
geborene „Heroinen*. Das Bemerkenswerteste und für
die Deutung Wichtigste ist, dass diese Ä Superfemininen"
nicht von Männern umworben werden, sondern von
weiblichen Personen; namentlich die weibliche
Jugend schwärmt für sie, überschüttet sie mit Liebes-
briefen, und zwar sicher, ohne dass die meisten auch nur
eine Ahnung von dem haben, was sie so anzieht, und in
aller Unschuld. Es ist also nicht „Wissen", nichts, was
mit „Erfahrung", also mit irgend etwas Geistigem zu-
sammenhängt, sondern lediglich — Du ft Wirkung! Ich
weiss von einem Fall, wo eine solche öffentlich auftretende
„Artistin" in einer grösseren Stadt die Frauenwelt der-
gestalt aufregte, dass alles davon sprach, aber fast nie-
mand auch nur die entfernteste Ahnung von dem „ warum"
hatte.
Eine weitere Erkenntnisquelle wurden für mich
meine öffentlichen- sogenannten „Weinproben**) mit
Anthropin (wie ich den spezifischen Riechstoff des
Menschen, den Riechstoff, der den Hund befähigt, seines
Herrn Spur überall zu folgen, nannte). Allerdings war
proben hielt ich in etwa 70 Städten Deutsch-
lind der Schweiz, wobei Überall die Stadt-
mecker erschienen. G. J.
- 115 —
auch diese spärlich, da hierbei meist nur Männer er-
schienen, aber diese zeigten doch den Weg, und zwar so:
Für die Normalsexualen wird ein Wein immer ent-
schieden angenehmer, milder, blumiger, wenn man ihm
eine (homöopathisch kleine) Gabe weiblichen Anthropins
(gleicher Komplexion oder Rasse) beifügt Ich stiess
aber dabei immer auf einzelne Männer, bei denen das
Gegenteil stattfand, Manner, für die der weiblich huma-
nisierte Wein widerwärtig, abstossend bis ekelhaft war.
Die Erkundigung ergab immer, dass es „Junggesellen"
oder geradezu stadtbekannte „Weiberfeinde* waren.
Bei ihnen machte ich keine Gegenprobe mit männlichem
Anthropin — aus begreiflichen Gründen, aber ich be-
nützte die selteneren Fälle, wo Damen zur Stelle waren.
Bei ihnen nahm ich natürlich zur Veränderung des Wein-
geschmacks männliches Anthropin. Während dies nun
bei den meisten Damen ebenso geschmacksverbessernd
wirkte, wie bei den Herren das weibliche, stiess ich
einigemal auf eine Dame, bei der das Gegenteil der Fall
war, also auf eine „Männerfeindin". Da machte ich dann
die Gegenprobe: ich gab ihr, natürlich ohne es zu ver-
raten, weibliches Anthropin in den Wein und jedesmal
mit ausgesprochenem Erfolg: „Ja, das ist entschieden besser
geworden!" In einem Fall konnte ich nachher im engeren
Kreise auch Näheres erfahren: die betreffende „alte
Jungfer" lebte mit einer jüngeren „Nichte" zusammen.
Die Welt findet an diesem tausendfach vorkommenden
Fall gar nichts, weil sie nichts erfährt.
Es erhebt sich hier unwillkürlich die schwer wiegende
Frage: „Sind alle „Weiberfeinde" unter den Männern
und alle „Männerfeinde* unter den Weibern Homo-
sexuale?* Gewiss nicht! Einmal sind unter ihnen die
Monosexualen, die man auch „Menschenfeinde*
heissen kann, weil sie weder Mann noch Weib zu lieben
vermögen. Sicher stellen auch diejenigen ein grosses
8*
Kontingent, die dem andern Geschlecht aus Gründen ab-
geneigt sind, die mit dem Instinktleben nichts zu thun
haben, aber unter dem, was man als „Männerfeindin 11
unter den Weibern und „Weiberfeind" unter den Männern
bezeichnet, stecken die Homosexualen.
„Alle?" Auch wieder nicht! Worauf schon Dr. M.
hinwies, mischen sich die passiven männlichen Homo-
sexualen häufig mit Vorliebe in 'Weibergesellschaft, ja
lieben weibische Beschäftigungen und werden von den
Weibern als ihresgleichen betrachtet Das scheint da-
gegen zu sprechen, dass Liebe zum gleichen Ge-
schlecht notwendig verbunden sei mit „Feindschaft"
gegen das andere, und scheint weiter dagegen zu sprechen,
dass es in allen Fällen auf den Person alduft ankommt
Hierüber ist zweierlei zu sagen:
1. Ein Grundgesetz der Duftstoffwirkung ist: In
zu grosser Konzentration wirken alle Düfte abstossend
und umgekehrt giebt es keinen abstossenden Geruch, der
nicht in genügender Verdünnung das Abstossende ver-
lieren, ja entgegengesetzt wirken würde.
2) Ein Grundgesetz der sexualen Duftentwick-
lung ist, dass alle Geschöpfe im Zustand der Brünstig-
keit auffallend stärker duften als sonst
Ein männlicher Homosexualer, besonders ein Passiver,
kann also ganz gut mit Weibern gesellschaftlich verkehren,
der weibliche Duft hat in diesem Falle nichts Aufdring-
liches; dies tritt aber sofort ein bei so grosser Annähe-
rung, wie es der geschlechtliche Umgang erfordert und
vollends, wenn der Partner in Brunst gerät
Die Besprechung der Homosexualität in meinem
Werk „Entdeckung der Seele" (Bd. L Kap. 22), war
Anlass, dass sich einige Homosexuale teils schriftlich,
teils mündlich an mich wandten. Alle bestätigten mir
übereinstimmend, dass sie der Ausdünstungsgeruch weib-
licher Personen anwidere, während sie an männlichen
— 117 —
entweder gar nichts von Geruch (bcne olct f quod non olet
oder entschiedenen Wohlgeruch wahrnehmen. Einer davon
versicherte mir, es gäbe für ihn — er war schon ein
alter Mann — nichts herrlicheres als den Geruch einer
vom Exerzieren heimkehrenden Soldatentruppe.
Ueber den Ausdünstungsgeruch Homosexualer
kann ich nur das mitteilen: Mir, einem Normalsexualen,
riechen alle reifen männlichen Normalsexualen scharf,
brenzlich, säuerlich und nicht angenehm, weshalb ich mir
Personen, die einem dicht ins Gesicht sprechen, vom Leib
zu halten suche. Dieser eigentümliche männliche Geruch
fehlte den paar Homosexualen, die oder deren eingesen-
detes Haar ich zu beriechen in der Lage war; ich kann
ihren Geruch nur als fade bezeichnen, doch bin ich tiber-
zeugt, dase das bei einem „Supervirilen" anders ausfallen
würde. So ist ja bekannt, dass der ausgesprochene
Supervirile Alexander der Grosse für die Männer
wie Veilchen duftete.
Zum Schluss noch eine Bemerkung aus dem Tier-
reich. Bei männlichen Hunden trifft man sehr
häufig homosexuale Akte. Das ist ja grossen Teils
die Folge davon, dass es ihnen ausserordentlich an Weib-
chen mangelt, allein eine eigene Rolle spielen hierbei die
Kastraten. Ich hatte selbst Jahre lang einen solchen.
Dieser wurde von allen Hunden als Femininum behandelt,
und umgedreht behandelte er sie auch als Femininum:
er hatte seine Freunde, von denen er es sich gefallen
liess, stand ihm aber ein Bewerber nicht zu Gesicht, d. h.
richtiger gesagt: „zu nahe*, so schüttelte er ihn genau so
ab, wie es eine Hündin mit einem ungebetenen Liebhaber
macht, und das Hessen sich selbst an Stärke weit über-
legene Rüden ebenso feig mit eingeklemmtem Schwänze
gefallen, wie sie es sonst nur von einer Hündin hin-
nehmen. Also auch hier zeigt sich die Homosexualität
— 118 —
als das Ergebnis einer natürlichen Veränderung und
nicht als ein Ausfluss freien Beliebens,
Mono- und Amphisexualität.
Es folgen hier noch einige dieses Kapitel betreffende
Mitteilungen von Dr. M., die ich meinem Buch „Ent-
deckung der Seele'* einzuverleiben unterliess.
„Ich bin ein prinzipieller Gegner aller symptomato-
logischen Kategorisierungen, welche zu sehr an die Hexen-
prozesse erinnern, denn dasselbe System kann ja hundert
verschiedene Ursachen haben. Sie bemerkten doch schon
genug der jungen Leute — Aeltere beobachteten Sie
bisher nicht — welche an Zwinkern der Augen, Zucken
der Gesichtsmuskeln, Grimassenschneiden, mit Verrenken
oder Zurückwerfen des Kopfes, Schnauben und dergleichen
leiden, oder besonders gerne sich die Fingernägel bis ans
Blut abnagen — kommt aber auch bei grübelnden Ge-
lehrten, Mathematikern, Schachspielern vor — und um
mich selber daran zu verhindern, Hess ich mir von Jugend
an die Nägel lang und rosig wachsen, was man mir als
Eitelkeit auslegt. — Nun verstehen Sie mich wohl : Nicht
alle diese Grimasseure sind Onanisten, viele sind glück-
lich verehelicht und Väter. Aber die Wurzel dieser
Nervosität ist stets die in der Jugend getriebene Onanie!*
„Mit der Zeit ruinieren sich diese Leute gewöhnlich
durch die fortgesetzten Exzesse. Erst vor einem Jahr
begruben wir einen solchen Unglücklichen, über 60 Jahre
alt^ dreifachen Millionär, jedoch sehr geizig; damit man
ihm nicht stets seinen Geiz vorwürfe, trug er sich von
Jugend auf zwar sehr reinlich, aber so ärmlich, dass man
in Versuchung kam, ihm ein paar Groschen zu schenken.
Er war ein gutmütiger Mensch, aber in ewiger Unruhe,
trieb sich stets an allen öffentlichen Orten herum, jedoch
— 119 —
selten mit jemand sprechend und nur lakonische Ant-
worten gebend, auch in Gesellschaft guter Freunde wort-
karg, stets zerstreut, ass auffallend viel, aber nur höchst
wohlfeil. Am Tage seines Todes ging ich in sein Wohn-
haus, um mich von der Wahrheit des Gerüchtes zu über-
zeugen. Ich stiess auf meinen alten Freund, der ein
Vierteljahrhundert des Verstorbenen Leibarzt war. Der
Doktor fasste mich am Arm, führte mich ins Totenzimmer,
wo die Leiche schon nackt auf dem Tische lag, schlug
die Tücher zurück und sagte zu mir: «Sehen Sie hier
die Leiche eines Esels, wie ich noch keinen zweiten
kennen lernte! schauen Sie dieses grosse, missgestaltete
Glied, diese Magerkeit der Arme u. s. w. Dieser drei-
fache Millionär berührte nie im Leben ein Weib — aus
Geiz!" O nein, lieber Doktor, die Geldfrage war jeden-
falls nicht die Grundursache, der Mann war ein Mono-
sexualer! Sie müssen aber nicht meinen, dass das ein-
zelne abnorme Fälle sind. Fehlte es mir hier nicht an
Raum, so würde ich Ihnen noch eingehend von einem
etwa 36jährigen hübschen Millionärssohn erzählen, der
Mitglied einer Kammer ist und dem sich sein Vater
schon öfter zu Füssen warf (wörtlich), ihn beschwörend,
er möge als einziger und reicher Sohn die Familie doch
nicht aussterben lassen. Vergeblich! Schon spricht das
Publikum von seiner onanistischen Manier. — Und nicht
minder kenne ich einen heitern Cavalier, jetzt schon an
die 50, die Seele aller Männergesellschaften, der mit ihnen
in allen Bordellen umherläuft, überall das grosse Wort
führt, auch zuerst stets mit einem Mädchen sich zurück-
zieht; aber mehr als ein Dutzend seiner intimsten Jugend-
freunde versicherten mich aufs Vertraulichste, er habe
noch nie einen Weiberkörper berührt, er „komme schon
mit sich selbst aus."
„Und der so unglückliche geniale Lenau, dieser ge-
borene Onanist, wie kämpfte er gegen diesen Fehltrieb
— 120 -
an, wie viel Liebschaften mit Damen knüpfte er an, die
alle platonisch blieben, und als er sich endlich selber
energisch zur Ehe zwingen wollte, wurde er, im Bewusst-
sein dieser Impotenz, verschärft durch materielle Sorgen
um seine Zukunft, plötzlich wahnsinnig. Und welchen
tierischen Sexualexzessen ergab er sich im Wahnsinn!
Das grosse Publikum braucht davon nichts zu wissen —
denn gesegnet sei sein Andenken — und etwa noch lebende
Freunde haben Recht^ wenn sie rundweg alles leugnen.
Doch der Anthropologe hat sich nur um seine eigene
Aufgabe zu kümmern und diskret seine Quellen zu
verschweigen.*
Ueber Amphisexualität besitze ich nur ein
Fragment aus der Hand meines Korrespondenten.
„Ja, es gab und giebt wirklich und ziemlich viele
Männer, welche glücklich verheiratet sind, mit ihrer Frau
Kind auf Kind zeugen, daneben aber es doch mit Jüng-
lingen, selten mit jungen Männern, treiben, mit der Frau
stets aktiv, mit den »Mignonsc fast nur mutual. Was
ist das wieder für ein neues Naturrätsel!"
„Ich könnte Ihnen eine lange Namensliste solcher
> Doppelten t schreiben, von J. Cäsar und Horaz an
bis zu Shakespeare und Moli Ire. Einen selbst er-
lebten Fall will ich anführen."
„Karl, heute 82, erzählte mir 1853, also damals
56 Jahre — : Sie wissen, dass ich zweimal und zwar
sehr glücklich verheiratet war, ich kann nicht sagen,
welche der beiden Frauen ich leidenschaftlicher liebte.
Mit jeder derselben hatte ich eine gesunde Tochter, deren
eine, von ihrem Gatten angebetet, mich bereits mit drei
Enkeln beschenkte. Ich war beiden Frauen gegenüber
sehr potent, trotzdem fehlte mir auch beim erschöpfendsten
Genüsse ein gewisses Etwas, meine Wollust voll zu
machen, was ich mir nie erklären konnte. Noch muss
ich bemerken, dass ich in meiner Jugend nie onanierte.
— 121 —
Eines Abends in Gesellschaft stürzte ein Bekannter herein
und erzählte empört, es sei doch niederträchtig, wie un-
geniert so verfluchte Päderasten sich draussen herum-
treiben, eben habe ihm ein solch elender Kerl Anträge
gemacht. Ich hatte bis dahin nicht die entfernteste
Ahnung von dieser Passion. Die Nachricht schlug wie
ein Blitz in mich ein: das ist's, was du suchtest! Ich
nahm meinen Hut, ging an den Ort, nahm einen mit, der
bei mir schlief, und von da ab habe ich — damals erst
44 Jahre und sehr potent — nie wieder ein Weib berührt.*
Endurteil.
Bei diesem will ich mit Weglassung der Mono- und
Amphisexualität nur von der, den Streitgegenstand
bildenden Homosexualität sprechen:
1) Die Homosexualität ist jedenfalls nicht in allen
ihren Formen ohne Weiteres als etwas Krankhaftes,
Abnormes, auf Entartung Hinweisendes zu bezeichnen,
also nicht wie Prof. Krafft-Ebing es thut, kurzweg
zur Psychopathie zu rechnen. Mindestens sind die
Supervirilen (und -femininen) es nicht; Männer wie
Alexander der Grosse, Friedrich der Grosse,
der letzte Wikinger Karl XH., die Humboldt und so
fort sind keine Psychopathen gewesen. Eher könnte man
bei den Passiven (den Eifemminls) daran denken, da sie
öfter in geistige Störung verfallen (z.B. König Ludwig II.)
Allein das kann man sich auch als Folge ihrer moralischen
Zwangslage, des Widerspruchs zwischen „Soll* und „Sein"
denken.
2) Ebensowenig gehört die Homosexualität an sich
zu den Lastern, die von der menschlichen Gesellschaft
bekämpft werden müssen, und die Gefahr, in ein Laster
— 122 —
auszuarten, ist bei der Homosexualität geringer als
bei der Heterosexualität
3) Sie ist eine so regelmässige, nicht blos bei Kul-
turvölkern, sondern auch bei allen Naturvölkern ver-
breitete Erscheinung, dass sie als ein Stück göttlicher,
also auch zweckmässiger Naturordnung angesehen
werden muss, wie die Geschlechtslosigkeit bei Bienen,
Ameisen etc.
a) Weil die Nichtbeteiligung an der Fortpflanzung
ein Hemmschuh gegen die das Menschengeschlecht zu
Zeiten bedrohende Uebervölkerung ist.
b) Noch mehr, weil die Homosexualen der Sorge um
die Familie enthoben, viel ungehinderter sich in den Dienst
.des Gemeinwohls stellen können, gerade wie die Krieger
und Arbeiter in den Ameisen- und Bienenstaaten.
Die Einf ührung des Cölibats in der römisch-katholischen
Kirche hat den geschichtlichen Beweis geführt, dass auch
in der menschlichen Gesellschaft der Ehelose ein
wundervolles Werkzeug zur Beherrschung der mensch-
lichen Gemeinwesen ist
c) Im Gegensatz zu den von dem Hochmutsteufel
der Kultur blos aufgeblasenen „Uebermenschen*
Nietzsche's sind die Super vi rilen (und -femininen)
die wahren naturgeborenen und oft gewiss mit Recht
als gottgesandt betrachteten „Uebermenschen*,
die von jeher, sei es in engerem oder weiterem Kreise eine
leitende, beherrschende Rolle gespielt haben und noch
spielen. Allerdings, das kann auch ein solcher „Ueber-
mensch", gerade wie der Normalsexuale nur werden,
wenn er seinen Naturtrieb beherrscht und sich
nicht von ihm unterjochen lässt. Ueberhaupt, man ver-
stehe mich nicht falsch: Wenn ich einen Mann super-
viril oder ein Weib superfeminin nenne, so wird
damit nicht ohne weiteres die Beschuldigung des ge-
schlechtlichen Umgangs mit Gleichgeschlechtlichen aus-
— 123 —
gesprochen; so gut ein Normal sexual er seinen Trieb
so beherrschen kann, dass er sich des Weibes ganz ent-
hält, kann dies auch ein Homosexualer thun.
Dies veranlasst mich, die religiöse Seite der Frage
zu streifen — wohlgemerkt, nur zu streifen, denn eine
allseitige Besprechung ist nicht Sache des Naturforschers.
Ich beschränke mich auf folgende Punkte:
1. Das Heidentum legt seinen Erkennern gegen-
über den Naturtrieben keinerlei Zwang auf, sondern ver-
abscheut nur ein Uebermass, die Ausschweifung. So-
k rat es und Plato trieben, trotzdem sie „ Busenfreunde tt
hatten, sicher keine Ausschweifungen.
2. Beim Christentum wird die Sache anders. Zu-
nächst ist festzustellen, dass hier uns der Mann sofort
in seinen zweierlei Formen als Hetero- oder Nor-
malsexualer und als Homosexualer entgegentritt,
ersterer in dem Apostel Petrus, der verheiratet war,
letzterer im Apostel Paulus, der zweifellos von Natur
ein Homosexualer war und auch deutlich genug darüber
spricht (1. Corinther 7, 1 — 7). Seinem Nichtgebundensein
an eine Familie und der Ueberlegenheit über den Mit-
menschen, welche die Supervirilität verleiht, verdankt er
seine hohe Eignung zu dem, was er vorzugsweise ge-
worden, zum Heidenapostel.
3. Das Neue auf dem Gebiet des Christentums ist,
dass es eine weitergehende bis schliesslich radikale Be-
kämpfung der Naturtriebe verlangt. Wie aus dem kleinen,
untenstehenden, aus der Feder eines Theologen stammenden,
Nachtrag erhellt, bezog sich letzteres anfangs keineswegs
auf den Normal sexualen, sondern nur auf den Homo-
sexualen. Erst im Lauf der Entwicklung, in der die
Vorteile der Ehelosigkeit beim Kampf mit den das
Christentum hindernden Mächten klar zu Tage trat,
wurde die Niederkämpfung des Naturtriebs gottgefälliges
Ideal und schliesslich im Cölibat strenges Gebot für die
— 124 —
Priesterscbaft, dem sich auch der Normalßexuale zu
unterwerfen hatte. Acusserl ich wurde hierdurch natür-
lich der Unterschied zwischen beiden verwischt; man
konnte den Normalsexualen, der seinen Trieb zum Weibe
unterdrückt, yon dem Homosexualen, der diesen Trieb
gar nicht besitzt, nicht mehr unterscheiden. Innerlich
blieb aber der Gegensatz bestehen: Musste der Normale
seinem Trieb zum Weibe entsagen, so hatte der Homo-
sexuale dies mit seinem Triebe zum Manne zu thun, und
beide konnten das — wenn sie wollten!
Das ist der springende Unterschied: die
Ausführung des geschlechtlichen Umganges ist Aus-
fluss einer geistigen Thätigkeit, Gegenstand des freien
Willens, die Richtung, in der das geschieht, die Objekt-
wahl ist nicht frei, sie ist gebunden an die Harmonie
der Seelen, d. h. dessen, was man im Gegensatz zu
dem „Geist" seit jeher „Seele* nennt und von dem
ich in meinem Werk „Entdeckung der Seele" mit
den verschiedensten Mitteln und nach den verschiedensten
Richtungen nachgewiesen habe, dass es im Gegensatz zum
Geist „stofflicher" Natur ist, also unseren stofflichen
Sinnen, dem Geruch und Geschmack, sich ohne
weiteres offenbart, auf allen Gebieten, die man gewöhn-
lich „seelisch" oder „instinktiv" nennt, ganz besonders
greifbar auf dem des Geschlechtslebens.
6. Jaeger.
Nachtrag.
Es ist der Mühe wert, den Standpunkt Christi
(Matth. 19, 3—12) und den des Apostels Paulus (1. Cor. 7)
zu vergleichen: Christus kennt und nennt auch solche,
die aus religiösen Gründen auf das eheliche Leben ver-
zichtet haben oder von Haus aus dafür nicht angelegt
- 12Ü -
sind, aber das Leben in der Ehe ist ihm das Normale,
und er deutet nicht mit einer Silbe ein Lob der Ehe-
losen auf Kosten der Verheirateten an. Paulus dagegen
giebt der Ehelosigkeit aus verschiedenen Gründen ent-
schieden den Vorzug, wobei seine Worte allerdings den
Charakter eines wohlgemeinten Rats auf Grund einer ihm
eigentümlichen Meinung, nicht eines vom Herrn aus-
gehenden, vom Apostel weitergegebenen Gebots haben
sollen. Uebrigens rät er entschieden zur Ehe, wo Neigung
und Drang dazu besteht. Er selbst hat offenbar für das
Weib keine Schwäche (1. Cor. 7, 1 — 7). Dass er den Ge-
schlechtsverkehr zwischen Angehörigen des gleichen Ge-
schlechts scharf verurteilt, zeigt Rom. 1, 26 — 27.
Wie sich aber die Gesetzgebung zu diesem Ge-
schlechtsverkehr zu stellen hat, das ist eine andere Frage,
und wir verweisen in dieser Beziehimg auf die aus unserer
Feder stammenden diesbezüglichen Ausführungen, die das
„I. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen", Jahrg. 1899
auf S. 269 f. zum Abdruck gebracht hat.
Päderastie und Tribadie bei den Tieren
auf Grund der Literatur
zusammengestellt von
Dr. F. Karsch, Privatdozent in Berlin.
Vor siebenunddreissig Jahren erklärte der berühmte
Gerichtsarzt Casper die Päderastie und Tribadie für
einen traurigen Vorzug der Menschenspezies, da seines
Wissens etwas derartiges weder bei männlichen noch bei
weiblichen Tieren vorkomme. Diese Annahme entspricht
jedoch nicht den Thatsachen; denn ein sorgfältiges
Studium der zoologischen Literatur beweist nicht nur
eine ungemein weite Verbreitung der Päderastie und
Tribadie in der Tierwelt, sondern sie zeigt auch, dass die
Kenntnis dieser Thatsachen älter ist als unsere Zeit-
rechnung.
Eine leichte Uebersicht über das nachgewiesene Vor-
kommen von Geschlechtsakten zwischen Männchen mit-
einander einerseits und Weibchen miteinander andererseits
unter den Tieren, soweit solche Akte in der Literatur
mehr oder weniger eingehend behandelt wurden, zu ge-
winnen, scheint mir eine systematisch-zoologische
Anordnung aller bemerkenswerten, auf ganze Gruppen
oder auf einzelne bestimmte Tierarten bezüglichen An-
gaben am besten geeignet und ich stelle in der Reihen-
folge die in ihren Körperbau dem Menschen ähnlicheren
und in ihren psychischen Verrichtungen uns verständ-
licheren Säugetiere voran.
— 127 —
Unter den höheren Wirbeltieren, bei Säugetieren
und Vögeln, wurden päderastische und tiibadische Hand-
lungen schon im Altertume so überaus häufig wahr-
genommen, dass solcher Erscheinungen von Aristoteles
(384 — 322 vor unserer Zeitrechnung) in seiner Schrift
über die Tiere als allbekannter Thatsachen gedacht werden
konnte; analoge Vorkommnisse bei den Wirbellosen
jedoch fanden erst im 19. Jahrhunderte die Beachtung
der Gelehrten und betreffen fast ausschliesslich Insekten.
Säugetiere (Mammalia)
Bei den Affen (Primates) finden sich Andeutungen
von Päderastie in Gestalt wechselseitiger Bespringungs-
versuche besonders junger Männchen ; und dass auch tri-
badische Akte vorkommen, wurde Moll (S. 369) durch
einen ungenannten erfahrenen Beobachter mitgeteilt.
Unter den Kaubtieren (Carnivora) sind in der
Familie der Hunde (Canidae) 'vielfach uranische Akte
zur Beobachtung gelangt; nach Krauss (S. 180) hätte
der Mensch vor dem Hunde nur das voraus, dass die
Unzucht ausführbar ist. Ellis-Symonds fügen den
von ihnen aufgenommenen Mitteilungen Deville's über
den Trieb zu Begattungsversuchen unter eingesperrten
männlichen Hunden, die nach Zulassung weiblicher Hunde
auf diese gingen, die Bemerkung hinzu, Jedermann könne
beobachten, dass junge Hunde, wenn sie untereinander
spielen, geschlechtlich erregt werden und dass dasselbe
bei einem Hunde eintrete, welcher mit seinem Herrn
spielt, auch dann, wenn der Hund Hündinnen gegenüber
sich normal verhält. Lacassagne (S. 37) geht so weit, zu
behaupten, beim Hunde gingen allen normalen geschlecht-
lichen Beziehungen auch bei voller Freiheit der Tiere
geschlechtliche, wenn auch ungeschickte Versuche am
eigenen Geschlecht voraus. Moll berichtet (S. 309) einen
Fall von Geschlechtsakten zwischen zwei blutsverwandten
— 128 -
männlichen Hunden, Vater und Sohn ; der eine rieb sein
Glied am Körper .des anderen so lange, bis Samenent-
leerung erfolgte.
Die Nagetiere (Rodentia), Familie der Hasen
(Leporidae). Wie Lacassagne (S. 38) und Moll (S. 372)
mitteilen, sah Cornevin ein Kaninchen, welches unter
vollständiger Nachahmung des Geschlechtsaktes eine
Katze besprang.
Paarzeh ige Huftiere (Artiodactyla). Unter den
Wiederkäuern (Ruminantia) scheinen die Horntiere
(Cavicornia) besonders stark zur Tribadie zu neigen. Die
vorliegenden Angaben beziehen sich auf Rindvieh
(Bo v in ae), Ziegen und Schafe (Ovinae) und auf Anti-
lopen (Antilopinae). Beim weiblichen Rindvieh muss
der Trieb, die Rolle des Männchens zu spielen, sehr aus-
geprägt sein; schon Aristoteles (II, Seite 69) bemerkt
„auch springen die Kühe auf die Stiere, laufen ihnen
überall hin nach und bleiben bei ihnen stehen" und Moll
(S. 374) teilt mit, nach Seitz hätten zweijährige weibliche
Zebu's (Bos indicus) ein junges Männchen ständig be-
sprungen, infolgedessen alsdann dieses gereizt worden
sei, seinerseits die jungen Weibchen zu bespringen und
zu belecken. Von da bis zur tribadischen Kuh ist der
Weg nicht mehr weit, de B uffon (Vierf. Tiere I, S. 341)
findet die Merkmale der Brunst an einer Kuh gar nicht
zweideutig; sie brüllt alsdann viel öfter und stärker als
gewöhnlich; sie springt selbst auf Kühe, Ochsen und
Stiere. Mit dieser Schilderung übereinstimmende Be-
obachtungen finden sich später bei Sehe itlin (II, S. 287),
Hegar (S. 965 [41]), Krauss (S. 180) und Moll
(S. 370). Auch junge Stiere (Bos taurus) machen
Beöpringbewegungen auf andere Männchen ihrer Art,
wie, nach Deville und Lacassagne, Ellis-
Symonds und Moll (S. 372) berichten. Unter den
Ovinen muss Uranismus sehr häufig sein bei Ziegen und
— 129 —
Schafen. Seitz beobachtete nach brieflicher Mitteilung
an Moll (S. 374) zwei Männchen der Haus z lege (Capra
hircus) in engem Behälter ohne Weibchen; sie reizten
sich ununterbrochen; das grössere besprang das kleinere
bis zum vollen Samenergusse; ob bei diesem Akte der
Penis in die Analöffnung des kleineren eindrang, konnte
nicht festgestellt werden. Nach D e v i 1 1 e (S. 109) führen von
weiblichen Schafen (Ovis aries) getrennte Widder, be-
sonders in engen Räumen eingeschlossen, geschlechtliche
Akte aus, und ebenso treiben es, vom Widder getrennt,
die weiblichen Tiere; beide Geschlechter kehren nach
der Wiedervereinigung zum normalen Akte zurück (auch
von Ellis-Symonds, F£r£ S. 496 und Moll S. 372
mitgeteilt). Von Ovis steatopyga berichtete Seitz an
Moll (S. 374) bezüglich eines mit 13 Tieren derselben
Art, 10 Weibchen und 3 jungen Männchen, zusammen-
gesperrten alten Bockes, dass er seit Mitte Oktober 1896
die Weibchen nicht mehr besprang, statt dessen jedoch
zwei junge Männchen, dass dabei der Penis weit hervor-
gestülpt wurde und starkes Abtropfen von Sperma statt-
fand. v Wahrscheinlich sind sämtliche Weibchen tragend
gewesen; bei einigen war dies mit Sicherheit anzunehmen tt
(Seitz). Junge Weibchen von Antilope cervicapra bespringen
nach Seitz's Mitteilung an Moll (S. 374) planlos und
ungeschickt junge Männchen und alte Weibchen. Forstels
Beobachtung an einem vierjährigen Weibchen der Elen-
antilope in einem Tierparke am Cap der guten Hoffnung,
welche Antilopen und sogar einen im selben Gehege be-
findlichen Strauss besprang, von de Buffon (Vierf. Tiere
XII, S. 221), Lacassagne (S. 38) und Moll (S. 372)
mitgeteilt, ist eine weitere Ergänzung zu den oben über
die Bovinen gebrachten Angaben des Aristoteles und
de Buffon's.
Unpaarzehige Huftiere (Perissodactyla). In der
Familie der Pferde (Equidae) haben Pferd und Esel
Jahrbuch II. 9
— 130 —
uranische Neigungen (F6r£, S. 496); nach Lacassagne
(S. 37) sind es besonders jugendliche männliche Fohlen,
welche in Ermangelung von weiblichen Fohlen Bespring-
bewegungen bei anderen Männchen ausführen.
Auf Säugetiere im Allgemeinen scheint sich die Be-
merkung von Seitz bei Groos (S. 234) beziehen zu
sollen, wonach schon in sehr grosser Jugend Bespring-
bewegungen unternommen werden, bei denen bisweilen
die Geschlechter ihre Rollen vertauschen und die Männchen
koquettieren, die Weibchen zudringlich sind und be-
springen.
Vögel (Aves)
Nach de Buffon's Schilderung sind die Vögel über-
haupt hitziger als die vierf üssigen Tiere (Vögel I, S. 43) }
es sind schon oft Vermischungen unter ihnen vorgekommen,
derart, dass in Ermangelung eines Weibchens derselben
Art, dessen Stelle durch den ersten Vogel, der sich findet,
ersetzt wurde ; die Notwendigkeit, sich zu paaren, fühlen
die Vögel als ein so dringendes Bedürfnis, dass man die
meisten, welche diesen Trieb unbefriedigt lassen müssen,
entweder krank werden oder gar sterben sieht; »und
wer kann wohl sagen, was in dichten Gehölzen für
Liebes Verständnisse dieser Art vorgehen?* — Uranische
Akte oder Neigungen wurden beobachtet bei Gangvögeln,
Tauben, Hühnervögeln, Klettervögeln und Schwimmvögeln.
Gangvögel (Passeres). Moll(S. 373) erfuhr durch
einen ungenannten, nur männliche Vögel haltenden Herrn,
dass sich eine männliche chinesische Nachtigall (Familie
Drosseln, Turdidae) und ein Finkenmännchen (Familie
Finken, Fringillidae), welche sich zusammen mit anderen
männlichen Vögeln im selben Bauer befanden, vielfach
liebkoseten und schnäbelten; der Fink habe die werbende
Rolle gespielt, die Nachtigall den umworbenen Teil ab-
gegeben; eigentliche Begattungsversuche seien jedoch
nicht zur Beobachtung gekommen.
— 131 —
Tauben (Columbina). Bei Schilderung der Begattung
der Tauben teilt Aristoteles (II, S. 13) mit, sie hätten
die Eigentümlichkeit, dass ein Weibchen auf das andere
steigt, wenn kein Männchen da ist, und sich mit jenem
ebenso schnäbelt, wie ein Männchen; hernach legten sie,
ohne dass sie einander einen Stoff mitteilten, Eier und
zwar deren mehr als sie nach einer Befruchtung zu legen
pflegten ; es seien dieses aber sämtlich Windeier, aus denen
daher ein Junges nicht hervorgehe, de Buffon (Vögel
VI, S. 379) will nur einen einzigen Umstand als Beweis
anführen, wie feurig die Tauben in ihrer Liebe sind:
wenn man nämlich in einem Bauer lauter männliche, in
einem anderen lauter weibliche Turteltauben einsperrt, so
werden sie sich in jedem dieser Behältnisse so gut, als
ob sie von beiderlei Geschlechts wären, zusammen ver-
einigen und paaren; diese Art von Ausschweifung pflege
indessen eher und öfters bei den Taubern, als bei den
Tauben vorzufallen; der Zwang und die Beraubung diene
daher oftmals, die Gefühle der Natur in Unordnung zu
bringen, aber nicht, sie zu ersticken. Unter Brieftauben sah
Muccioli bei den Weibchen Tribadie, bei den Männchen,
und zwar in Gegenwart von Weibchen, Päderastie.
Hühnervögel (Gallinacea). Uranisches Treiben der
echten Hühner (Phasianidae) und der Feldhühner
(Tetraonidae) ist schon dem alten Stagiriten Aristoteles
bekannt gewesen. Denn von den Hühnern berichtet er
(II, S. 323), dass die Hennen, wenn sie über die Hähne
gesiegt haben, anfangen, das Krähen der Hähne nach-
zuahmen und Versuche anstellen, zu treten; zugleich
erhebe sich bei ihnen der Kamm und der Steiss, wodurch
es recht schwer werde, zu erkennen, dass es Hennen
seien; bei manchen zeigten sich auch kleine Spuren von
Spornen ; es gäbe aber auch andererseits Hähne, die von
Hause aus so weibisch seien, dass sie sich sogar von den
Hühnern treten Ii essen; diese Erscheinungen veranlassen
9*
— 132 —
ihn zur Formulierung des Lehrsatzes: „So wie sich die
Handlungen der Tiere nach ihren Zuständen richten, so
verändert sich hinwiederum mit ihren Handlungen auch
ihr Charakter, bisweilen sogar manche Organe.* Höchst
drastisch wirkt des Aristoteles Erzählung an einer
anderen, vom Steinhuhn handelnden Stelle (II, S. 285),
woselbst es nebenbei vom Haushuhn heisst: „In den
Tempeln, wo die geweihten Hähne ohne Hennen sich be-
finden, ist es Regel, dass der neue Ankömmling von allen
besprungen wird." Plutarch (50 — 130 unserer Zeit-
rechnung) lässt zwar den Gryllus (S. 2917) behaupten:
„Darum haben die Begierden der Tiere bis jetzt auch
noch nicht zu Vermischungen der Männchen mit Männchen
und der Weibchen mit Weibchen verleitet, während bei
Euch (Menschen) dergleichen Verimingen den ange-
sehensten und wackersten Männern begegnet sind 4 *; —
allein wenige Zeilen später (S. 2918) legt er demselben
Gryllus die Worte in den Mund: »Wenn ein Hahn in
Ermangelung einer Henne einen Hahn besteigt, so wird
er lebendig verbrannt, weil ein Wahrsager oder Zeichen-
deuter diesen Fall für eine ausserordentliche und schreck-
liche Vorbedeutung erklärt." Der englische Ornithologe
W'illughby (1676, S. 120; giebt an, dass die Hühnervögel
sehr geil und durch die Kopulationen unter ihren Männchen
abscheulich seien. Edwards hielt dieses so lange für
eine Fabel, bis er selbst eine solche Beobachtung machte.
Er hatte (S. XXI) drei oder vier junge Hähne an einem
Orte zusammen eingesperrt, wo sie eine Gemeinschaft mit
irgend einer Henne gar nicht pflegen konnten. Sie hatten
ihren feindseligen Stolz gegen einander in dieser Lage
sehr bald vergessen und fingen an, statt aller sonst ge-
wöhnlichen Kämpfe, jeder seinen nächsten Kameraden zu
treten, obwohl der getretene Hahn dabei wenig Zufrieden-
heit spüren Hess. Edwards kann sich nicht enthalten,
diesen Anlass zu einer Nutzanwendung auf menschliche
— 133 —
Verhältnisse zu verwerten, indem er (S. XXI — XXIV)
die Methode der vollständigen Abschliessung der Ge-
schlechter der Schuljugend und in den Internaten einer
sehr abfälligen Kritik unterzieht, de Buffon (Vögel I,
8. 43) legt dar, auf den Hühnerhöfen werde man gar oft
gewahr, wie ein von seinen Hühnern getrennter Hahn
sich eines anderen Hahns, eines Kapauns, eines Puters
oder einer Ente anstatt seiner Hühner bediene; und
ferner (Vögel IV, 8. 118), der Hahn bediene sich sogar
des ersten Hahnes, den er auf seinem Wege antreffe,
wenn er ein Weibchen nicht fände; Edwards habe diese
Beobachtung selbst angestellt und ausserdem werde sie
durch ein von Plutarch angeführtes Gesetz bestätigt,
welches jeden Hahn, der dieser widernatürlichen Aus-
schweifung überführt werde, zum Tode verdammte.
— Von den Feldhühnern kannte schon Aristoteles
das Steinhuhn (ein Rebhuhn, Perdix saxatilis) und
die Wachtel (Coturnix dactylisonans) als uranischen
Akten stark zugeneigt; vom Steinhuhn erzählt er
(II, S. 235): habe sich ein Weibchen entfernt und brüte,
so sammelten die Männchen sich unter Geschrei und
kämpften miteinander; solche Männchen nenne man
„ Witwer"; derjenige Witwer, welcher im Kampfe besiegt
werde, begleite den Sieger und würde von diesem allein
besprungen ; doch komme es auch vor, dass den Besiegten
noch der zweitstärkste oder irgend ein anderer Witwer
im Geheimen bespringe, ohne dass der Sieger es gewahr
würde; diese Ereignisse trügen jedoch nicht stets sich
zu, vielmehr nur zu gewissen Zeiten des Jahres und kämen
in gleicher Weise auch bei den Wachteln vor. Eine
schwierige, verschiedenartig übersetzte Stelle bei Aris-
toteles am Schlüsse des 8. Kapitels des 6. Buches lautet
nach Sundevall (S. 140): „wenn er (der Hahn des
Steinhuhns) die Jungen zum ersten Male aus dem Neste
führt, so tritt er sie. 44 de Buffon sucht alle Angaben
— 131 —
des Aristoteles, so viele ihrer auch als Volkssagen in
Umlauf gewesen und von Aristoteles lediglich wieder-
erzählt sein mögen, als unumstössliche Wahrheiten zu
retten, indem er (Vögel VI, S. 50) darlegt, er habe selbst
schon mehr als ein bewährtes Beispiel von solcher Aus-
schweifung der Natur angeführt, vermöge deren ein
Männchen sich eines anderen Männchens, oder jeder an-
deren Sache, statt eines Weibchens bedient habe und dass
diese Ausschweifung wohl vornehmlich unter so geilen
Vögeln, wie die Rebhühner sind, vorkommen müsse, deren
Männchen, wenn sie einmal erhitzt seien, nicht einmal
die Stimme ihrer Weibchen ohne Verlust von Samen*
feuchtigkeit hören könnten . . . . u. s. w.
Klettervögel (Scansores), Familie Papageien
(Psittacidae). Gestützt auf private Mitteilungen berichtet
Moll (S. 373) über in einem Bauer längere Zeit gehaltene
männliche Papageien: sie erregten sich einander hoch-
gradig geschlechtlich; einer trat selbst auf den anderen,
als ob dieser ein Weibchen sei; bei diesem Akte hielten
beide gleichzeitig durch Wendungen de& Kopfes mit den
Schnäbeln einander fest und es könne ein Samenerguss
seitens des Tretenden erfolgen. Aehnliches sei auch bei
weiblichen Papageien in gleicher Lage vorgekommen und
dem Berichterstatter auch von anderen Vögeln angegeben
worden.
Schwimmvögel (Natatores), Familie Siebschnäb-
ler (Lamellirostres). Als unbedenklich uranischer Natur
ist mir nur ein einziger Fall begegnet, dieser aber so
genau untersucht und in allen wichtigen Fragen beant-
wortet, dass er als einer der interessantesten aus der
gesamten Literatur sich heraushebt. Er betrifft die
Hausente (Anas boschas); ich will ihn genauer schildern
und zwar ganz im Sinne Korschelt's, der ihn behandelt
hat Eine Hausente hörte im 13. Jahre auf zu legen und
nahm mit der Mauser männliche Befiederung an; zum
— 135 —
Kleide des Männchens gesellten sich aber auch dessen
Gewohnheiten, was früher durchaus nicht war beobachtet
worden: sie versuchte, mit den weiblichen Enten, mit
denen sie zusammenlebte, die Begattung auszuführen und
benahm sich dabei ganz wie ein echtes Männchen. Von
ihrem Ovarium wurden Eier nicht mehr hervorgebracht;
Korscheit fasst daher die Hahnenfedrigkeit hier als
eine Folge der durch senile Degeneration des Ovariums
erzeugten Sterilität auf; mit dem Erlöschen der eigent-
lichen Geschlechtsfunktion des Tieres verbinde sich ein
Umschlag in das entgegengesetzte Geschlecht; Korscheit
stellt diese Erscheinung in Parallele mit der parasitären
Kastration, bei welcher im Gefolge der Anwesenheit eines
Parasiten eine Bückbildung der inneren Geschlechtsorgane
und eine gleichzeitige Umbildung der äusseren Geschlechts-
charaktere in die des anderen Geschlechtes hervortritt;
der Vorgang erinnert ihn an das von Darwin behauptete
Vorhandensein latenter Geschlechtscharaktere, indem beim
Männchen die weiblichen, beim Weibchen die männlichen
Charaktere schlummernd vorhanden seien und ihre Aus-
bildung erst dann zum Durchbruche gelangen könne,
wenn die bis dahin vorherrschende Geschlechtsfunktion
des betreffenden Individuums aus irgend welchem Grunde
(im vorliegenden Falle die senile Degeneration des Ova-
riums) erloschen sei.
Die hier geschilderte Metamorphose dürfte bei
Vögeln nicht gar so selten vorkommen; ich berufe mich
auf AI tum, welcher (S. 145) angiebt, es könne die un-
gemischte Geschlechtlichkeit in verschiedenen Stufen von
Höhe und Schärfe ausgeprägt sein, derart, dass alte
Hennen endlich steril würden, annähernd ein Hahnen-
gefieder erhielten , ja sogar beim Fortpflanzungsakte
Hahnenrolle zu spielen versuchten, obgleich sie gewiss
nicht hermaphroditischer Natur geworden sind; von ein-
zelnen Hausenten sei ein Gleiches beobachtet. St öl k er
— 136 —
führt 1877 schon 24 die Hahnenfedrigkeit der Hennen
behandelnde Schriften auf und es kommen auch hennen-
fedrige Hähne vor.
Lurche (Amphibia)
Ueber gelegentliche Imitation des Koitus zwischen
Männchen bei Fröschen und bei Kröten berichtet
James (Moll 8. 369).
Insekten (Hexapoda)
Fälle sexuellen Verkehrs gleichgeschlechtlicher In-
sekten sind mir in der Literatur bei Immen, Käfern,
Schmetterlingen und Zweiflüglern (Fliegen) be-
gegnet. Alle berichteten Fälle betreffen Kopulation unter
Männchen (Päderastie).
Hautflügler oder Immen (Hymenoptera). Honig-
biene (Apis mellifica). Noel beobachtete unter eigen-
tümlichen Umständen bei seinem Bienenstocke Päderastie;
als seine Arbeitsbienen Mitte September die Drohnen
(die Männchen des Stockes) aus ihrem Stocke verjagt
hatten und die Drohnen nach der Drohnenschlacht schutz-
los der schon empfindlich fühlbar werdenden Kälte preis-
gegeben waren, sah Noel die vertriebenen Drohnen in
faustgrossen Klumpen unter dem Boden des Stockes ihre
Zuflucht suchen; und er fand, indem er einige Drohnen
seiner Sammlung einverleiben wollte, sie sämtlich paar-
weise in Kopulation; sie blieben eine Zeitlang in dieser
Lage, in welcher Noel sie durch Chloroform töten konnte.
Noel wundert sich, woher die von dem französischen
Landmanne „Gottesfliege" genannten Tiere solche Sitten
haben lernen können. — Zur richtigen Beurteilung des
Falles muss berücksichtigt werden, dass jedem Bienen-
volke mit Hunderten von Drohnen nur ein begattungs-
fähiges Weibchen, die Königin, angehört.
Käfer (Coleoptera). Die überaus zahlreichen, in der
Literatur erwähnten Kopulationen unter Käfermännchen«
wurden bei den bezüglichen Individuen nur je ein einziges
Mal wahrgenommen und beziehen sich auf nur wenige
sehr häufige Arten; diese gehören entweder der höher-
entwickelten Gruppe der Blätterhörner (Lamellicornia)-
oder der im Käfersysteme am tiefsten stehenden Gruppe
der Weichkäfer (Malacodermata) an, deren Mitglieder
den Typus der hypothetischen Urkäfer noch am reinsten
bewahrt haben. Von den Blätterhörnern sind beteiligte
der Hirschkäfer oder Schröter, beide Arten
des Maikäfers, der gemeine Maikäfer und der
Rosskastanienmaikäfer, sowie der kleinere Juni-
käfer. Bei ihnen allen vollzog sich die Kopulation
unter Männchen stets zwischen Exemplaren einer uncL
derselben Art oder zwischen zwei einander sehr nahe ver-
wandten Arten. Demgegenüber fallen die beobachteten*
Akte von Kopulation unter Weichkäfermännchen durch,
die Eigentümlichkeit auf, dass es sich bei diesen jedesmal,
um zwei Männchen aus sehr unterschiedlichen Familien
handelt, um einen stets die aktive Rolle spielenden
Warzenweichkäfer, Rhagonycha melanura (Familie
Thelephoridae), und einen stets passiven Leuchtkäfer,.
Luciola lusitanica (Familie Lampyridae). Das bis 1879
bekannt gewordene, von tüchtigen Fachgelehrten unter-
suchte und sachgemäss behandelte Material fasste v. d.
Osten Sacken unter Darlegung sehr wertvoller all-
gemeiner Gesichtspunkte zusammen; seine Abhandlung
benutzten, ohne wesentlich Neues zu bringen, Ulrichs,.
Reuter und Moll, während F£r£ nur die bezügliche
französische Literatur berücksichtigte. Sehr beachtens-
wert scheinen mir auch die höchst sonderbaren Irrtümer,,
zu welchen recht vorsichtige Gelehrte durch die für sie
so merkwürdigen Funde veranlasst wurden.
Blätterhörner (Lamellicornia):
Hirschkäfer (Lucanus cervus). Ueber Kopulation»
— 138 —
-unter Männchen dieser Art berichtet Planet, dessen
Publikation ich leider nicht erlangen konnte.
Maikäfer (Melolontha). Den ersten Fall einer Kopu-
lation zweier Maikäfermännchen veröffentlichte 1834 Kelch:
Am 6. Juni 1833 traf er im Lehnstocker Walde bei Ratibor ein
Männchen von Melolontha vulgaris mit einem solchen von
Melolontha hippocastani im vollständigen Begattungsakte;
seinen Augen kaum trauend, zeigte er diese durch die
männlichen Begattungsteile der beteiligten Melolontha
vulgaris noch aneinander festhängenden Käfermännchen
dem ihn begleitenden herzogl. Forstmeister Witt wer und
bemühte sich, dieselben von einander zu trennen, was aber
ohne Zerstörung der Geschlechtsteile der Melolontha vul-
garis nicht möglich schien, weshalb er beide unversehrt
nach Hause nahm. Hier zeigte er dem fürstl. Oberförster
-Zebe das Paar; inzwischen war der passive Teil, Melo-
lontha hippocastani, sehr matt geworden und starb, als
Kelch Melolontha vulgaris' durch Auslösung seiner Ge-
schlechtsteile von ihm trennte; dabei blieb bei M. hippo-
castani eine bedeutende Vertiefung an derjenigen Stelle,
-an welcher die weiblichen Geschlechtsteile hätten liegen
müssen; und schon glaubte Kelch, ein wirkliches Weib-
chen mit abnormen (männlichen) Fühlern vor sich zu
haben, wurde jedoch eines besseren durch Zebe belehrt,
welcher aus der erwähnten Vertiefung die vollständigen
-männlichen Geschlechtsteile herauszog. Hier hatte dem-
nach, meint Kelch, das Mololontha vulgaris Männchen
als der grössere und stärkere Teil das M. hippocastani
Männchen als den kleineren und schwächeren Teil be-
zwingend, diesen ermüdet und nur durch seine Ueber-
legenheit vergewaltigt. Dieses Falles gedenkt später
Ha gen unter der Rubrik „Insekten-Bastarde - — (1. Fall).
Im Sommer 1847 entdeckte Heer bei Zürich zwei
Stück in Begattung befindliche Melolontha vulgaris, welche
in ihrer Fühlerbildung vollständig übereinstimmten, wäh-
— 139 —
rend sonst die Fühler der beiden Geschlechter sehr ver-
schieden sind; er hielt das passive Stück, etwas grösser
und dicker als das aktive, ohne Untersuchung für ein
Weibchen mit abnormer (männlicher) Fühlerbildung; sie
hingen so fest zusammen, dass sie nur schwer zu trennen
'waren; von einer Täuschung konnte nicht die Rede sein.
He er 's Auffassung bestätigte bald darauf Gemminger;
dieser traf im Mai 1848 im Garten der Münchener Ana-
tomie dasselbe Phänomen an; „beide Geschlechter in voll-
kommener Begattung" schüttelte er von einer Esche; das
rangebliche Weibchen unterschied sich auch hier nur durch
die korpulentere Leibesform von dem schlankeren Männ-
chen. Heer's und Gemminger's Angaben erregten
jedoch den entschiedensten Widerspruch Doebner's,
nach dessen Ansicht die angeblichen Weibchen Heer's
und Gemminger's mit männlichen Fühlern keine Weib-
chen, sondern echte Männchen gewesen seien; die Er-
scheinung, dass ein Maikäfermännchen von anderen Männ-
chen in deren blindem Begattungstriebe verkannt und in
der Art überwunden wäre, dass man einen wirklichen
Begattungsakt zwischen zwei verschiedenen Geschlechtern
mit gleich gebildeten Fühlern vor sich zu haben glaube,
stehe nicht vereinzelt da; ein eifriger Sammler in Aschaffen-
burg habe dieselbe Beobachtung gemacht, ohne dass weiter
•darauf geachtet worden sei. Do ebner beschreibt dann
selbst einen weiteren ihm vorliegenden Fall: Zwei Melo-
lontha vulgaris mit vollkommen gleicher männlicher Fühler-
bildung befinden sich scheinbar im vollkommensten Be-
gattungsakte; in diesem Zustande wurden sie getötet, ohne
dass eine Trennung erfolgte. Das eine (passive) Exemplar
war etwas grösser und seine Hinterleibsspitze steckte, wie
gewöhnlich beim Weibchen, zwischen der oberen und
unteren Platte des letzten Hinterleibsringes des etwas
kleineren anderen (aktiven) Exemplares, während des
Jetzteren Hinterleibsspitze, wie dieses gewöhnlich beim
- 140 —
Männchen der Fall ist, frei lag; sein Geschlechtsorgan
aber war in den Hinterleib des anderen eingeführt. Die
Grössenverhältnisse waren bei diesen Exemplaren genau
dieselben, wie bei den von Heer und Gemminger be-
obachteten beiden Paaren, nur mit dem Unterschiede, dass
bei dem Doebn einsehen Paare das grössere, in der Lage
des Weibchens befindliche Exemplar einen vollkommen
entwickelten, frei und weit nach aussen hervorragenden
männlichen Geschlechtsapparat zeigte, welcher augen-
scheinlich durch das Einbringen der Penisscheide des
kleineren Exemplars in den After des grösseren war
herausgetrieben worden. Doebner hatte es also mit
zwei wirklichen Männchen zu thun und es unterlag für
ihn auch keinem Zweifel mehr, dass bei den Maikäfern
Fälle vorkommen, wo Männchen zur Befriedigung ihres
ungestümen Begattungstriebes sich anderer Männchen be-
dienen, welche sie in ihrer blinden Wut wahrscheinlich
für Weibchen halten und überwinden. Er hält daher
auch die in den beiden Fällen Heer und Gemroinger
für Weibchen angesprochenen Exemplare für echte Männ-
chen, bei denen, abweichend von dem durch ihn studierten
und analog dem Kelch'schen Falle, die Geschlechtsteile
in den Hinterleib hineingetrieben waren; wenigstens bleibt
für ihn die Existenz von Weibchen mit männlichen Füh-
lern mindestens noch so lange zweifelhaft, bis von solchen
fraglichen Weibchen die weiblichen Geschlechtsorgane
unzweifelhaft nachgewiesen werden — (2., 3. und 4. Fall).
Einen weiteren Fall von copula inter mares bei
Melolontha vulgaris legte in ausführlicher Weise 1859
Laboulbene dar. Dieser französische Gelehrte erhielt
von Puton zwei durch Hitze getötete Melolontha vul-
garis in copula aus der Normandie zugesandt; in der
Umgebung von Dieppe hatte Puton selbst sie in copula
gefunden; besonderes Interesse, schrieb Puton, konnte
das Paar nicht bieten, trügen nicht beide Teile die äusseren
— 141 —
Kennzeichen des männlichen Geschlechts; er wünsche
von Laboulbfene zu erfahren, ob es sich bei beiden
Stücken um wirkliche Männchen handele oder ob etwa
«der eine der beiden Käfer ein Weibchen mit männlicher
Fühlerbildung sei. Laboulbene stellte nun fest, dass
1) beide Exemplare ihrem äusseren Baue nach einen
irgend erheblichen Unterschied von einander oder von
Pariser Männchen nicht aufwiesen; dass 2) die Lage der
beiden in copula verbliebenen Exemplare ganz die ge-
wöhnliche Stellung der beiden kopulierenden Geschlechter
von Melolontha vulgaris sei: das Weibchen schreitend
■oder stillstehend und vom Männchen besprungen — dieses
mit an den Leib angezogenen Beinen nach hinten zurück-
gebogen, eine Lage, in welcher es „scheinbar schlafend*
vom stärkeren Weibchen umhergeschleppt wird; die äusse-
ren Geschlechtsorgane des aktiven Männchens steckten
im Leibe des passiven, in der gewöhnlichen Lage des
Weibchens sich befindenden, männlichen Exemplares;
3) die Zergliederung (nach Aufweichung in kaltem und
alsdann kochendem Wasser) ergab ausschliesslich männ-
liche innere Organe bei beiden Individuen, keine Spur
weiblicher Organe, auch nicht bei dem passiven Indivi-
duum; die hornige Penisscheide des aktiven Männchens
war nicht in die Afteröflhung, sondern in die unter die-
ser liegende äussere Geschlechtsöfihung gedrungen und
zeigte an ihrem distalen Ende die häutige Rute ; die hor-
nige Scheide des passiven Männchens befand sich dagegen
in umgekehrter Lage in den Körper desselben zurück-
gedrängt und liess nichts von der Rute erkennen.
Laboulbene hält den Fall für den einzigen bekannten,
•dem ein zweiter authentischer nicht zur Seite stehe, und
findet die Thatsache sehr eigentümlich, ohne irgend theo-
retische Betrachtungen an sie anzuknüpfen — (5. Fall).
Unter vielen kopulierenden Paaren der Melolontha
vulgaris bemerkte im Frühjahre 1879 v. d. Osten Sacken
— 142 —
bei Heidelberg auch ein kopulierendes Paar von Männchen:
die hornige Penisscheide des aktiven Männchens war wie
im Doebner'schen Falle zwischen die Dorsal- und Ven-
tralplatte des letzten Hinterleibssegmentes des passiven
Männchens eingeschoben; ebenso, im Gegensatze zum
Doebner'schen Falle, der Aftergriffel; diese Stellung
konnte nur mit Gewalt erzielt worden sein, da die hornige
Penisscheide des passiven Männchens, aus ihrem natür-
lichen Zusammenhange mit dem Körper herausgerissen,
nur an einem Hautläppchen hängend, ausserhalb des Hinter-
leibes geschleppt wurde; dabei war aber das passive
Männchen grösser und dicker als das aktive. Am folgen-
Tage war das aktive Männchen tot, das passive trotz
seiner schweren Verletzung noch munter — ((5. Fall).
v. d. Osten Sacken hebt zur Beurteilung der
einzelnen, von ihm kurz geschilderten 6 Fälle hervor, dass
mit blosser Gewalt des aktiven Teiles ohne Entgegen-
kommen des passiven Teiles das mechanische Zustande-
kommen des Geschlechtsaktes zwischen zwei Männchen
des Maikäfers sich nicht begreifen lasse; besonders in-
struktiv sei diesbezüglich der Fall Doebner, bei welchem
das passive Männchen, ganz wie es das Weibchen zu thun
pflegt, den Aftergriffel zwischen die Abdominalsegmente
des aktiven Männchens eingeschoben trug, was nur frei-
willig habe erreicht werden können; die Sinnlichkeit müsse
daher eine gegenseitige gewesen sein ; bei auschlie&slicher
Gewaltanwendung des aktiven Teiles hätte das grössere
und stärkere Männchen die aktive Rolle spielen müssen,
während thatsächlich, wenigstens soweit das Grössen-
Verhältnis festgestellt wurde — mit Ausnahme des Falles
Kelch — , das kleinere Exemplar die aktive Rolle über-
nahm; ferner glaubt v. d. Osten Sacken, das aktive
Individuum für das hitzigere annehmen zu dürfen, welches
in den Fällen 2, 3, 4 und 0 jedesmal das kleinere war;
endlich lieferte ihm seine Beobachtung, bei welcher das
- 143 —
passive Männchen der Penisscheide fast verlustig ging,,
einen neuen Beleg von der Gefühllosigkeit der Insekten
gegen körperliche Verletzungen, da die hier vorliegenden
schweren Beschädigungen nicht einmal die Befriedigung
der Sinnlichkeit verhinderten; andere sich aufdrängende
Betrachtungen überlässt er dem geneigten Leser.
Einen ferneren Fall von zwei in copula gefangenen
Männchen der Melolontha vulgaris legte Fokker 1881
der niederländischen entomologischen Gesellschaft im Haag
vor, bei welcher Gelegenheit Ritsema auf v. d. Osten
Sacken's Abhandlung aufmerksam machte; dieser Fall
blieb unbearbeitet — (7. Fall).
Auch vor den Mitgliedern der 22. Versammlung der-
Delegierten gelehrter Gesellschaften in der Sorbonne
wurde in der Sitzung vom 17. April 1884 ein gleicher
Fall durch Abbe* Maze zur Sprache gebracht; Maze
hielt anfangs das passive Männchen noch für ein
Weibchen — (8. Fall).
Nach Lombroso bewahrt das Museum in Turin
zwei in copula befindliche Männchen von Melolontha
vulgaris (F6r£, S. 498) — (9. Fall).
Mehrere Einzelfälle endlich von copula inter mares
bei Melolontha vulgaris hatte Noel, Leiter des Landes-
Laboratoriums für landwirtschaftliche Entomologie m
Bouen, im April 1895 zu beobachten Gelegenheit, als er-
Maikäfer zum Zwecke der Feststellung der Einwirkung
zerstörender Pilze auf ihren Organismus in grosser Menge
und in beiden Geschlechtern gefangen hielt. Unter den-
vielen Paaren befanden sich auch etliche ausschliesslich
männliche Paare, von denen Noel einige de Kerville
zum Geschenke machte; sie waren in Spiritus getötet
und im Tode ungetrennt geblieben, de Kerville legte
diese Paare in der Sitzung vom 26. Februar 1896 der
französischen entomologischen Gesellschaft in Paris vor
und führte aus, dass diese ausschliesslich männlichen.
Paare ungeachtet der Anwesenheit zahlreicher Weibchen
sich zusammenfanden und daher zu dem Schlüsse be-
rechtigten, dass wenigstens die vorliegenden aktiven
Männchen anderen Männchen vor Weibchen den Vorzug
gegeben hätten; er unterscheide demnach bei Päderastie
treibenden Käfermännchen Päderasten durch Not fpldl-
rastes par necessitl), d. h. solche bei fehlenden Weibchen,
und Päderasten durch Wahlbevorzugung (pld£rastes par
goüt). Für die in Rede stehenden, der letzteren Kategorie
angehörenden Paare wird festgestellt, dass die Penis-
scheide je des aktiven Männchens in der „Kloake" (es
ist wohl der After gemeint, da eine Kloake, wie die Vögel
sie haben, bei Insekten nicht vorkommt) des passiven
Männchens steckte, dessen eigene Penisscheide, wie im
Ruhezustande, vollständig zurückgezogen im Leibe lag.
-de Kerville hält für wahrscheinlich, dass in der Ge-
fangenschaft der Prozentsatz der päderastischen Akte
grösser sei als in der Freiheit, also durch den Verlust
der vollen Freiheit eine Steigerung erfahre, und er glaubt,
die beiden von ihm geltend gemachten Arten der Päderastie
seien auch auf die höheren Tiere anwendbar. Mit seinen
durchaus ernst und sachlich gemeinten Darlegungen
scheint de Kerville vielfach Anstoss erregt zu haben
und entschiedenem Widerspruche begegnet zu sein; denn
er hat es für nötig erachtet, mündlichen und schriftlichen
Einwürfen gegen seine Auffassung in einer kleinen, in
demselben Jahre (1896) veröffentlichten Broschüre (Ob-
servations etc.) entgegenzutreten; er sucht darin die Be-
zeichnung „Päderastie* als für die Geschlechtsakte
zwischen männlichen Käfern anwendbar, unter Verweisung
auf Moll, zu rechtfertigen und erklärt das Vorkommen
der „Päderastie durch Not" in der Tierwelt für ebenso
sicher ausgemacht, wie beim Menschen, giebt aber zu,
-dass die Annahme der „Päderastie durch Wahlbevorzu-
gung • für die Tiere zur Zeit nur den Wert einer Hypo-
these habe — (10. Fall).
— 145 —
Junikäfer (Rhizotrogus solstitialis). Eine Anzahl
männlicher Rhizotrogus solstitialis, welche der Begattungs-
trieb veranlasst habe, den eigenen Samenleiter in den
eines anderen Männchens einzudrängen und so dieses an
der Befruchtung des als dritte Person anwesenden Weib-
chens zu verhindern, legte Kolbe der zoologischen Sektion
des westfälischen Provinzial- Vereins für Wissenschaft
und Kunst zu Münster in Westfalen in der Sitzung vom
12. Juli 1877 vor. Die Paare stammten von einem Rasen-
platze am Ufer der Ems, auf dem Wege von Greven
nach Schöneflieth und es wird (S. 21) angegeben, dass
der Junikäfer bei Münster selbst nicht vorkomme.
Weichkäfer (Malacodermata). Auf den Citronen-
feldern im Osten und Westen der Stadt Menton fand
Peragallo in den Jahren 1862 und 1863 im Ganzen
12 kopulierende Paare von Männchen zweier Weichkäfer-
arten, als deren aktiver Teil stets die Thelephoride Rha-
gonycha melanura, als deren passiver Teil ebenso regel-
mässig die Lampyride Luciola lusitanica sich erwies; diese
Paare wurden bald am Boden, bald auf niederen Pflanzen
und zwar an verschiedenen Orten und Tagen, gegen 10 Uhr
abends, nur selten früher gesehen; ihr Koitus wird als
dermassen innig und als so voller Hingebung bezeichnet,
dass Peragallo solchen Paaren mehrere Stunden lang zu-
schauen konnte, ohne eine Orteveränderung der Tiere
wahrzunehmen; eine solche Unbeweglichkeit sei aber im
höchsten Grade erstaunlich für ein so munteres Wesen
wie die Rhagonycha; und wie Peragallo positiv gewiss
sei über das Geschlecht der beiden Insekten und zwar,
dass dieses Geschlecht bei beiden ein und dasselbe sei,
so könne er den Vorgang nur durch aktive Unsittlichkeit
von Seiten der Rhagonycha und eine sträfliche Gefällig-
keit von Seiten der Luciola seinem Verständnisse nahe
bringen. Peragallo betont, er habe niemals die Männ-
chen dieser beiden Arten mit einem Weibchen je der
Jahrbuch II. 10
— 146 —
anderen Art in Begattung betroffen und er findet die
beobachteten Akte ungeheuerlich („monstrueux"). Er-
wähnt sei hier, dass der damalige Berichterstatter über
die wissenschaftlichen Leistungen im Gebiete der Ento-
mologie, Gerstaecker, ein sonst vielseitiger und sehr
gelehrter Mann, bei Besprechung der Arbeit Peragallo's
die Bemerkung nicht unterdrücken konnte: „dass hier
beide Individuen, wie Verf. anführt, Männchen gewesen
seien, ist kaum glaublich." v. d. OstenSacken dagegen
bemerkt, Rhagonycha scheine überhaupt von hitziger
Natur zu sein, da ein Rhagonycha melanura Männchen in
Begattung mit einem Schnellkäfer (Elater niger) und ei»
Rhagonycha rufa Weibchen in gleichzeitiger Begattung
mit zwei Männchen ihrer Art betroffen worden sind.
Schmetterlinge (Lepidoptera) :
Spinnerartige Nachtfalter (Bombycoidea).
Familie Seidenspinner (Bombycidae). In den
Seidenraupereien des jardin d'acclimatation im bois de
Bologne zu Paris wurden nach Boisduval und Guerin-
Mdneville öfters männliche Paare in Vereinigung ge-
sehen, „Männchen am Männchen aufgehängt und eine Be-
gattung erheuchelnd 14 (Ulrichs, S. ül).
Familie Nachtpfauenaugen (Saturniidae). Seitz
(S. 83(3) hat einmal Päderastie beim iMa gel fleck
(Aglia tau) festgestellt. Er setzte behufs Prüfung der
Fühlerfunktion ein frisch entwickeltes Weibchen des
Nagelflecks in einer isolierten Waldparzelle aus, in wel-
cher Männchen derselben Art zahlreich vorhanden waren.
Während nun Seitz Exstirpationsversuche bei einge-
fangenen Männchen vornahm, stellte ein intaktes Männchen
hartnäckige Versuche an, den verlegten Zugang zu dem
Versuchsweibchen zu erlangen, ruhete aber schliesslich
zwei Zentimeter vom Lockweibchen entfernt ermüdet aus.
Plötzlich stürmte ein zweites Männchen heran und kopu-
— 147 —
lierte mit dem ausruhenden Männchen ; der zur Kontrole
vorgenommenen Trennung des Paares wurde von beiden
Beteiligten starker mechanischer Widerstand geleistet.
Seitz giebt ausdrücklich an, er sei nicht einen Augen-
blick in Zweifel gewesen darüber, dass das Zusammen-
treffen der beiden Arome, des vom nahen Weibchen
ausgehenden Geschlechtsgeruches und des vom aus-
ruhenden Männchen stammenden spezifischen tau-Geruches,
das neu hinzugekommene aktiv-päderastische Männchen
„glauben machte, es befinde sich am Ziel seiner Wünsche."
v. Aigner-Abafi findet (was mir unverständlich ist)
diese Erklärung der merkwürdigen Erscheinung zutreffend
und weist die abweichende Auffassung de Kerville's
von der Päderastie bei den Insekten und den Tieren
überhaupt (vergk S. 144) als völlig ungenügend zurück.
Familie Glucken (Lasiocampidae). Um ein gewöhn-
liches Weibchen des Quitten Spinners (Lasiocampa
quercus) durch ein alpines Männchen befruchten zu lassen,
hatte G. L. Schulz in den Alpen an der Simplonstrasse
ein solches Weibchen in einem Gazebeutel ausgesetzt.
Nach einiger Zeit sah er den Holzstoss, an welchem der
Beutel hing, und auch den Beutel selbst von zahlreichen
Männchen umschwärmt und besetzt. Beim Verscheuchen
dieser Schwärme entdeckte der Beobachter drei männliche
Paare in Begattung.
Auch bei einem Tagfalter aus der Familie der
Ritter (Papilionidae) soll ein Fall von Päderastie vor-
gekommen sein, dessen Mitteilung alsdann von v. A i gner-
Abafi kritiklos übernommen wurde. Aus Turkestan hatte
nämlich Thiele ein Männchen eines Parnassiers, des
Parnassius Charltonius princeps, erhalten, das am Hinter-
leibseude eine Legetasche trug, während eine solche sonst
allein dem nicht mehr jungfräulichen Weibchen zukommt.
In Thiele's kurzer Bekanntmachung des seltenen Fundes
nun heisst es: „Da die Legetaschen von den Männchen
in- :
— 148 —
abgesondert werden, so ist hier also von einem Männchen
die Kopulation mit einem anderen Männchen versucht
worden. 1 * Direkte Beobachtung einer Kopulation des in
Rede stehenden Männchens mit einem anderen Männchen
liegt demnach hier nicht vor, es wird nur wegen An-
wesenheit der Legetasche auf eine solche geschlossen.
Dieser Schluss entbehrt aber jeglicher Denkfolgerichtig-
keit; denn wenn das Männchen die Legetasche ab-
sondert, so ist durchaus nicht zu verstehen, warum zum
Behufe der Absonderung derselben gerade in diesem Falle
die Kopulation mit einem anderen Männchen erforder-
lich gewesen sein soll; es könnte sich ja alsdann um die
von ihm selbst beim normalen Koitus mit einem Weibchen
abgesonderte Legetasche handeln, welche, statt am Leibe
des befruchteten Weibchens, ausnahmsweise einmal am
Leibe des Männchens haften geblieben wäre. Aber auch
die Prämisse stellt sich als eine unerwiesene und höchst
unglaubwürdige Voraussetzung dar. Thomson meldete
zwar bei Elwes (1886) von einer zurückziehbaren
Membran des Männchens, durch deren Hervor-
stülpung die For m der während des Koitus entstehenden
und sich ausbildenden Legetasche des Weibchens bedingt
werde; jedoch den Beweis der Urheberschaft dieser
Tasche durch das Männchen ist er schuldig geblieben.
Und eine einfache Ueberlegung unter Berücksichtigung
des Baues der Geschlechtsorgane bei den Schmetterlingen
führt ungezwungen zu der Annahme, das einzig das
Weibchen das Material zu seiner Legetasche liefern kann.
Der weibliche Schmetterling besitzt am freien, distalen
Hinterleibsende unterhalb des Afters zweiGeschlechts-
öffnungen, von denen die eine in die Begattungs-
tasche führt und lediglich zum Einbringen des Penis
bestimmt ist, wogegen die andere dem Austreten der
Eier dient; findet nun eine normale Begattung statt, so
hat das Männchen, mit seinem Penis in der Begattungs-
— 149 —
tasche des Weibchens steckend, ausser seiner Afteröffnung
keine andere Oeffnung mehr disponibel, aus welcher es
eine durch Erhärtung zur Legetasche werdende Flüssig-
keit könnte hervortreten lassen; das Weibchen dagegen
verfügt in der gleichen Lage noch über die freie Aus-
führungsöffnung seines Eileiters, in dessen Lumen
verschiedene Drüsen ihre Sekrete ergiessen. Im Eileiter
des Weibchens muss demnach theoretisch der Ursprung
des Materials der Legetasche zu suchen sein. Thiele's
hochinteressante Beobachtung gehört demnach nicht in das
Kapitel Päderastie. Thiele selbst, von mir um ge-
fällige Aufklärung gebeten, lehnte jede Verantwortung
für die oben in „ Ä gesetzte Deut un g seiner Mitteilung
ab und übertrug sie auf den Redakteur der Sitzungsberichte
W. Dönitz.
Zweiflügler (Diptera). Den einzigen mir bekannt
gewordenen Fall eines uranischen Fliegenraännchens bringt
Stein. Derselbe beobachtete im Sommer 1893 ein männ-
liches Exemplar der gemeinen (grösseren) Stubenfliege
(Musca domestica, aus der Familie Muscidae), welches
fünfmal hintereinander ein am Fenster sitzendes Männ-
chen der kleinen Stubenfliege (Homalomyia canicularis,
aus der Familie Anthomyidae) zu begatten suchte; letzteres
habe sich mit offenbarem Behagen die wiederholt an-
gestellten Kopulationsversuche gefallen lassen.
Spinnentiere (Arachnoidea)
Uranische Akte sind in dieser Tierklasse nur bei den
echten Spinnen (Araneina) und auch nur ein einziges Mal
erwähnt worden, von van H asscl t bei Linyphia clathrata.
Zwei männliche Paare dieser Netzspinne traf van Hasselt
friedlich in einem Gewebe zusammenlebend an; sie trieben
mit den Tastern (ihren Begattungswerkzeugen) und den
Beinen wiederholt Vorspiele der Begattung, ohne doch
den Koitus zu vollziehen.
*
— 150 —
Wenn besondere Umstände oder Einzelheiten eines
Falles von Päderastie oder Tribadie bei Tieren mir be-
langreich genug erschienen, habe ich in der hier ge-
gebenen Kasuistik darauf Gewicht gelegt, diese Verhält-
nisse so ausführlich wie möglich wieder zu geben, damit
ein fester Boden für eine allgemeine Beurteilung der
ungleichwertigen Thatsachen gewonnen werden könne;
denn wissenschaftlicher Wert darf nur einer solchen
Kasuistik zugestanden werden, welche durch Ausscheidung
des rein Accidentellen das Wesentliche desto deutlicher
hervortreten lässt. Dieser Zweck erklärt zur Genüge die
so sehr ungleiche Behandlung der zahlreichen Einzelfälle.
Es liegen zur Zeit nur zwei Arbeiten vor, deren aus-
gesprochener Hauptzweck es war, die zahlreichen bei
Tieren zur Beobachtung gekommenen päderastischen und
tribadischen Geschlechtsakte von einem ganz allgemeinen
Standpunkte aus zu deuten, um den Weg zu zeigen, den
die Forschung mit Aussicht auf Erfolg in Zukunft ein-
schlagen muss, nämlich die kurze, auf sexuelle Perver-
sionen unter Tieren beschränkte Abhandlung von F£r£
und das sehr umfangreiche, die libido sexualis überhaupt
behandelnde Werk von Moll. Beiden Autoren kommt
es zu Statten, dass ihnen die Erscheinungen der Päderastie
und Tribadie dureh eigene anthropologische Forschungen
und Erfahrungen bereits hinlänglich bekannt waren, bevor
sie die analogen Vorgänge in der Tierwelt in den Bereich
ihrer Studien einbezogen. Um so interessanter ist es,
dass F£r£ und Moll demungeachtet nicht in allen wesent-
lichen Fragen auf demselben Standpunkte stehen. Für
F£r£ giebt es einen auf das gleiche Geschlecht gerichteten
Geschlechtstrieb, eine angeborene gleichgeschlechtliche
Liebe, deren Vorkommen für den Menschen von ihm
als Thatsache zugestanden wird, beim Tiere nicht; die
tierischen sexuellen Anomalien sind für ihn ausschliesslich
zufällig und angenommen, weil sie lj nur beim Fehlen
dos anderen Geschlechtes dauernd zu Stande kommen
— 151 —
und anomale Geschlechtsakte bei einem Tiere normale
Akte nicht ausschliessen; 2) weil bei Ausübung z. B. der
Päderastie bei Tieren die Geschlechtsorgane des passiven
Männchens nicht mit im Spiele sind, es vielmehr ledig-
lich um Befriedigung eines ungestümen blinden Kopu-
lationstriebes sich handelt. Von allen den zahlreichen hier
aufgeführten Fällen sexueller Beziehungen zwischen gleich-
geschlechtigen Tieren ist nun in der That nicht ein ein-
ziger geeignet, gegen F£r<?s Auffassung geltend gemacht
zu werden. Indessen ist zu bemerken, dass die Forschungen
über sexuelle Akte bei Tieren sich fast auf eine blosse
Statistik beschränken, dass in allen beobachteten Fällen
rein päderastischer oder rein tribadischer Natur die fort-
gesetzte Beobachtung, ob eine ausschliessliche oder vor-
wiegende individuelle Neigung zu bestimmten Akten vor-
liegen könne, niemals angestellt wurde und das Experiment
auf diesem Gebiete noch völlig ausgeschlossen blieb.
Seinem Standpunkte entsprechend will F£r6 de Ker-
ville's scharfe Unterscheidung einer Päderastie durch
Not und einer solchen durch Wahlbevorzugung bei Tieren
durchaus nicht gelten lassen; es schienen zwar bei ober-
flächlicher Betrachtung Männchen, welche im Beisein von
Weibchen sich mit Männchen kopulierten, eine Wahl zu
treffen, allein es fehle gänzlich der Nachweis dafür, dass
hier wirklich eine Wahl getroffen werde ; gerade bei In-
sekten sei dieses im höchsten Grade unwahrscheinlich;
man wisse, dass die Geschlechtsgerüche der Insekten von
anderen Individuen aus weiter Entfernung wahrgenommen
würden und dass wahrscheinlich eben diese Gerüche den
stärksten Reiz bei der geschlechtlichen Erregung der In-
sekten hervorriefen; habe nun z. B. ein Maikäfermänn-
chen eben eine Begattung mit einem Weibchen vollzogen,
so hafte ihm von der innigen Gemeinschaft mit diesem
notwendigerweise noch so viel weiblichen Geschlechts-
geruches an, dass dieses vollkommen genüge, ein anderes
Männchen zur Begattung anzulocken; andererseits sei es
— 152 —
von dem vollzogenen Koitus halbtot vor Entkräftung
und unfähig, dem Ungestüm eines zudringlichen Männ-
chens Widerstand entgegenzusetzen; es lasse sich, so zu
sagen, den Irrtum gefallen und verhalte sich j wie ein
durch einen Parasiten geschwächtes männliches Tier, das
aller Männlichkeit verlustig ging. Auch beweise die von
Laboulbfene vorgenommene Sektion eines im Koitus
passiven Maikäfermännchens, es hätte bei diesem Falle nicht
eigentlich Päderastie vorgelegen, da das aktive Männchen
sein Begattungsglied nicht in den After des passiven Männ-
chens, sondern in die durch Zurückziehung von dessen
Glied frei gewordene Höhle der Penisscheide seines Opfers
eingeführt habe. F£r£ findet auch die Logik de Ker-
ville's höchst sonderbar, nach welcher Peraga Ho den
Nachweis der Päderastie durch Wablbevorzugung bei den
Männchen von Rbagonycha und Luciola zwar schuldig
blieb, dieser Nachweis aber gleichwohl wenigstens für
Rbagonycha nach seiner Darstellung leicht zu erbringen sei,
indem nämlich die aktive männliche Rbagonycha, wenn auch
vielleicht nicht Weibchen ihrer eigenen Art, so doch solche
derjenigen Art, mit welcher sie Päderastie getrieben, an ihren
Aufenthaltsorten im Ueberflusse zur Verfügung hatte. F6r&
gelangt nun zu dem Schlüsse, dass, angenommen, es gäbe
wirklich einmal ein Tier mit angeboren gleichgeschlecht-
lichem Begattungstriebe, dieses doch von seinen Art-
genossen völlig isoliert und befehdet werden würde, und
dass es seine Geschlechtsnatur nicht würde vererben
können, da kein Motiv es zu veranlassen vermöchte, diesen
ihm angeborenen Trieb zu unterdrücken und eine seiner
Natur widerstrebende normale Begattung zu versuchen;
da ferner bei vorliegenden funktionellen Anomalien auch
gleichzeitiges Vorkommen anatomischer Anomalien ange-
nommen werden müsse und diese erblich wären und sich
durch Vererbung steigerten, so sei allen sexuell pervers
Geborenen zu raten, sich des Fortpflanzungsgeschäftes
völlig zu enthalten.
— 153 —
Es mag hier bemerkt werden, dass de Kerville's
Vorstellung sich vollkommen mit der von U lrichs deckt r
welcher (8. 91) aber nicht allein das aktive Maikäfer-
männchen für einen Urning erklärte, sondern auch das
passive; er sagt, in völliger Uebereinstimmung mit den
Thatsachen, der weibliche Maikäfer sei grösser und dicker
als der männliche; und da auf Grund von vier überein-
stimmenden Fällen das aktive Männchen männlich, das
passive Männchen aber weibähnlich gebaut war, so fasst
er die passiven Männchen als vermutliche Weiblinge, die
aktiven als Mannlinge auf und sieht die ganze Erscheinung
als auf reinem Urningtum (p£d£rastie par goüt) beruhend an.
In scharfem Gegensatze zu F£r6 zeigt sich Moll
einer von Fall zu Fall verschiedenen Beurteilung der
einschlägigen Erscheinungen geneigt. Er trennt homo-
sexuelle Akte scharf von Homosexualität; von ersteren.
würde danach die p£d£rastie par necessitä, von letzterer
die pdd^rastie par goüt einen Bestandteil bilden. Moll
nimmt an, die für die Fortpflanzung notwendigen Organe
und Funktionen entwickelten sich gewöhnlich in Har-
monie mit den Keimdrüsen, derart, dass mit den Hoden
die männlichen äusseren Begattungsorgane und der Trieb
zum weiblichen Geschlechte, mit den Eierstöcken auch
die weiblichen äusseren Geschlechtsorgane und der Trieb
zum männlichen Geschlechte sich ausbilden; er nennt
diesen Vorgang nach Josef Müller „Vinkulierung"
passender Geschlechtscbaraktere. Diese Vinkulierung kann,
vollkommen oder aber mangelhaft ausfallen; in beiden.
Fällen ist das Endergebnis nach Moll vererbbar. Voraus-
gesetzt, es käme die beim Menschen nachgewiesene an-
geborene gleichgeschlechtliche Liebe auch bei Tieren vor,,
so besteht doch bei Mensch und Tier bezüglich der Ver-
erbungswahrscheinlichkeit nach Moll ein sehr erheblicher
Unterschied: beim Menschen liegt die Gefahr der Ver-
erbung dieses Triebes beständig vor, indem männlw-lie-
und weibliche Uranier aus vielfachen Ursachen, aus Un-
— 154 —
kenntnis, aus egoistischen oder (bei den Chinesen) religi-
ösen oder anderen Motiven für Nachkommenschaft Sorge
tragen; bei den Tieren dagegen ist sie fast oder völlig
ausgeschlossen. In letzterem Umstände findet Moll eine
Erklärung des bei Tieren seltenen Vorkommens der nach
ihm nicht unwahrscheinlichen, von Flre* gänzlich ge-
leugneten, angeborenen Homosexualität
Moll's Werk, die Lebensarbeit eines praktischen
Arztes, bildet den Ausgangspunkt für eine neue Wissen-
schaft, an welche von den berufenen Gelehrten, den
Professoren der verwandten Forschungszweige, den Anthro-
pologen, den Physiologen und den Psychologen nicht
gerne gerührt wird; es ist bequemer, auch in einer Zeit,
der mit vollen Backen die Herrschaft der Wissenschaft
nachgerühmt zu werden pflegt, eigener oder fremder Un-
kenntnis und den Vorurteilen und der Prüderie der Menge,
zum Schaden des Fortschritts, die Auffassung aller heiklen
Dinge anzupassen. Scheitlin (II, S. 292) hat es schon
verstanden, den Inhalt dieser neuen Wissenschaft mit
allen ihren noch ungehobenen Schätzen an Erkenntnis mit
wenigen Worten zu charakterisieren: „Alle Männer, die
<etwas Weibliches, Weibartiges, Mädchenhaftes an ihrem
Körper haben, haben auch etwas dieser Art in ihrer
Seele und umgekehrt. 14
Diese Arbeit aber, von deren Unvollkommenheit,
nach jeder Richtung hin, ich überzeugt bin, glaube ich
nicht besser beschließen zu können, als mit dem Aus-
spruche Benkert's (Das Gemeinschädliche des § 143
des preussischen Strafgesetzbuches vom 14. April 1851
und daher seine notwendige Tilgung als § 152 im Ent-
würfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen
Bund, Leipzig, Serbe, 1869, S. 19) «... der auf eigenen
Füssen stehende Sexualogist muss noch erst geboren
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J. G. Trassier. 1785. 12. Band. Brünn, Trassier, 1789.
de Buffon, George Louis Leclerc, Histoire naturelle, g£n£rale
et particulifere, avec la description du Cabinet du Roi.
Oiseaux. 9 Vol. Paris 1770—1783. Citiert nach
der deutschen Ausgabe: Herrn von Buffons Natur-
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Scheitlin, P., Versuch einer vollständigen Tierseelenkunde.
1. Band 1840. VIII und 488 pg. — 2. Band 1840.
IV und 446 pg. Stuttgart und Tübingen, Cotta. 8 Ü .
Schulz, G. L., Copula zwischen männlichen Insekten im
Freien, in: Berliner Entomologische Zeitschrift, 44.
Band, 1899, Sitzungsberichte für das Jahr 1898, p. 27.
»Seitz, Adalb., Allgemeine Biologie der Schmetterlinge.
III. Teil. Fortpflanzung, in: Zoologische Jahrbücher
(Spengel), Abteilung Systematik, Geographie und
Biologie, 7. Band, 1893—94. Jena, 1894. p. 823—851.
Stein, Paul, Die Anthomyidengruppe Homalomyia nebst
deren Gattungen und Arten. Berliner Entomologische
Zeitschrift, 40. Band, 1895, p. 1—141.
> Sunde vall, Carl J., Die Tierarten des Aristoteles von den
Klassen der Säugetiere, Vögel, Reptilien und Insekten.
Uebersetzung aus dem Schwedischen. Stockholm,
Samson & Wallin, 1863.
Thiele, H., ein männlicher Parnassius Charltonius prin-
ceps mit Legetasche, in: Berliner Entomologische
Zeitschrift, 44. Band, 1899, Sitzungsberichte für das
Jahr 1898, p. 27.
Ulrichs, Karl Heinrich (Numa Numantius), „Critische
Pfeile". Denkschrift über die Bestrafung der Ur-
ningsliebe. An die Gesetzgeber. Numa Numantius
Buch XII. Stuttgart 1879. VIII und 96 pg. in 8°.
(p. 22—23 § 37; p. 90-91 § 124.)
Willughby, Francis, Ornithologiae libri tres: in quibus
Aves omnes hactenus cognitae, in methodum naturis
suis convenientem redactae, accurate describuntur :
descriptiones iconibus elegantissimis et vivarum avium
simillimis, aeri incisis illustrantur. Totum opus re-
cognovit, digessit, supplevit Joannes Raius. Londini,
1676. Fol. 307 pg., 77 tabulae. (p. 120 § VI; p. 122
§ VIII.)
Urteile römisch-katholischer Priester
über die Stellung* des Christentums
zur staatl. Bestrafung der gleichgeschlechtlichen liebe«
Im Xovember 1S99 versandte das wissenschaftlich-
humanitäre Komitee den folgenden Fragebogen an die
katholische Geistlichkeit von Bayern, Baden, einem Teil
der Rheinlande und in vereinzelten Exemplaren darüber
hinaus :
Charlottenburg, im November 1899.
Hochwürdiger Herr!
Wenn unser Komitee, von den lautersten Motiven
geleitet, mit folgender Angelegenheit an Euer Hochwürden
herantritt, so geschieht es, um Alle, die in dieser bedeut-
samen Frage mitzusprechen berufen sind, zu Worte
kommen zu lassen. Die ganz besonderen Erfahrungen,
welche der katholischen Geistlichkeit zu Gebote stehen,
ihr hoher sittlicher Ernst, das pfiichtmässige Interesse,
welches sie dem Gegenstande widmen muss, weisen ihr
für die Beurteilung dieser Materie eine der ersten
Stellen an.
Es ist Euer Hochwürden bekannt, dass der Staat»
während er der öffentlichen Unsittlichkeit im allgemeinen
nahezu unthätig gegenübersteht, sodass beispielshalber
Jahrbuch II. U
— 162 —
die kaum der Schule entwachsenen jungen Mädchen fast
schutzlos der Verführung preisgegeben sind, in einem
Falle mit grösster Strenge und Härte verfährt, nämlich
dann, wenn ein homosexueller Akt vorliegt, eine sexuelle
Handlung zwischen erwachsenen Personen männlichen
Geschlechts. Da steht der Staat nicht an, einen Mann
der vielleicht durch Jahre hindurch unter dem grössten
Aufgebot seiner Kräfte den ihm durch seine Natur auf-
erlegten Kampf gekämpft und sich Zeit seines Lebens
tadellos geführt- hat, um der Schwäche willen, mit der
er in einem unglücklichen Augenblick ein einziges Mal
unterlag, allen Schrecken einer öffentlichen schimpflichen
Brandmarkung auszusetzen, ihn einzukerkern und für
seine ganze Zukunft zu Grunde zu richten.
Sehr richtig schrieb daher ein Mitglied des hoch-
würdigsten deutschen Episcopats dem unterzeichneten
Komitee, dass vom Gesichtspunkt der Konsequenz die
Beseitigung des hier in Frage kommenden Gesetzes (§ 175
R.-Str.-G.-B.) mit Recht gefordert werden dürfe.
Ja, hört man da von vielen Seiten einwenden, da
haben wir es doch mit einem Verbrechen wider die Natur
zu thun. Was heisst das ? Das soll heissen, dass es keine
Inclination zum eigenen Geschlecht geben kann, welche
ebenso wie die zum andern einen natürlichen Ausfluss
der physischen Anlage, der konstitutionellen Beschaffen-
heit, kurz der subjektiven Individualität des Einzelnen
darstellt. Das soll heissen, dass Jedermann, der homo-
sexuell empfindet, diese homosexuelle Empfindung durch
die Masslosigkeit seiner Ausschweifungen, durch boden-
lose Verkommenheit, durch Verleugnung seiner eigenen
Natur sich künstlich angezüchtet habe. Ist nun dieser
furchtbare Vorwurf auch wahr, entspricht er den That-
sachen und der Wirklichkeit? Er ist, wie die tägliche
Selbsterfahruug von Tausenden lehrt und wie die von
den ersten Männern der neueren Wissenschaft angestellten
— 103 —
Untersuchungen mit vollster Sicherheit ergeben haben,
ein fundamentaler Irrtum.
Angesichts dieser Erkenntnis haben sich bereits fast
sämtliche rein katholische Kulturländer (auch Bayern und
Württemberg bis zur Gründung des Deutschen Reichs)
mit Ausnahme von Oesterreich-Ungarn, welches sich auch
in dieser Richtung gesetzgeberisch nach Preussen gerichtet
hat, entschlossen, das auf einem error legislatofis aufgebaute
Gesetz abzuschaffen, welches in Deutschland durch den
§ 175 R.-Str.-G.-B. vertreten ist und das die häufigste
Ursache „der Selbstmorde aus unbekannten Gründen"
darstellt und ein in seiner Art einzig dastehendes Er-
pressertum gezüchtet hat. Angesichts dessen hat sich
auch auf deutschem Boden das Unterzeichnete Komitee
gebildet, welches, uuterstützt von den Besten der Nation
den Kampf für die Ehre dieser bedauernswerten Parias
der Gesellschaft aufgenommen hat. Es fordert, dass frei-
willige sexuelle Akte zwischen erwachsenen Personen des-
selben Geschlechts gerichtlich nicht bestraft werden sollen,
es fordert Gleichheit vor dem Gesetz, es fordert die Be-
seitigung eines Paragraphen, dessen Bestand an sich jeden
homosexuell Geborenen, auch den sittlich tadellosesten
erniedrigt, indem er für ihn in seinen eigenen Augen eine
unausgesetzte Beschuldigung und Beschimpfung bildet.
Es geht dabei von dem Gedanken aus, dass Niemand
von dem Anspruch auf Gerechtigkeit, auf volle
Würdigung des ganzen Komplexes objektiver Thatsachen,
aus denen sich seine Natur zusammensetzt, ausgeschlossen
sein darf, Niemand, auch der Homosexuelle nicht; es
will ein schweres, nicht mehr länger erträgliches Unrecht
aus der Welt schaffen. Damit glaubt es auch am besten
der Sittlichkeit zu dienen, welcher die Anerkennung der
realen Thatsachen nie zum Schaden, sondern nur zum
Vorteil gereichen kann; die Wahrheit wird uns frei
machen.
11*
— 1G4
Von diesem Wunsche beseelt, erlauben wir uns fol-
gende Fragen zu unterbreiten:
I. Können Euer Hoch würden auf Grund Ihrer
pastoralen Erfahrungen bestätigen, dass es Men-
schen giebt, welchen von Natur aus kein anderer
als ein gleichgeschlechtlicher Trieb innewohnt,
und dass manche Menschen zwar auch vom an-
deren Geschlecht, im höheren Maasse aber vom
eigenen sich angezogen fühlen?
II. Können Euer Hochwürden bestätigen, dass die
homosexuelle Empfindung als solche mit dem
sittlichen Wert oder Unwert des Menschen in
keinem Zusammenhange steht?
III. Können Euer Hochwürden bestätigen, dass der
homosexuell angelegte Mensch mit seiner Natur
einen oft noch härteren, zum mindesten aber
keinen leichteren Kampf zu bestehen hat, als er
im Durchschnitt dem Heterosexuellen auferlegt zu
sein pflegt?
Um die Beantwortung dieser Fragen, welche der
Gewissenhaftigkeit, womit das Komitee die Angelegenheit
betreibt, sicher das ehrenvollste Zeugnis ausstellen, wird
inständigst ersucht. Schon für ein blosses „Ja* oder
„Nein* ad I. II. und III. würden wir ausserordentlich
dankbar sein. Denn wenn wir auch beim katholischen
Priester mit Rücksicht auf seinen Beruf und die hohe
Bedeutung des Gegenstandes Gleichgültigkeit dieser Frage
gegenüber nicht voraussetzen wollen und dürfen und eine
Nichtbeantwortung daher wohl nur als Bejahung auffassen
können, so würde eine ausdrückliche Erklärung doch
einen ungleich höheren Wert für uns besitzen, als eine
bloss stillschweigende Beistimmung. Wir ermangeln nicht,
den hochwürdigen Geras auf die Petition an die legis-
lativen Körperschaften des Deutschen Reichs hinzuweisen,
welche von ca. 1000 hervorragenden Vertretern der
— 165 —
Wissenschaft und Kunst, darunter zahlreichen Juristen,
Geistlichen und Aerzten unterzeichnet wurde, sowie auf
die grosse einschlägige Litteratur, von deren neueren Er-
scheinungen wir ein Verzeichnis beifügen.
Indem wir Euer Hoch würden die strengste Dis-
kretion zusichern, wekhe wir in diesem Gebiet ja so
viel auszuüben haben,
zeichnet im Namen des
Wissenschaftlich-humanitären Komitees
mit grösster Wertschätzung
Dr. med. Hirschfeld.
Was die eingelaufenen Antworten anlangt, so teilten
sich die Herren in vier Klassen.
Der erste Teil empfing irriger Weise den Eindruck,
unser Komitee wolle nicht blos § 175 des R.-Str.-G.-B.
sondern auch § 6 des Dekalogs abgeschafft; wissen. In-
folgedessen sprachen diese Herren über unsere Bestreb-
ungen ihre Missbilligung aus und bedienten sich dabei
mitunter äusserst leidenschaftlicher Formen und nicht
wiederzugebender Ausdrücke. Wir möchten bei dieser
Gelegenheit betonen, dass sich das wissenschaftlich-
humanitäre Komitee mit den verschiedenen Über die homo-
sexuelle Frage erschienenen Schriften nur insoweit
identifiziert, als dieselben den Charakter objektiver
naturwissenschaftlicher Darlegung tragen, nicht aber,
insoweit sie darüber hinausgehen. Denn wir kennen nur
das eine Ziel : Klarheit zu schaffen über den Homosexualis-
mus als Naturerscheinung und auf dem Gebiete der
Gesetzgebung die praktischen Konsequenzen un-
zweifelhafter Forschungsergebnisse anzustreben.
Ein zweiter und zwar der grösste Teil schwieg oder
antwortete ausweichend. Er konnte offenbar nicht ver-
neinen und mochte auch nicht bejahen, weil er vermutlich
zu Unrecht Konsequenzen irgend welcher Art fürchtete.
— 166 -
Ein dritter Teil jging auf die gestellten Fragen ein,
zeigte jedoch, dass ihm die wissenschaftliche Seite der
Materie völlig unbekannt war.
Eine vierte ansehnliche Gruppe endlich bestätigte
auf Grund ihrer pastoralen Erfahrungen, teils mit
blossem „ja" oder „affirmative", zum Teil in äusserst
wertvoller und denkwürdiger Weise, was von
naturwissenschaftlicher Seite über die Homosexualität fest-
gestellt ist.
Wir lassen eine Auswahl dieser Zuschriften folgen:
Erklärungen römisch-katholischer Priester.
I.
Insofern vorausgesetzt werden darf, dass die Aktion
des wissenschaftlich-humanitären Komitees in keiner Weise
der Unsittlichkeit Vorschub leisten, sondern ausschliesslich
nur ein vorhandenes Unrecht beseitigen will, bin ich gern
bereit, der an mich ergangenen Einladung zu folgen und
auf Grund meiner konfessionalen Erfahrungen die mir
unterbreiteten Fragen zu beantworten.
Ob ich als Beichtvater die Existenz des Homo-
eexualismus als einer objektiv gegebenen Thatsache
bestätigen könne? Das kann ich allerdings. Ich habe
tausend e von Beichten entgegengenommen, habe Männern
und Frauen, Greisen und Jünglingen, Landleuten und
Städtern, Menschen der obersten und der untersten Stände
ins Gewissen geschaut, so tief ins Gewissen geschaut,
dass ihr innerstes Leben, ihre innersten Empfindungen,
Kämpfe und Gefühle offen vor meinen Blicken lagen,
und ich muss den Satz unterschreiben: „Es ist eine Er-
scheinung, mit der wir uns, als einmal gegeben, abfinden
müssen, dass die fleischliche Liebe nicht exklusiv an das
entgegengesetzte Geschlecht gebunden ist. Wenn wir
auch die Gründe davon bisher nicht verstanden, so ist
— 1(57 —
doch ein Zweifel darüber ausgeschlossen, dass es eine
ansehnliche Zahl von Männern und Frauen giebt, die sich,
und zwar mit physischer Notwendigkeit, nicht vom andern,
sondern vom eigenen Geschlecht sexuell angezogen fühlen/
Was die bekannte Stelle im Brief des heiligen Paulus
an die Römer betrifft, welche damit in einem gewissen
Widerspruch steht, so ist ganz einfach zu bemerken, dass
die Bibel nicht Naturwissenschaft lehren will.
„Quis jubet sacros auctores ex physicorum principiis
loqui? Comraune8 illi aetatis suae opiniones sequuntur"
sagt Calmet. Und Dr. Bernhard Schäfer: „Irrtümer gegen
die exakte Wissenschaft sind in der heiligen Schrift nicht
nur möglich, sondern thatsächlich und wirklich." — „Wäre
es Gottes Absicht gewesen, die heiligen Schriften vor
jedem Irrtum in fachwissenschaftlichen Dingen zu be-
wahren, so hätte er auch dafür Sorge tragen müssen, dass
alle Zahlenfehler vermieden worden wären, was bekannt-
lich nicht geschehen ist.* — »Wir dürfen herzhaft an-
erkennen, dass die Verfasser der heiligen Bücher im All-
gemeinen in wissenschaftlichen Fragen ihrer Zeit durchaus
nicht vorangeeilt waren, sondern die Anschauungen ihrer
Mitwelt teilten, wenn dieselben auch irrig waren. Ja,
wir können noch weiter gehen und behaupten, dass die
heilige Schrift da, wo sie leicht die Wissenschaft hätte
fördern können, dies geradezu verschmäht* — w In natur-
wissenschaftlichen Fragen darf die heilige Schrift nicht
zu Beweisen herangezogen werden.* („Bibel und Wissen-
schaft*.) Aehnlich Kaulen, Schanz und die meisten nam-
hafteren Theologen der neueren Zeit. Die Lösung der
Schwierigkeit lautet darum sehr einfach: Insofern die in
Rede befindliche Stelle eine Bestätigung des christ-
lichen Sittencanons bildet und Antwort giebt auf
die Frage nach der Sündhaftigkeit homosexueller
Akte, trägt sie selbstverständlich den Charakter einer
dogmatisch verbindlichen Norm. Insofern jedoch in ihr
— 168 —
eine naturwissenschaftliche Doktrin zum Aus-
druck gelangt, gilt von ihr das soeben erwähnte Axiom:
Sie darf zum Beweis nicht herangezogen werden.* Da-
mit ist der Einwand erledigt und muss er erledigt sein.
Denn was wären im entgegengesetzten Fall die Kon-
sequenzen? Keine andern, als dass sich tausende vou
Menschen vor die Alternative gestellt sähen, entweder
sich selbst oder das Christentum zu verneinen! Eine
solche Auffassung charakterisiert sich aber doch wohl
deutlich genug als falsch und irrig.
In welchen Kreisen die meisten Homosexuellen an-
zutreffen seien? Das muss ich dahingestellt sein lassen.
Ich habe zwischen Hoch und Niedrig, zwischen Reich
und Arm, zwischen Landleuten und Städtern, zwischen
Gebildeten und Ungebildeten in dieser Beziehung einen
nennenswerten Unterschied nicht wahrzunehmen vermocht.
Ob ich vielleicht bestätigen könne, dass die gleich-
geschlechtliche Anlage meist in ebenso hohem und oft
in noch höherem Masse zur Bethätigung dränge als die
des gewöhnlichen Menschen? Ich muss leider bejahen
und will zum Beweis etliche Beispiele anführen, die mir,
wie bemerkt werden mag, zu veröffentlichen ausdrücklich
gestattet worden ist.
Ein etwa zwanzigjähriger Bursche kommt zur Beicht.
Er bekennt, dass er „Unkeuschheit getrieben*. — Mit
wem? „Mit einem Mann*. — Einmal oder öfters?
„Oefters." — Schlafen Sie mit diesem Mann in einem
Zimmer? — „Nein. Aber er ist im gleichen Haus und
kommt nachts * in meine Kammer/' — Geschieht das
schon lange? »Seit drei, vier Jahren." — Können Sie
das Haus nicht verlassen? „Nein.* — Diesem traurigen
Verhältnis müssen Sie ein Ende machen, junger Freund.
Sie müssen die sündhaften Zumutungen abweisen. Und
Sie müssen standhaft bleiben. Haben Sie es denn bisher
noch gar nicht versucht, Widerstand zu leisten? »Hie
— 1G9 —
und da, besonders zuerst, hab* ich es schon versuchte
Aber er giebt nicht nach. Er sagt, wenn man ihn«
köpfen oder hängen würde, könnte er's nicht
* lassen; er hat mich schon mit aufgehobenen.
Händen gebeten ■
Der zweite Fall bezieht sich auf einen älteren Bauers-
mann. Er ist verheiratet, Vater mehrerer erwachsenen«
Kinder, der in Rede befindlichen Leidenschaft ergeben
und auch etwas zum Trunk geneigt, sonst aber durchaus
bieder und rechtschaffen. Krank geworden, lässt er mich
rufen, um zu beichten. Er legt sein Bekenntnis ab und*
bemerkt im Verlauf desselben, dass er so viel von bösen*
Begierden geplagt sei. , Wissen Sie," fährt er fort, „ich
habe eine ,umgekehrte Natur* und die peinigt mich Tag
und Nacht. Sie glauben es nicht, was ich alter Mann
noch für Kämpfe durchmachen muss ..." — Seid Ihr
der Leidenschaft zum eigenen Geschlecht unterworfen?
„Ja, geistlicher Herr, und das ist eine böse Sucht;:
die kann aus dem Menschen einen Märtyrer
machen/ — Verursacht Euch das weibliche Geschlecht
keine Versuchungen? „Gar keine. Davon weiss ich
nichts und hab' ich mein Lebtag nichts gewusst." —
Dass Ihr aber dann doch geheiratet habt? „Das ist co
iu einer Art Verzweiflung geschehen. Ich hab' zu mir
selber gesagt: ,Mach's wie die anderen Leute, dann wirst
du auch sein wie die anderen Leute. Wirf dich inV
Wasser, dann wirst du wohl schwimmen lernen/ Und
so hab' ich geheiratet. Ausserdem hat mir das Weib ein
schönes Stück Geld ins Haus gebracht; ich bin aur
diese Weise ein reicher Bauer geworden. Aber an und
für sich wär* mir's nicht im Traum eingefallen, zu heiraten.
Ich hab' im Gegenteil vor der ganzen Sache einen inner-
lichen Ekel gehabt/ — Wie kommt es dann, dass Ihr
♦ trotzdem Vater geworden seid? „Da haben, geistlicher
Herr, die Gedanken mitgeholfen. Und viel mehr Kinder
— 170 —
-könnten ohnedies gar nicht da sein." — Habt Ihr mit
Mannsbildern viel gesündigt? „Viel, geistlicher Herr,
.sehr viel, von den jungen Jahren an bis in meine alten
Tage herauf. Seit meiner letzten Beicht ist allerdings
-kein böses Werk mehr vorgekommen. Ich bin seither
die meiste Zeit im Bett gewesen. Aber die Begierden
j)l agen mich, dass iclrTa£ und Nacht gepeinigt
bin. Schauen Sie, ich möchte gern dort am Fenster
liegen, aber wenn die jungen Burschen in die Fabrik
-oder von der Fabrik nach Hause gehen, würde ich sie
gerade vor Augen haben und da finge mir mein altes
Blut zu sieden an, dass ich es fast nicht aushalten
.könnte; darum hab' ich mir das Bett daherüber stellen
lassen. O, geistlicher Herr, Sie glauben nicht,
was ein solcher Mensch für ein Fegfeuer
•durchmachen muss "
Der dritte Fall betrifft, einen jüngeren Amtsbruder,
gegenwärtig Pfarrer, von Allen, die ihn kennen, geliebt
und verehrt. Sein reiches, ungewöhnliches Talent, sein
seltener Idealismus, seine ausgezeichnete Bildung, der
Adel seines ganzen Wesens Hessen ihn als Ausnahms-
menschen im besten Sinn des Wortes erscheinen; er
zählt zu den vornehmsten Charakteren und edelsten
Naturen, mit denen mich mein Lebensweg bis heute zu-
sammengeführt «hat.. Als ich eines Tages seine Beicht
entgegennahm, sprach er mir von den furchtbaren Kämpfen,
die er mit sich selber zu bestehen habe. Er war homo-
sexuell. »Der Gedanke an ein Weib, Ä sagte er, „ist mir
vollkommen fremd. Ich weiss davon nichts. Aber die
Leidenschaft, für mein eigenes Geschlecht, die mir schon
in den Studienjahren schwere Stunden bereitete,
macht imr -seit längerer Zeit das Leben zu einem völligen
Martyrium. Ich glaube mir das Zeugnis ausstellen zu
-dürfen, dass ich die Sorge für mein Seelenheil nichts
-Aveniger als leicht nehme und dass mir namentlich ein
— 171 -
eifriger Gebrauch der religiösen Gnadenmittel zum geistig«
Bedürfnis geworden ist. Trotzdem bin ich zuweilen fast
ratl os. Es giebt Stunden, wo sich die Leidenschaft zum
wilden, stürmischen Drang gestaltet und wo mich
aller Mut verlassen will. Ob ich in meinem Kampf
siegen oder unterliegen werde, weiss Gott; aber es will
mir oft scheinen, als ob ein Verhängnis über mir schwebte
und als ob ich einem Unglück entgegenginge/ Ich
•suchte sein geschwundenes Selbstvertrauen wieder zu be-
leben, ermunterte ihn zu doppelt intensiver Benützung
der religiösen Adjumente und gab ihm auch den Rat,
sich aller geistigen Getränke sowie aller Gewürze zu
enthalten, nicht mehr als notwendig allein zu bleiben
und jeden Tag angestrengte Bewegung zu machen. Mein
Rat wurde, soweit es die Verhältnisse gestatteten, aufs
Gewissenhafteste befolgt. Und der geplagte Mann* ging
sogar noch weiter: Er erlaubte sich, namentlich am Abend,
fast niemals mehr eine volle Sättigung und legte sich
auch sonst die verschiedensten Opfer auf. Allein es
zeigten sich keine nennenswerten Wirkungen ; der sexuelle
Trieb wurde im Gegenteil allmählich nur noch heftiger.
Der Arme musste sich, wie er mir mitteilte, im
Bette oft völlig winden und krümmen. Wenn er
sass, fühlte er den Drang, die Beine krampfhaft an einander
zu pressen, wenn er kniete oder stand, den Unterleib
wie im Schmerz hin und her zu wiegen. Der Anblick
eines hübschen Burschen brachte seine ganze Natur aus
dem Gleichgewicht und verursachte ihm wahre Folterqualen.
Unter diesen Umständen glaubte ich ihn an den
Arzt weisen zu sollen und so begab er sich, wenngleich
nur ungern und mit sehr geringem Vertrauen, zu einer
Konsultation in die nahe gelegene Stadt. Allein mit dem
Bescheid, den er hier bekam, war so gut wie nichts ge-
wonnen; er kehrte mit dem Bewusstsein, einen unnützen
Gang gemacht zu haben, wieder heim.
— 172 —
Zur nämlichen Zeit wurde ihm der Antrag gestellt,,
die Chefredaktion eines katholischen Tageblattes zu über-
nehmen. Mit Rücksicht auf seine ebenso gefährlichen
als qualvollen Verhältnisse lehnte er unverzüglich ab
und reiste kurz darauf nach H., wo er sich mit einem in
weitern Kreisen bekannten, durch Erfahrung und Gelehr-
samkeit ausgezeichneten Jesuiten besprach. Dieser empfahl
ihm zunächst einen energischen Gebrauch gewisser reli-
giöser Mittel, fand sich aber bald veranlasst, ihm einen
anderen Vorschlag zu machen. Er erklärte dem Be-
dauernswerten, dass ihn nach seiner Ansicht nur
ein operativer Eingriff den grossen Gefahren,,
worin er unablässig schwebe, entziehen und
von den fortgesetzten, für die Dauer unerträg-
lichen Plagen befreien könne. Der herbeigerufene
Hausarzt, der offenbar schon verständigt war, äusserte
sich im nämlichen Sinn und betonte, dass es sich um
keine Kastration, sondern um einen operativen Eingriff"
anderer Art handle. Allein der junge Mann schrak da-
vor zurück und bat sich Bedenkzeit aus. Er besprach sich
über die Angelegenheit mit zwei angesehenen Aerztcn
des Ortes, und beide rieten ihm entschieden davon»
ab; die Folge war, dass die Operation unterblieb.
Nun empfahl ihm der hochwürdige Jesuitenpater,,
sich säkularisieren zu lassen, und nachdem dies
geschehen, einen Beruf zu ergreifen, der seine ganze Auf-
merksamkeit und sein ganzes Interesse absorbierte, ihn
unausgesetzt in Thätigkeit erhielte und so zu sagen nicht
mehr an sich selber denken liesse. Er schrieb als Beicht-
vater sofort ein Gesuch und leitete dasselbe — tecto-
nomine — an die römische Pönitentiarie. Diese aber
entschied: „Neminem tentari posse supra vires* und ver-
weigerte die Dispens. Nun war guter Rat teuer. Der
geplagte Mann wendete sich, ohne lang zu überlegen
und in der Stimmung desjenigen, der doch nicht mehr
— 173 —
viel verlieren zu können glaubt, an einen durch sein
weites Gewissen nicht eben vorteilhaft bekannten Arzt.
„Befreien Sie mich von meiner Plage,* sagte er
ihm, ,,mag es auch gehen, wie es will. Ich heisse
schon im Voraus gut, was Sie mit mir beginnen.
Wenden Sie an, was Sie für wirksam halten".
Er wurde nun äusserlich und innerlich behandelt, mit
dem Erfolg, dass sich der übermächtige Drang wirklich
verlor, aber auch mit dem Erfolg, dass er seine Gesund-
heit einbüsste. Er behauptet, namentlich geistig schwer
gelitten zu haben, und wird an den Folgen wohl sein
Lebtag tragen müssen. — Die Adresse des hoch-
würdigen Jesuitenpaters, der auf Wunsch
seiner Siegelpf licht entbunden wird, steht zur
Verfügung.
Diese drei Beispiele mögen genügen.
Ob ich endlich bestätigen könne, dass die homo-
sexuelle Empfindung als solche keinen Schluss gestatte
auf den sittlichen Wert oder Unwert eines Menschen?
Das kann und muss ich bestätigen. Ja, ich muss sogar
bemerken, dass gerade auffällig ideal und vornehm ange-
legte Naturen sehr gern mit der in Rede befindlichen
Geschlechtsrichtung behaftet sind.
So viel zur Antwort auf die Fragen des wissen-
schaftlich-humanitären Komitees.
II.
In Erledigung der Anfragen des wissenschaftlich-
humanitären Komitees beehre ich mich mitzuteilen, dass
die Aktion zur Beseitigung des § 175 als durchaus be-
rechtigt anerkannt werden muss. Ich stehe seit Jahren
in der Seelsorge und kann bezeugen, dass es nicht wenig
Menschen giebt, denen von Natur aus die Leidenschaft
zum eigenen Geschlecht, und nur zum eigenen Geschlecht,
— 171 —
eingepflanzt ist. Desgleichen kann ich bezeugen, das»
eine noch grössere Zahl von Menschen, Männern sowohl
als Frauen, mannigfach abgestufte bisexuelle Anlagen
aufweist Diese homogene Empfindung trifft man in
allen Ständen, in den obersten wie in den niedrigsten,,
am meisten vielleicht unter dem Klerus. Die Heftigkeit,
mit welcher sie zur Bethätigung drängt, ist selbstverständ-
lich verschieden. Sie kann gemässigt und in schwächeren
Formen auftreten, sie kann aber auch den Charakter
eines elemeutaren Dranges annehmen. Einen Schluss auf
den sittlichen Wert des Menschen gestattet sie nicht.
Angesichts desseu mögen es sich die christlichen.
Parteien des Reichstags wohl überlegen, den § 175 noch
weiter aufrecht zu erhalten! Namentlich mögen sie
es wohl überlegen, diesen Paragraphen auf-
recht zu erhalten unter Berufung auf Religion,
und Christenthum!
Der Homosexuelle ist für die Gefühlsanlage, welchc-
ihm der Schöpfer verliehen hat, ebenso wenig verant-
wortlich als ein anderer Mensch für die seine. Er hat
sich den Trieb zum eigenen Geschlecht nicht gegeben
und kann ihn sich auch nicht nehmen.
Die Heftigkeit, mit welcher seine Natur Befriedigung-
heischt» geht oft weit über das gewöhnliche Mass und
verursacht ihm zuweilen völlige Qualen.
Selten oder nie hört er ein Wort liebevoller Mahnung,.
Warnung und Ermunterung, das seiner individuellen
Eigenart, seinen moralischen Bedürfnissen, seinen Ge-
fahren und Versuchungen angepasst wäre.
Rings um sich sieht er Tag für Tag, wie alle Welt
dem Götzen des Fleisches huldigt und „Lieben* mit
„Leben* identifiziert.
Eine Aussicht endlich, sich jemals rechtmässig be-
friedigen zu können, giebt es für ihn nicht.
— . 175 -
Mau erwäge die sittliche Tragik einer solchen LageT
Man erwäge, wie notwendig ein solcher Mensch besonderer-
Liebe, besonderer Rücksicht, Geduld und Milde bedarf,
wenn er, nachdem ihn seine Schwäche zum Fall gebracht,,
sich innerlich wieder erheben, wenn er neues Vertrauen
fassen, wenn er nicht schliesslich, entmutigt und verbittert
zugleich, erst recht verwahrlosen soll! Unter diesen*
Umständen nun den Heterosexuellen, wie masslos und
wie cynisch er auch der Unzucht fröhnen mag, vollkommen
straflos lassen, den Homosexuellen dagegen schon um eines
einzigen Fehltritts willen als Verbrecher behandeln, ihn vor
Gericht schleppen und ins Zuchthaus sperren, ihn der-
Schande preisgeben und gesellschaftlich zu Grunde
richten, das wird man doch wohl als eine Verirrung der-
Justiz bezeichnen müasen.
Um so mehr als damit, wie bereits angedeutet, auch
für die Sittlichkeit nichts gewonnen ist. Der Sittlichkeit
dienen wir dann, wenn wir uns bemühen, die Menschheit
mit den ewigen Wahrheiten des Glaubens zu durch-
dringen, sie mit dem Geist der Gottesfurcht zu erfüllen
und ihr echte, lebendige Religiosität einzupflanzen; aber-
nicht mit Strafgesetzen, wie § 175 eines ist! Dadurch
kann man unter Umständen weit eher entgegengesetzte
Wirkungen erzielen: Verzweiflung an der menschlichen*
Gerechtigkeit, Erbitterung gegen staatliche und kirchliche
Ordnung,antireligiöse und antimoralische Umsturzgedanken.
Wer nicht aus Gewissensgründen entsagt und verzichtet,,
wird einen solchen Trieb niemals unbefriedigt lassen, um
so weniger, als er Gelegenheiten im Durchschnitt zur-
Genüge findet und von hunderttausend Fällen vielleicht
einer vor den Strafrichter gelangt. Freilich, wenn man
glaubt, die homosexuelle Empfindung eines Menschen
führe sich auf dessen freien Willen zurück, dann mag
man solche Mittel für wirksam halten! Wenn man
von den realen Verhältnissen keine Kenntnis-
— 176 —
-besitzt! Dann ja. Allein am wirklichen Stand der
Dinge ist damit nichts geändert
Man erwäge ferner wohl, ob es klug und ratsam sei,
eine Agitation zu veranlassen, wie sie der längere Bestand
•des §175 ganz notwendig zur Folge haben muss. Die
Anstrengungen zur Befreiung der Homosexuellen werden
sich bis zur äussersten Intensität steigern, die Literatur
«Uber konträre Geschlechtsrichtung wird unablässig wachsen
und ihren Weg in die weitesten Kreise finden, die pein-
lichsten Erörterungen werden sich immer mehr auf die
'Tagesordnung der akademisch und populär wissenschaft-
lichen Diskussion drängen. Man wird im Schutt der
Geschichte nachgraben und gewisse Dinge an den Tag
fördern, die viel besser mit Vergessenheit bedeckt blieben
man wird die homosexuellen Schwachheiten von Päpsten,
Bischöfen und Priestern ans Licht rücken, man wird zu-
Jetzt Enthüllungen aus der unmittelbaren Gegenwart
machen und vielleicht Männer blossstellen, deren In-
famation ein allgemeines, öffentliches Aergernis bedeutet.
Alle Mittel, die zur Beseitigung des Paragraphen er-
forderliche Stimmung zu schaffen, werden versucht, alle
Kräfte im Kampf gegen ein Strafgesetz,- das man als
schreiendes Unrecht und als furchtbare Beschimpfung
-empfindet, aufgeboten werden. Kann eine solche Agitation
-dem sittlichen Empfinden des Volkes zum Vorteil ge-
reichen ?
Endlichdarfnichtvergessen werden, dass sich gegenwär-
tig, gerade durch den Druck des § 175 veranlasst, innerhalb
-ausgedehnter homosexueller Kreise eine Art von Organisation
vollzieht. Was nun dann, wenn eines Tages von irgend
welcher Seite in diesen Haufen ein antichristliches, anti-
religiöses Losungswort hineingeworfen wird ? Was dann,
wenn man sagt: „Das Christentum hat für homosexuell
Veranlagte keinen Platz. Es weiss sie nur zu schmähen
-und zu beschimpfen. Es verneint ihre mächtigsten, inten-
— 177 —
sivsten Gefühle und will sie demgemäss durch ein eigenes
Oesetz als entartete Individuen, als Frevler an der Natur
und übersättigte Wüstlinge gebrandmarkt sehen? • Was
-dann, wenn auch die homosexuelle Priesterschaft schliess-
lich anfängt, sich gewisse Fragen zu stellen? Dazu aber
muss es früher oder später kommen, wenn man nicht
aufhört, diesen Menschen im Namen des Christentums
unablässig den Vorwurf sittlicher Verworfenheit ins Ge-
sicht zu schleudern, wenn man im Namen des Christentums
beharrlich einem Ausnahmsgesetz das Wort redet, welches
sich nur dadurch begründen lässt, dass man — im
grellsten Widerspruch mit den Thatsachen — alle homo-
sexuelle Empfindung für ein strafwürdiges Attentat an
der .Natur, alle Inclination zum eigenen Geschlecht für
•den Ausfiuss eines entarteten, verbrecherischen Willens
«erklärt.
Die homosexuelle Menschheit befand sich bisher in
•einer eigenen Lage. Es war ihr der Mund geschlossen,
sie konnte nicht reden. Hände und Füsse waren ihr
gebunden, sie konnte sich nicht rühren. Nun aber ist
«ine wesentliche Aenderung eingetreten: Die Wissen-
schaft hat sich ihrer angenommen und verteidigt ihre
Ehre. Infolge dessen kann es zu Erscheinungen kommen,
mit deren Möglichkeit bis jetzt Niemand gerechnet hat.
Ich warne darum eindringlich davor, diese Menschen,
«ei es auf legislativem Weg, sei es sonst, noch länger im
Namen des Christentums zu brandmarken. Wenn man
den § 175 durchaus aufrecht erhalten will, so möge man
«es mindestens auf eigene Verantwortung thun. Das ist
«eine Forderung, die man wohl stellen darf. Dixi et sal-
vavi animam meam.
HI.
Wenn das w.-h. Komitee nicht das christliche Sitten-
gesetz antastet, so habe ich gegen seine Bestrebungen
Jahrbuch II. 12
oichts einzuwenden. Dass es Menschen gibt, welche sieb
vom eigenen Geschlecht, und oft nur von diesem an-
gezogen fühlen, ist richtig. Diese Erfahrung kann man
als Beichtvater öfters machen. Auch gewinnt man zu-
weilen wirklich den Eindruck, dass solche Personen fast
mehr mit ihrer Natur zu kämpfen haben als andere; das
lässt sich nicht leugnen. Dass § 175 deswegen eine
Ungerechtigkeit bedeutet, muss anerkannt werden. Möge
er fallen! Allein am christlichen Prinzip darf nie und
nimmer gerüttelt werden. Das möge das w.-h. Komitee
wohl zur Kenntnis nehmen.
IV.
ad I. Zufolge meiner 35jährigen Praxis in grossen
Städten (hatte auch zu thun 11 Jahre hing in einer
Irrenanstalt) bin ich überzeugt, dass es Urninge giebt,
insbesondere giebt es Menschen, die im höheren Masse
vom eigenen Geschlechte sich angezogen fühlen.
ad II. Die besten, gelehrtesten und frömmsten
Menschen haben manchmal die homosexuelle Anlage; die
Natur hat ihnen diesen Streich gespielt. Ich bin tiber-
zeugt, dass manche Menschen in den geist-
lichen und klösterlichen Stand gerade deshalb
treten, weil sie von einer Zuneigung zum
andern Geschlechte nichts wissen und fühlen.
ad III. Ich bin überzeugt, dass der homosexuell an-
gelegte Mensch mit seiner Natur sogar einen weit härteren
Kampf zu kämpfen hat, als der Heterosexuelle.
Ich selbst gab schon den Rat zur Auswanderung
in den Orient, woselbst solche Armseligkeiten vom Ge-
richt nicht bestraft werden.
Insbesondere schwebt mir der Selbstmord eines be-
freundeten Mannes vor Augen, welcher erfolgte auf fort-
währende Erpressungen von Seite eines Malergehilfen,
— 170 —
mit welchem im schwachen Augenblick innerhalb der 4
Wände pecciert worden war. Der Unglückliche hatte
niemals mit dem andern Geschlechte sich vergangen.
Ich halte den § 175 des R. Str. G. B. für eine Un-
gerechtigkeit solchen unglücklich angelegten Menschen
gegenüber. Wenn Strenge geübt wird den Homosexuellen
gegenüber, dann soll die nämliche Strenge sich entfalten
den Heterosexuellen gegenüber.
V.
Die vom w.-h. Komitee gestellten Fragen kann ich
nicht verneinen. Der «Homosexualismus • ist eine Er-
scheinung, die der kathol. Priester öfters zu beobachten
Gelegenheit findet. Ob deswegen § 175 abgeschafft
werden soll, will ich unerörtert lassen; dass er eine In-
konsequenz in sich schliesst, kann allerdings nicht in Ab-
rede gestellt werden.
VI.
Sie haben in Ihrem Bestreben völlig Recht. Wenn
der Staat ein Privilegium (Bordelle) und Konzession
(steuerpflichtige, Einkommensteuer zahlende Hurerei) giebt
für das weibliche Geschlecht, so ist es nur gerecht, wenn
Aufhebung des § 175 erfolgen würde. Ich will weder dem
unzüchtigen Treiben der weiblichen noch der männlichen
Personen das Wort reden, stelle mich hier nur auf den
Standpunkt: „Gleiches Recht für Alle*. Zu den ge-
stellten Fragen folgendes:
Ad I: Ja. Ich lernte im Laufe der Zeit etliche
solche in verschiedenen Pfarreien kennen.
Ad II: Der sittliche Wert oder Unwert des Menschen
hängt nicht mit der homosexuellen Veranlagung zusammen.
Ich kenne zwei meiner ehemaligen Pfarrkinder, die homo-
12*
— 180 —
sexuell veranlagt sind und waren diese stets, sowohl n
der Christenlehre, wie jetzt als Männer Mustervorbilder
im sittlichen Verhalten.
Ad III: Der Kampf ist oft ein grösserer, zum min-
desten aber kein geringerer. Diese meine Wahrnehmungen
schöpfte ich nicht aus dem Beichtstuhl (wir Priester sind
aufs Strengste hierin zum Schweigen verpflichtet), sondern
aus der Beobachtung und aus dem Verkehr mit jenen
jungen Leuten, die ausserhalb der Beichte mich um Rat
und Hilfe ansuchten, die ich durch Klarlegung der Sach-
lage, durch Trost und Ermunterung im Guten zu be-
festigen suchte. Ohne mich rühmen zu wollen, kann ich
fcagen: Ich habe durch das richtige Erkennen und Mit-
fühlen schon Manchen vor Verzagtheit und anderen
schlimmen Folgen bewahrt. Diese jungen Menschen
waren auch stets sehr dankbar für die Teilnahme.
VIL
Die Bedeutung der Frage, welche Ihr Komite in die
Oeffentlichkeit hineingeworfen hat, verkenne ich nicht.
Es handelt sich um eine Anzahl von Menschen, welche
sich ohne Zweifel in einer bedauerlichen Lage befinden,
einerseits, weil viele von ihnen fast beständig in occasione
proxima leben müssen und weil nur selten Jemand für
ihre sittlichen Nöten Verständnis hat, andererseits, weil
sie unaufhörlich die Thore des Zuchthauses hinter sich
knarren hören. Dass hier der Gerechtigkeit, der Seel-
sorge und der christlichen Liebe noch eine grosse, bisher
ungelöste Aufgabe wartet, kann ich nach all den Er-
fahrungen, die ich diesbezüglich gemacht habe, nicht in
Abrede stellen. Es wäre ganz gewiss besser, wenn man,
statt hinter diesen Menschen stets mit den Ketten des
Kerkermeisters zu rasseln, ruhig und besonnen die Frage
erörtern wollte, wie man denn ihnen ihre exceptionell
— 181 —
schwierige Lage erleichtern, wie man sie sittlich heben,
wie man sie den ärgsten Gefahren entreissen und wirk-
sam schützen könnte. Denn dass ihr Trieb ebenso der
Natur entspringt wie der des gewöhnlichen Menschen,
darüber ist gar kein Zweifel möglich; was mich betrifft,
glaube ich es nicht bloss, sondern ich weiss es.
VIII.
Ich berichte auf Ihre Anfragen, dass es wirklich
Naturen gibt, und zwar nicht selten, welche weniger vom
andern als vom eigenen Geschlecht sexuell angezogen
werden; diese Beobachtung wird wohl jeder Beichtvater
schon gemacht haben. Auch trifft man Menschen, die
von einer Neigung zum andern Geschlecht überhaupt gar
nichts wissen. Das kann ich auf Grund meiner Erfahr-
ungen bestätigen.
IX.
Was Ihre Fragen anbelangt, bemerke ich zur Ant-
wort, dass die bisherige Auffassung von sexuellen Akten
zwischen Personen desselben Geschlechts wirklich mit
grossen Irrtümern verbunden ist. Sie sind, ich will nicht
sagen, immer, aber doch in sehr vielen, ja zweifellos in
den allermeisten Fällen ebensosehr das Ergebnis eines
heftigen Naturtriebs, wie die sexuellen Akte zwischen
Mann und Weib. Diese Thatsache sollte mau nicht
länger leugnen wollen; für die Dauer wird es ohnedies
unmöglich sein. Auch ist es doch ein fürchterliches Be-
wusstsein für einen solchen „ homosexuellen • Menschen,
mit dem Stigma einer Verbrechernatur durchs Leben
gehen zu müssen, selbst wenn ihm sein Gewissen das
Zeugnis eines unbescholtenen, reinen und ehrbaren Wandels
ausstellt. Ich selbst habe mein Lebtag niemals auch nur
— 182 —
die leiseste Spur einer Empfindung für das andere Ge-
schlecht in mir wahrgenommen, und trotzdem sind mir
harte Kämpfe und schwere Versuchungen nicht erspart
geblieben. Soll ich deswegen vor mir selbst als über-
sättigter Wüstling und verkommener Mensch charak-
terisiert sein? Ich glaube, dass es auch hier heissen
muss: Wahrheit und Gerechtigkeit über Alles!
X.
Auf Ihre geschätzte Zuschrift, die Homosexualität
betreffend, beehre ich mich, gestützt auf meine wissen-
schaftlichen Studien und 30jährige pastorale Erfahrungen,
Folgendes zu antworten:
I. Es giebt einen, allerdings sehr geringen Prozent-
satz von Menschen, denen kein anderer, als ein gleich-
geschlechtlicher Trieb innewohnt; weit grösser aber ist
die Zahl derer, die zwar auch vom anderen Geschlecht,
in höherem Masse aber vom eigenen sich angezogen fühlen.
II. Insofern die Homosexualität einen patholo-
gischen Zustand darstellt, steht dieselbe in keinem Zu-
sammenhange mit dem sittlichen Wert oder Unwert des
Menschen.
III. Da die konträre Geschlechtsempfindung auf
Krankheit der Psyche beruht, so kämpft der Homo-
sexuelle wohl meist einen noch härteren Kampf, als der
Heterosexuelle.
XI.
Affirmative ad. I, II und III. Die Sache, auf welche
sich die drei Fragen Ihres Zirkulars beziehen, ist mir
sehr wohl bekannt, und ich glaube sogar, dass Männer
der bezeichneten Richtung keineswegs selten sind.
— 183 —
XII.
Sie wollen wissen, ob es nach meinen Erfahrungen
„homosexuelle 14 Menschen gibt. Darauf muss ich aller-
dings mit „ja" antworten; auch die beiden anderen
Fragen muss ich bejahen. Doch kann, ich die Bemerkung
nicht unterlassen, dass deswegen die sittlichen Forder-
ungen des Christentums nach wie vor aufrecht erhalten
bleiben müssen.
XIII.
Auf die drei Fragen Ihres Komitees diene zur Ant-
wort, dass Menschen, deren Concupiscenz von Natur aus
auf das eigene Geschlecht, und oft nur auf dieses, ge-
richtet ist, gar nicht selten anzutreffen sind. Sie haben
mit sich eben so schwer zu kämpfen wie andere und
dürfen der blossen Anlage wegen keineswegs als sittlich
inferior bezeichnet werden. Um jedoch nicht missverstanden
zu werden, muss ich betonen, dass ich selbstverständlich
jeden Angriff auf die Normen der christlichen Sittenlehre
energisch und feierlich zurückweise.
XIV.
Wenn das w.-h. Komitee weiter nichts will, als dass
Unsittlichkeiten zwischen erwachsenen Personen männ-
lichen Geschlechts künftig nicht mehr in die Oeffentlich-
keit gezerrt, sondern, wie andere Unsittlichkeiten auch,
einzig vor das Tribunal der Religion und des Gewissens
verwiesen werden sollen, so habe ich gegen seine Be-
strebungen durchaus nichts einzuwenden. Dass es Men-
schen giebt, die sich ihrer konstitutionellen Beschaffenheit
gemäss nur vom eigenen Geschlecht angezogen fühlen,
kann nicht bestritten werden. Ich habe sehr religiös ge-
sinnte und brave Personen kennen gelernt, welche mit
— 184 —
dieser Leidenschaft; einen schweren Kampf zu bestehe»
hatten. Darum ist § 175 objektiv zweifellos eine Un-
gerechtigkeit. Ausserdem macht er ganz den Eindruck
einer officiellen Beschönigung der gewöhnlichen Unzucht*
Und endlich bestärkt er die öffentliche Meinung in ihrem
verderblichen Irrtum, dass Rücksichten der Scham nur
im gegenseitigen Verkehr der beiden Geschlechter, nicht
aber darüber hinaus, in Betracht kommen könnten.
Der katholische Schriftsteller Lucas hat sich ent-
rüstet über die Schamlosigkeit, womit unsere Jünglinge
unters Mass gestellt werden. Und er hätte sich mit dem-
selben Recht auch über verschiedene Kasernenbräuche,
namentlich über die Art und Weise, wie gewisse Unter-
suchungen vorgenommen werden, entrüsten dürfen. Zahl-
reiche Seelsorger ereifern sich ferner gegen die Unsitten,
wie sie zur Sommerszeit auf den freien Badeplätzen an
unserer männlichen Jugend in Erscheinung treten, warne»
vor den Doppelbetten, mahnen in der Schule, sich nie-
mals, also auch unter Geschlechtsgenossen nicht, nackt
oder halbnackt sehen zu lassen und dergleichen mehr.
Für all das giebt es aber eigentlich keine Begründung,
wenn jene Auffassung des sexuellen Lebens, aus welcher
der § 175 hervorgegangen ist, der Wahrheit und den
wirklichen Verhältnissen entspricht. Denn in diesem
Falle gilt: Entartete Individuen wollen keine solchen
Rücksichten gegen sich geübt sehen und andere bedürfen
derselben nicht. Die Thatsache leugnen, dass es gleich-
geschlechtlich organisierte Naturen giebt, heisst somit,
eine Schädigung des öffentlichen Schamgefühls und darum
auch eine Schädigung der Sittlichkeit veranlassen, gleich-
viel, ob nun diese Leugnung in legislativer oder in sons-
tiger Form geschehe. Deswegen habe ich gegen die Be-
strebungen des w.-h. Komitees, wie gesagt, nichts einzu-
wenden, sofern dieselben nur auf Beseitigung des § 17J>
abzielen.
— 185 —
XV.
Erwidere
ad I. Scheint richtig zu sein ; indes kommt Derartiges»-
meine ich, doch nur ganz ausnahmsweise vor.
ad II. Glaube selbst, dass man da mehr von Krank-
haftigkeit als von eigentlicher Schlechtigkeit reden muss.
ad III. Finde ich nicht gerade unwahrscheinlich,,
namentlich wenn erbliche Belastung vorhanden . . .
XVI.
In Erledigung Ihrer vor ein paar Tagen eingelaufenem
Fragen erwidere ich mit nachfolgenden Bemerkungen:
1. Der katholische Priester darf die Kenntnis von.
Dingen, welche er nur im Bussgericht inne geworden hat
und nicht zugleich auch anderswoher weiss, unter allen
Umständen verneinen. Ich erkläre daher als Seelsorger-
nichts bestätigen zu können.
2. Will bemerken, dass in der Nachbarschaft vor
etlichen Jahren ein Mann wegen „homosexuellen* Ver-
gehens verurteilt wurde, von dem ich überzeugt bin, dass
man ihn schlecht nicht heissen konnte. Es wird also ge-
schehen können, dass auch sonst rechtschaffene und gut-
gesinnte Menschen, von einer unglücklichen Leidenschaft
fortgerissen, einen solchen Fehltritt machen können.
3. Und demgemäss wird auch die dritte Frage be-
jaht werden dürfen.
XVII.
Ueber den Gegenstand Ihres jüngst versendeten»
Fragebogens habe ich schon oft nachgedacht, weil mir
wiederholt zum Bewusstsein gekommen ist, dass auf die-
sem Gebiet Theorie und Wirklichkeit nicht im Einklang
stehen. So weiss ich von einem mir befreundeten Amts-
bruder, dass seine sexuelle Neigung ganz dem eigenen
Geschlecht zugewendet steht, und zwar mit einer solche».
— 186 —
Heftigkeit, dass sie für ihn buchstäblich ein Kreuz bil-
det. Wie diese Erscheinung aufzufassen ist, vermag ich
nicht zu beurteilen. Der erwähnte Herr leidet etwas an
Nervosität, erfreut sich aber sonst, leiblich sowohl als
. geistig, der vorzüglichsten Gesundheit. Jedenfalls gibt es
hier noch manches Dunkel aufzuhellen und wäre es un-
zweifelhaft zu wünschen, dass man an den berufenen
Stellen daran gehen möchte, diese Frage einmal ruhig und
leidenschaftslos zu studieren. Denn Wahrheit und Klar-
heit wären gewiss auch auf diesem Gebiet besser als
das Gegenteil.
XVIII.
Dass es Fälle giebt, wo ein Mensch, obwohl sonst
vielleicht vollkommen normal, nur für sein eigenes Ge-
schlecht fleischliche Leidenschaft empfindet, ist mir be-
kannt. Auch mag es sein, dass solche Fälle öfter vor-
kommen, als man anzunehmen geneigt ist . .
XIX.
Nachfolgendes zur Antwort auf die Anfragen des
verehrten w.-h. Komitees:'
Zur ersten Frage. Ich kann bestätigen, dass derlei
Menschen vorkommen. Man trifft sie ziemlich häufig in
der Stadt und, vielleicht etwas seltener, auch auf dem
Lande. Da ich schon frühzeitig von diesen Dingen Kennt-
nis erhielt, habe ich im Beichtstuhl immer darauf ein-
gerichtete Ergänzungsfragen gestellt. Ich frage jedesmal,
wenn von Sünden gegen das 6. Gebot die Rede geht:
Ist es mit Jemand vom andern oder mit Jemand vom
eigenen Geschlecht geschehen? Und dabei bediene ich
mich eines Tones, aus dem der Pönitent entnehmen kann,
-dass mich Letzteres nicht im Mindesten überraschen
würde. Im Durchschnitt heisst es dann natürlich: Mit
Jemand vom andern Geschlecht. Wenn' nun diese Ant-
— 187 —
wort nicht ganz schnell und sicher kommt, frage ich
weiter: Mit Personen vom eigenen Geschlecht gar nicht?
und befleisse mich womöglich einer noch grösseren Freund-
lichkeit. Da kommt dann nicht selten ein schüchternes
^Auch". Ja, es stellte sich schon heraus, dass Sünden
mit dem andern Geschlecht gar nicht vorgefallen waren,
sondern nur Sünden solcher Art. Zuletzt erkundige ich
mich immer nach den Ursachen und Anlässen. Der Ur-
sachen gibt es dreierlei (nach meinen Erfahrungen näm-
lich; Andere mögen vielleicht wieder anders urteilen):
Verführung, Mangel an Gelegenheit, mit Personen vom
entgegengesetzten Geschlecht zusammenzukommen und
endlich gleichgeschlechtliche Naturanlage. Letztere Ur-
sache ist die gewöhnliche; und ich glaube, dass auch in
•den ersteren Fällen immer ein bischen „Homosexualismus"
mit unterläuft, nur dass oft bloss leichte, schwache An-
sätze vorhanden sind.
Ich bin der Ueberzeugung, dass solche Menschen gar
nicht besonders selten vorkommen, fürchte aber, dass sehr
viele von ihnen, weil sie nur von wenigen Beichtvätern
verstanden und billig beurteilt zu werden hoffen dürfen,
ihr Leben lang kein aufrichtiges Bekenntnis machen. Aus
•demselben Grund werden auch die Ansichten der Geist-
lichkeit über diesen Gegenstand wahrscheinlich sehr weit
Auseinander gehen.
Zur zweiten Frage. Diese ist bereits in der ersten
beantwortet. Die Neigung zum eigenen Geschlecht stammt,
wie gesagt, in einzelnen Fällen aus der Natur. Seine
Natur kann sich aber der Mensch nicht selber auswählen;
•er muss sie nehmen, wie sie ihm gegeben wird.
Zur dritten Frage. Der geschlechtliche Drang der
„Homosexuellen" stachelt diese Leute oft dergestalt, dass
man sie bemitleiden muss. Ich wüsste in dieser Bezieh-
ung ein Beispiel zu erzählen, das ich nur deshalb uner-
zählt lasse, weil man mir wahrscheinlich nicht Glauben
— 188 —
schenken würde. Eine Abänderung des § 175 halte ich
darum für eine Forderung der Gerechtigkeit.
XX.
Was den objektiven Charakter der in Frage befind-
lichen Akte anbelangt, hat sich der katholische Christ
und hat sich namentlich der katholische Priester nach
dem Urteil seiner Kirche zu richten; wie dieses lautet,
lehrt jedes Handbuch der Moral. Was die subjektive
Seite betrifft, so ist es richtig, dass angeborene Perversi-
täten vorkommen, für welche der Mensch, eben weil sie
angeboren sind, nicht verantwortlich gemacht werden darf.
Daher gehört namentlich der geschlechtliche Defekt, wel-
chem die modernen Gelehrten, wie mir bereits schon
früher bekannt war, den Namen , Homosexualismus " ge-
geben haben. Dessen Thatsächlichkeit kann ich im Hin-
blick auf mehrfache Erfahrungen bezeugen. Ueber den
dritten Punkt besitze ich kein kompetentes Urteil.
XXI.
Ich kann Ihnen mitteilen, dass ich für die von Ihrem
Komitee vertretene Sache ein volles Verständnis besitze.
Ich weiss, dass die Motive, von denen Sie sich leiten
lassen, einer lang verkannten Wahrheit entspringen und
antworte auf Ihre Fragen mit einem dreifachen „Ja." . . „
XXII.
In Erwiderung auf die mir in den letzten Tagen
zu Händen gekommenen Anfragen betreffs Homosexualität
antworte ich, meinem Gewissen und meiner Ueberzeugung
folgend, unbedenklich 'mit einer Bestätigung. Sie haben
Recht, ich weiss es.
§ 175 ist am besten damit charakterisiert, dass man
sagt: Wenn er nicht da wäre, würde ihn kein Mensch
vermissen; es käme niemand in den Sinn, ein solche»
— 189 —
Strafgesetz einzuführen. Von einem Herrn ist mir be-
kannt, dass er aus diesem Grund seine Heimat verliess
und nach Belgien auswanderte. Dort liegt die Macht in
den Händen einer strengkatholischen Majorität, die jeden
Tag einen „Urningsparagraphen" schaffen könnte. Doch
kein Bischof, kein Priester, kein katholisches Blatt, kein
Abgeordneter, kein Mensch im Lande fordert dergleichen.
Es kommt gar niemand in den Sinn. Und ähnlich scheint
es Ihrem Zirkular zufolge auch anderswo zu stehen. Da-
mit ist unser § 175 nach meiner Ansicht am besten
charakterisiert.
XXIII.
Affirmative ad L, H. und HL
Die Angelegenheit, welcher Ihre drei Fragen gelten,
ist ohne Zweifel bedeutsamer, als sie den meisten scheinen
mag; wir werden uns, ob gern oder ungern, mit ihr be-
fassen müssen. Mit dem Ausdruck subjektiven Wider-
willens oder mit hartnäckiger Leugnung von Thatsachen,
die nun doch einmal nicht aus der Welt zu schaffen sind,
kommen wir auf die Dauer über solche Dinge nicht hin-
weg, auch nicht mit der bisher geübten disciplina arcani.
„Die neue Zeit*, sagt Dr. Schell, „ist so weit fortge-
schritten, dass sie sich .... vor keiner Fragestellung
durch irgend einen Skrupel oder irgend eine Rücksicht
zurückschrecken läset Es kommt längst nicht mehr auf
die kluge Vorsicht der Theologen an, um etwa zu ver-
hindern, dass peinliche Fragen aufgeworfen werden. Die
höchste Weisheit heisst auf geistigem Gebiet heute
nicht: ,Quieta non movere!', sondern mit allen Kräften:
,Veritati!' Die Wahrheit gilt eben in der neuen Zeit des
Forschens und Fragens nicht als eine Sache, der man
mit kluger Vorsicht möglichst fern zu bleiben hat, sondern
als der höchste und einzig wertvolle Preis ernsten Ringens."
Es ist umsonst, heute noch leugnen zu wollen, dass es
— 190 —
Menschen gibt, deren sexuelle Gefühlsbewegungen sieb
ausschliesslich auf ihr eigenes Geschlecht beziehen. Ich
beispielshalber könnte mich davon durch hundert Argumente
nicht überzeugen lassen.
Und auch zwecklos. Denn nach meiner Ansicht kann-
weder den Interessen der Sittlichkeit, noch denen der
Religion und der Gesellschaft ein Dienst geleistet sein r
wenn wir unangenehme Thatsachen kurzer Hand in Abrede
stellen, statt dass wir sie in kluge Berechnung zögen . . .
XXIV.
Ich habe nicht blos im Konfessionale mehrmals solche
Fälle erlebt, sondern bin auch selbst „homosexuell".
Gestehe das, weil ich nicht einsehe, warum ich mich
dessen schämen sollte. Ich könnte mich höchstens für
meinen Schöpfer schämen, was mich aber weder christlich
noch vernünftig dünkt.
Ich halte es für einen traurigen Wahn, wenn man
den Wert des Menschen danach bemessen will, ob ihm
der Weiberzopf besser gefällt als das Lockenhaupt des
Jünglings, und das, obwohl ihm gar keine Wahl gelassen
ist, sich dafür oder dafür zu entscheiden, und obwohl
uns doch, ästhetisch betrachtet, an der jungen Männlich-
keit, und nicht am Weib, die Vollendung menschlicher
Schönheit entgegentritt. Letzteres ist dargethan durch
das Urteil der Griechen, die bekanntlich den feinsten
Schönheitssinn besassen, und noch mehr, noch unwider-
leglicher durch den gewaltigen Analogiebeweis der Natur.
(Vergl. die Aesthetik von Jungmann.)
Schliesslich noch eine Bemerkung über die Art und
Weise, wie man sich christlicherseits, wenigstens vielfach,,
zum Homosexualismus stellen zu müssen glaubt: Man
sträubt sich mit Händen und Füssen dagegen, ihn anzu-
erkennen.
Warum denn das ? Es kann nur aus einem von drei
— 191 —
Gründen geschehen, entweder aus religiösen oder aus
naturwissenschaftlichen Motiven oder aus Motiven der
Utilität.
Wenn es aus religiösen Motiven geschieht, dann will
man offenbar ein christliches Dogma darin erblicken, dass
es keinen angeborenen Homosexualismus geben könne.
Das aber wäre nach meiner Ansicht äusserst bedenklich.
Denn wahr ist das Gegenteil und eine ganze
Menschenklasse empfindet das tagtäglich an
sich selbst
Wenn es jedoch aus naturwissenschaftlichen Gründen
geschieht, dann möchte ich fragen: Wem ist hier mehr
zu glauben, den Männern der Forschung, die Jahre und
Jahrzehnte sich mit Untersuchungen über diesen Gegen-
stand beschäftiget haben oder Denjenigen, die nur das
eine Argument kennen : Ich weiss davon nichts, ich fühle
davon nichts, also gibt es so Etwas nicht? Wem ist hier
mehr zu glauben, Denjenigen, deren ganzes Leben einen
fortwährenden, oft genug nur allzu deutlichen Beweis
dafür bildet, oder denen, die sich, um einen Ausdruck
der Moral zu gebrauchen, in negativer Unwissenheit be-
finden?
Geschieht es endlich aus Gründen der Utilität, dann
huldigen die Betreffenden dem Grundsatz: Der Zweck
heiligt die Mittel.
Darum meine ich: Der Homosexualismus soll christ-
licherseits nicht geleugnet, sondern es soll mit ihm ver-
nünftig gerechnet werden. Wer das nicht will,
mag sich mit einer Interpellation an den Schöpfer wenden,
— denn das ist die richtige Adresse — und mag bean-
tragen, dass solche »Aergernisse* künftig unterbleiben
sollen. Wenn der Schöpfer darauf eingeht, gut. Wenn
er aber nicht darauf eingeht, so wäre es gewiss am Platz,
den Zorn dafür nicht mehr länger an armen Menschen,
auszulassen.
— 192 —
Endlich noch die Ausführungen eines auch in her-
vorragender Weise literarisch thätigen Geistlichen, der
.sich in seinem beigefügten Brief selbst als homosexuell
-empfindend bekennt:
XXV.
Ich erblicke in dem Umstand, dass Sie mit dieser
Angelegenheit an den kathol. Klerus herantreten, einen
Beweis für die Lauterkeit Ihrer Absichten, und halte
mich in Würdigung der sittlichen, wissenschaftlichen und
-allgemein menschlichen Bedeutung des Gegenstandes ver-
pflichtet, mich zur Sache zu äussern.
Ich antworte:
ad I. affirmative. Schon lange in der Seelsorge
thätig, namentlich viel mit Männerseelsorge beschäftiget,
kann ich die Existenz sothan gearteter Naturen ganz
•decidiert bestätigen. Ich lernte von Homosexuellen
kennen: Einen Fabriksarbeiter, einen Gesellen — Senior
-eines kathoL Gesellenvereins — , einen Bauernknecht,
-einen Professor, eine Sprachenlehrerin u. a. m. Ge-
schlechtszwitter fand ich noch öfter.
Darüber sind nun freilich die meisten erstaunt. Aber
streng genommen haben wir dazu eigentlich gar keinen
•Grund, so lange wir vom Wesen des Geschlech ts-
triebes nicht mehr wissen als heute.
ad II. affirmative. Die landläufige Beurteilung der
Homosexuellen beruht, wie Sie ganz richtig sagen, auf
-einem fundamentalen Irrtum. Man wirft sie zusammen
mit jenen Individuen, die trotz normaler oder fast nor-
maler Anlagen auf eingeschlechtliche Befriedigung aus-
gehen, Individuen, die zwar zum Glück nur selten, aber
-doch immerhin dann und wann anzutreffen sind. Der
Urning kann nicht anders fühlen, als er fühlt, und alle
diejenigen, welche ihn jetzt mit tiefster Verachtung be-
handeln zu müssen glauben, würden ganz genau wie er
— 193 —
empfinden, wenn sie vom Schöpfer eine gleiche Natur
erhalten hätten.
Es giebt keinen Grad von Intelligenz und
keinen Grad sittlicher Tüchtigkeit, durch den
eine homosexuelle Gefühlsrichtung ausge-
schlossen wäre.
ad III. affirmative. Der Kampf ist oft schwer genug
und im Durchschnitt ganz gewiss nicht mit weniger Opfern
verbunden als derjenige des Heterosexuellen.
Die Beseitigung, beziehungsweise eine Abänderung
des § 175 darf daher mit vollstem Recht gefordert werden.
Nun verweist man aber auf die Bibel und sagt:
„Nach christlichen Begriffen sind das doch ganz besonders
schreckliche Sünden, Sünden, die zum Himmel schreien
und wider die Natur gehen. So steht es deutlich aus-
gesprochen in der heiligen Schrift."
Was ist darauf zu antworten?
Darauf ist zu antworten, dass dies in der
heiligen Schrift weder deutlich noch undeut-
lich ausgesprochen steht, sondern dass für eine
solche Auffassung in Wahrheit so gut wie
keine biblischen Unterlagen vorhanden sind.
Eine kritische Erwägung liefert den Beweis.
Die ersten Stellen, mit denen wir uns zu beschäftigen
haben, sind enthalten im 3. Buch Mosis (20, 13 und 18, 22).
Sie lauten: „Wenn jemand bei einem Manne schläft als
wie bei einem Weib, die haben beide einen Greuel ge-
than, sie sollen des Todes sterben ; ihr Blut sei auf ihnen.*
Und: „Du sollst nicht mit einem Manne dich vermischen
wie mit einem Weib, weil das ein Greuel ist.*
Was geht nun aus diesen Stellen hervor?
Aus diesen Stellen geht hervor, dass ein-
geschlechtliche Akte immer sündhaft und un-
sittlich bleiben, durchaus aber nicht, dass sie
für jedermann widernatürlich und in allen
Jahrbuch II 13
— 194 —
Fällen sündhafter sind als unzüchtige Werke
zwischen Mann und Weib.
Inwiefern?
Zum Ersten bleibt es einmal an und für sich voll-
kommen zweifelhaft, ob hier von jeder sexuellen Be-
thiltigung zwischen männlichen Personen die Rede geht
oder aber nur von derjenigen, die ganz analog dem nor-
malen Cohns geschieht. „Qui dormierit cum raasculo
ooi tu fem ine o" . . . . „Cum masculo non commiscearis
ooitu femineo* heisst es im lateinischen Text.
Zum Zweiten bietet der Ausdruck „Greuel" über-
haupt keinen Grund, auf eine mehr als gewöhnliche
Sündhaftigkeit zu schliessen. Denn ein Greuel ist vor
Gott eine jede Todsünde, nach biblischer Ausdrucks-
weise sowohl als nach allgemein christlicher Auffassung.
Als Todsünde aber lehrt uns die Religion alle Un-
keuschheit betrachten, auch die Unkeuschheit zwischen
Mann und Weib.
Ueberdies vergleiche man folgende Stellen: „Ich,
die Weisheit, wohne bei dem Rat . . . . Hoffart und
Stolz sind mir ein Greuel.* (Spr. 8, 13) — „Ein zwei-
züngiger Mund ist mir ein Greuel." (Spr. 8 13.) —
„Lügenhafte Lippen sind dem Herrn ein Greuel."
(Spr. 12, 22.) — „Du sollst dem Herrn, deinem Gott, kein
Schaf und kein Rind opfern, daran ein Fehl ist oder
irgend ein Mangel; denn es ist ein Greuel dem Herrn,
deinem Gotf (Mosis V. 17, 1.) — „Ein Weib soll
nicht Mannskleider anthun und ein Mann soll nicht
Weibskleider anziehen; denn ein Greuel ist vor
Gott, wer Solches thut." (Mosis V., 22, 5.) — „Was
hoch ist vor den Menschen, das ist ein Greuel
vor Gott.* (Luc. 16, 15. ) — „Ein Greuel sind dem
Herrn böse G edanken." (Spr. 15, 26.) — „Ein Greuel
für den Herrn ist je£er Hoffärtige.* (Spr. 16, 5.)
Und ähnlich auch anderwärts.
— 195 —
Zum Dritten wäre, selbst wenn es sich umgekehrt
verhielte, deswegen doch mindestens noch nichts für eine
absolute. Widernatürlichkeit bewiesen. Denn „ besonders
sündhaft" und „widernatürlich* sind zwei Begriffe, von
denen niemand behaupten wird, dass sie sich gegenseitig
decken. Viel Widernatürliches ist nicht besonders sünd-
haft und viel besonders Sündhaftes ist durchaus nicht
widernatürlich. Die beiden Begriffe stehen gewaltig weit
von einander ab.
Zum Vierten endlich erklärt die heilige Schrift ein-
geschlechtliche Akte nicht bloss keineswegs für schwerer
sündhaft als unzüchtige Werke zwischen Mann und Weib,
sondern sie stellt vielmehr die erstem und die letztern
einander gleich. „Si quis dormierit cum nuru sua", heisst
es III. Mos. 20, „uterque moriatur, quia scelus
operati sunt: sanguis eorum sit super eos." — „Qui supra
uxorem filiam duxerit matrem ejus, scelus operatus est:
vivus ardebit cum eis, nec permanebit tantum nefas
in medio vestri." — Qui dormierit cum masculo coitu
feraineo, uterque operatus est nefas, morte moriantur:
sit sanguis eorum super eos." Und im 18. Kapitel lesen
wir: „Turpitudinem sororis patris tui non discooperies,
quia caro est patris tui." — „Turpitudinem sororis matris
tuae non revelabis, eo quod caro sit matris tuae. 11 —
„Turpitudinem nurus tuae non revelabis, quia uxor filii
tui est." — »Turpitudinem uxoris fratris tui non reve-
labis, quia turpitudo fratris tui est." — „Sororem uxoris
tuae in pellicatum illius r.on accipies, nec revelabis tur-
pitudinem ejus adhuc illa vivente." — „Cum uxore
proximi tui non coibis nec seminis commixtione macula-
beris.* — „Cum masculo non commiscearis coitu femineo,
quia abominatio est/ — „Custodite legitima raea atque
judicia et non faciatis ex omnibus abominat ionibus
istis, tarn indigena quam colonus. Omnes cnim
«xecrationes istas fecerunt accolae terrae, qui fuerunt
— 196 —
ante vos, et polluerunt eam. Omnis anima, quae fecerit
de abom inationibus his quippiam, peribit de medio
populi sui.* Und schliesslich noch Mosis V, 22, 13,
20, 21 sowie Job 31, 9, 10,11 : „Si duxerit vir uxorem, . .
et non est in puella inventa virginitas, ejicient eam extra«
fores domus patris sui et lapidibus obruent viri
civitatis illius, et morietur: quoniam fecit nefas in
Israel, ut fornicaretur in domo patris sui.* — „8i decep-
tum est cor meum super muliere, scortum alterius sit uxor
mea et super illam incurventur alii: Hoc enira nefas
est et iniquitas maxiraa.'
Wie man sieht, sind hier beide Arten von Unkeusch-
heit ganz mit den nämlichen Ausdrücken und durch die
nämlichen Strafen charakterisiert. Die Haltlosigkeit der
hergebrachten Exegese liegtsomit unwidersprechlich am Tag.
Die zweite Bibelstelle, worauf man sich beruft, ist
enthalten im 1. Buch Mosis und bezieht sich auf den
Untergang von Sodom und Gomorrha. Sie lautet:
„Und die zwei Engel kamen gen Sodoma abends, da
Lot im Thore der Stadt sass . . . Und da drang er gar
sehr in sie, dass sie einkehrten bei ihm; und er machte,
nachdem sie eingekehrt in sein Haus, ein Mahl und buck
ungesäuerte Kuchen. Und sie assen.
Aber ehe sie sich legten, umgaben die Männer der
Stadt das Haus, vom Knaben bis zum Greis, das ganze
Volk zusammen.
Und sie riefen den Lot und sprachen zu ihm: Wo
sind die Männer, so zu dir gekommen diese Nacht?
Führe sie heraus, dass wir sie erkennen.
Und Lot ging hinaus zu ihnen, schloss die Thür
hinter sich und sprach:
O meine Brüder, ich bitte, thuet doch dieses Uebel
nicht! Ich habe zwei Töchter, die noch keinen Mann
erkannt; ich will sie herausführen zu* euch, und miss-
— 197 —
brauchet sie, wie es euch gut dünkt. Nur diesen Männern
füget kein Leid zu, denn sie sind eingegangen unter den
Schatten meines Daches.
Und sie drangen auf Lot sehr heftig ein, und schon
war es nahe, dass sie die Thür erbrachen.
Und siehe, die Männer streckten ihre Hand heraus
und zogen Lot zu sich hinein und verschlossen die Thüre.
Und die, welche draussen waren, schlugen sie mit
Blindheit vom Kleinsten bis zum Grössten, so dass sie
die Thür nicht finden konnten.
Zu Lot aber sagten sie : Wir wollen diesen Ort ver-
tilgen, weil sein Geschrei ist gross geworden vor dem
Herrn, der uns gesandt hat, sie zu verderben.* (19, 1 — 13.)
„Und der Herr regnete über Sodoma und Gomorrha
Schwefel und Feuer vom Himmel herab und kehrte diese
Städte um, und die ganze Umgegend, alle Bewohner der
Städte und alles, was grünte auf Erden'" (19, 24, 25.)
Wir wissen somit, dass Sodom und Gomorrha der
göttlichen Strafgerechtigkeit zum Opfer fielen, und wenn
wir noch die Stelle heranziehen: „Sicut Sodoma et
Gomorrha et finitimae civitates simili modo exfornicatae
et abeuntes post carnem alteram, factae sunt exemplum,
ignis aeterni poenam sustinentes" ( Jud. 7), so ergiebt sich,
dass die Zerstörung der genannten Städte speziell auch
mit den eingeschlechtlichen Sünden zusammenhing, denen
ein Teil ihrer Bewohner ergeben war.
Was folgt nun daraus? Folgt daraus, dass jede
sexuelle Bethätigung, die zwischen Personen des näm-
lichen Geschlechtes stattfindet, als ein Frevel wider die
Natur und als ein völliges Verbrechen angesehen werden
muss?
Die Antwort lautet: Nicht im mindesten.
Zum Ersten, weil niemand sagen kann, ob die Strafe
nicht mehr dem „Wie" als dem „Was", nicht mehr
— 198 —
der monströsen Schamlosigkeit, dem raffinierten,
cynischen Modus, der Gewalttätigkeit und
Masslosigkeit, womit in Sodoma diese Sünden be-
gangen worden zu sein scheinen, als den Sünden selber
gegolten hat. Oder weiss das jemand?
Zum Zweiten, weil sich unmöglich nachweisen lässt,
dass die Bestrafung Sodoms nicht auch um noch anderer
Ursachen willen erfolgte, oder vielmehr, weil die heilige
Schrift ausdrücklich erklärt, dass dieses Strafgericht
auch auf andere Ursachen, und in erster Linie
auf andere Ursachen zurückzuführen ist „Haec
fuit", spricht Gott durch den Mund Ezechiels, „ini-
quitas Sodomae: Superbia, saturitas panis et
abundantia, otium ipsius et filiarum ejus, et
manum egeno et pauperi non porrigebant. Et
elevatae sunt et fecerunt abominationes coram
me, et abstuli eas, sicut vidisti." (Ezechiel 16,
49 — 50.) Und im Buche Sirach lesen wir: „Et nou
pepercit (Deus) peregrinationi Lot et execratus
est eos prae superbia verbi illorum.* (16,9)
Angesichts dessen sind wir ausserstande,
zu konstatieren, was für einen Anteil die ein-
geschlechtlichen Sünden an dem Untergang
Sodomas gehabt haben mögen, und darum auch
ausserstande, von der Strafe auf den Grad der
moralischen Schuld zu schliessen, ganz abge-
sehen davon, dass Dies schon an und für sich
nicht möglich wäre. Denn ein zeitlich Bestrafter,
beziehungsweise ein zeitlich schwer Bestrafter
kann sich viel geringerer Sünden schuldig ge-
macht haben, als ein zeitlich nicht, beziehungs-
weise ein zeitlich nur wenig Bestrafter.
Zum Dritten, weil die Unzucht zwischen
Mann und Weib nicht m inder ihre Strafe findet
und weil sie dieselbe nach dem Bericht der
— 199 —
Bibel wiederholt ganz sichtlich und auffällig
gefunden hat. Die Zeitgenossen Noahs ergaben sich
der Wollust mit den „Töchtern der Menschen" und
wurden dafür gestraft. (Mosis I, 6, 1, 2, 3). Die Israeliten
versündigten sich mit Weibern und wurden dafür gestraft.
„Lasset uns nicht Hurerei treiben", sagt der Völker-
apostel im 1. Brief an die Korinther, Ä wie einige von
unsern Vätern Hurerei trieben und (von denen) an einem
Tag dreiundzwanzig tausend umkamen." (10, 8.) Andere
vergingen sich in ähnlicher Weise und wurden dafür gestraft.
So begegnen wir der göttlichen Züchtigung eben so
gut auch hier.
„Als die Menschen", heisst es im 6. Kapitel der
Genesis, „anfingen, sich zu mehreo auf Erden, und Töchter
zeugten, da sahen die Kinder Gottes die Töchter
der Menschen, wie sie schön waren, und nahmen
sich zu Weibern aus allen, wie sie nur wollten.
Und Gott sprach: Mein Geist soll nicht ewig-
lich im Menschen bleiben; denn er ist Fleisch,
und es sollen seine Tage hundertundzwanzig
Jahre sein. (Das heisst: Er ist fleischlich gesinnt, und
es soll über ihn nach Ablauf von 120 Jahren, wenn er
sich bis dahin nicht bekehrt, die Strafe hereinbrechen.
Cf. „Die heilige Schrift" von AUioli.) Und es
wurde vertilgt alles Fleisch, das sich auf der
Erde regte; die Vögel, die Tiere, das Vieh und
alles Gewürm, das auf der Erde kriecht, alle
Menschen und alles starb, worin Odem des
Lebens war auf Erden.
Also vertilgte Gott jegliches Wesen, das
auf der Erde war, vom Menschen bis zum Vieh,
das Kriechende sowohl als das Geflügel des
Himmels, und es wurde vertilgt von der Erde;
nur Noe blieb übrig und die mit ihm in der
Arche waren." (Mosis I. 7)
— 200 —
Das furchtbarste Gottesgericht, das jemals über die
Welt gekommen, hat somit wesentlich der heterosexuellen
Fleischeslust gegolten.
Endlich noch zum Vierten, weil wir durchaus
kein Recht haben, die eingeschlechtlichen Sünden
der Sodomiter ohneweiteres zu identificieren
mit den eingeschlechtlichen Sünden überhaupt.
Der Grund liegt darin, dass solche Acte, wenngleich
sie in der Regel einer unabänderlichen Eigen-
art physischen Lebens entspringen, ausnahms-
weise doch auch als Folge sexuellen Mutwillens und
moralischer (Korruption vorkommen können. Sind sie im
ersteren Fall subjektiv natürlich, so sind sie im letzteren
subjektiv widernatürlich und müssen darum wesentlich
verschieden beurteilt werden. Was es mit den ein-
geschlechtlichen Sünden der Sodomiter für ein
näheres Bewandtnis hatte, darüber spricht sich
die Bibel nicht aus.
Nun aber entgegnet man vielleicht: Hat denn nicht
Lot gesagt: „O meine Brüder, ich bitte, thuet doch dieses
Uebel nicht! Ich will meine zwei Töchter herausführen
zu euch; nur diesen Männern füget kein Leid zu!*?
Und hat er damit nicht klar und deutlich zu erkennen
gegeben, dass er solche Sünden für ungleich schwerer
halte, als irgendwelche unzüchtigen Werke zwischen Mann
und Weib?
Die Antwort lautet: Nein. Denn Lot wehrte den
Sodomitern nicht, weil sie sich an Männern, sondern
weil sie sich an seinen Gast fr eun den vergreifen wollten,
die er den morgenländischen Traditionen gemäss um
jeden Preis schützen zu müssen glaubte. Das geht
offenkundig aus den Worten hervor, womit er den Vor*
schlag, seine Töchter zur Verfügung zu stellen, begründete :
„Nur diesen Männern füget kein Leid zu, denn sie sind
eingegangen unter den Schatten meines Daches." Das
— 201 —
Uebel, von dem er die Sodomiter abzustehen
bat, war somit nicht der sexuelle Gebrauch von
Männern, sondern der rohe, frevelhafte Ein-
griff in die heiligen Rechte der Gastfreund-
schaft, welcher dem Morgenländer bekannt-
lich noch heute als eines der grössten Ver-
brechen erscheint.
Indessen selbst wenn es sich anders verhalten hätte >
was folgte daraus? Es folgte selbstverständlich nichts.
Denn wie wir die eingeschlechtlichen Sünd en der
Sodomiter nicht ohneweiteres identificier en
dürfen mit den eingeschlechtlichen Sünden über-
haupt, so dürfen wir auch ein Urteil über die
erstem nicht ohne weiteres identificieren m it
einem Urteil über die letztern. Und davon noch
völlig abgesehen: War denn Lot ein Organ gött-
licher Offenbarung? Oder bürgt vielleicht die
Inspiration der heiligen Schrift für die Rich-
tigkeit aller in ihr mitgeteilten subjektiven
Anschauungen, also beispielsweise auch für
die Richtigkeit der Anschauung, dass ein Vater r
um junge Männer zu schützen, seine Töchter
preisgeben und sogar positiv zur Def 1 oration.
derselben mitwirken dürfe?! Das wird hoffentlich
niemand behaupten wollen.
Für eine besonders schwere, mehr als ge-
wöhnliche Sündhaftigkeit ist somit nichts be-
wiesen, nichts durch die Katastrophe, von der
das 19. K apitel der Genesis berichtet, und nicht»
durch das Benehmen Lots.
Aber gesetzt noch den Fall, eine solche Sündhaftig-
keit wäre bewiesen, wäre es dann deswegen auch schon
die absolute Widernatürlichkeit? Die Antwort
haben wir bereits vernommen: Nein. Denn viel Wider-
natürliches ist nicht besonders sündhaft und viel beson-
— 202 —
-ders Sündhaftes ist nicht widernatürlich. Die beiden
Begriffe stehen gewaltig weit von einander ab.
Nun könnte es scheinen, wir seien fertig. Allein man
-deutet auf die Stelle 19,4 und sagt: Soll sich also glau-
ben lassen, dass die Männerwelt von Sodoma, die junge
wie die alte, möglicher Weise aus fast lauter Urningen
•bestand?! Die Bibel meldet ja: ,Ehe sie sich legten,
umgaben die Männer der Stadt das Haus, vom Knaben
bis zum Greise, das ganze Volk zusammen/
Darauf ist Folgendes zu erwidern :
Zum Ersten trägt die Stelle 19,4 offenbar hyper-
bolischen Charakter. Sie klänge sonst äusserst unwahr-
scheinlich, und wenn die Schrift ein verhältnismässig klei-
nes Stück Land als die ganze Erde bezeichnen kann, so
kann sie auch vom ganzen Volke sprechen, wo es sich
in Wirklichkeit bloss um eine kleine Minorität gehan-
delt hat
Zum Zweiten sind wir durchaus nicht berechtigt, auf
Grund dieser Stelle anzunehmen, alle vor dem Hause
Lots erschienenen Männer hätten die Absicht gehabt, an
den beiden Fremdlingen ihre Lust zu befriedigen. Die
meisten von ihnen mögen wohl nur als Zuschauer ge-
kommen sein. Denn der Satz: „Und sie riefen den Lot
und sprachen zu ihm: Wo sind die Männer, so zu dir
gekommen diese Nacht? Führe sie heraus, dass wir sie
erkennen* darf selbstverständlich nicht ganz nach dem
Buchstaben gedeutet werden. Sonst müssten die ver-
sammelten Sodomiter, jeder für sich, eine vereinbarte
Formel aufgesagt oder, wie die Kinder in der Schule, im
Chor gesprochen haben.
Zum Dritten endlich ist es, wie schon hervorgehoben,
keineswegs unwahrscheinlich, dass viele Sodomiter in der
That widernatürlicher Unzucht ergeben waren.
Individuen, die, obwohl mit normalen, oder vielleicht besser
gesagt, mit fast normalen Anlagen ausgestattet, trotzdem
— 203 —
am eigenen Geschlecht Befriedigung suchen, kommen ver-
einzelt immer vor und können in Sodoma möglicher Weise
häufiger zu finden gewesen sein als anderswo. Allein was
ist damit gegen den Homosexualismus, was gegen die
Homosexuellen bewiesen ? Die widernatürlicheWoll-
lust Sodomas war nicht die Wollust der sodo-
mitischen Urninge und die Wollust der sodo-
mitischen Urninge war subjektiv nicht wider-
natürlich.
Nun ist auch schon dargethan, wie die Stellen Richter
19, 22—25 und Röm. 1, 26—27 aufgefasst werden wollen.
Letztere bezieht sich auf die vorchristlichen Heiden-
völker und lautet:
„Darum überliess sie Gott schändlichen Lüsten ; denn
ihre Weiber vertauschten den natürlichen Gebrauch mit
dem, der wider die Natur ist.
Und desgleichen verliessen auch die Männer den
natürlichen Gebrauch des Weibes und entbrannten in
ihren Begierden gegen einander, indem sie, Männer mit
Männern, Schändlichkeit trieben und so den Lohn, der
ihrer Verirrung gebührte, an sich selbst empfingen. 4
Was will der heilige Paulus damit sagen? Er will
sagen, dass manche, dass verhältnismässig viele
von den alten Heiden trotz normalsexueller
Anlagen eingeschlechtlicher Unzucht ergeben
waren. Das aber zu bezweifeln liegt für niemand irgend
ein Anlass vor. Gleiches gilt von der Stelle Weish. 14,
26, während die sonstigen Aussprüche über unsern Gegen-
stand, die sich in der-Bibel noch finden, nicht mehr weiter
in Betracht kommen können.
— 204 —
Welche Stellung hat die christliche Kirche
zu der gleichgeschlechtlichen Liebe und ihrer
staatlichen Bestrafung einzunehmen?
Von einem evangelischen Theologen.
Angesichts der wichtigen modernen Bewegung, welche
aus rein medizinischen und juristischen Gründen die
Aufhebung gesetzlicher Strafbestimmungen gegen solche
Personen männlichen Geschlechtes bezweckt, die ihren
angeborenen konträrsexuellen Trieb zu Personen desselben
Geschlechtes ohne Verletzung der Rechte anderer be-
friedigen, dürfte es vielleicht nicht uninteressant sein, ein-
mal die Frage näher zu beleuchten, wie sich die christ-
lich-evangelische Kirche zu der Bethätigung angeborener
konträrer Sexualempfindung und ihrer gegenwärtig in
Geltung stehenden Bestrafung durch den Staat zu
stellen hat.
Zunächst, um auf das Grundprinzip alles Protestan-
tismus zurückzugehen: welches ist der rein biblische
Standpunkt?
Dieser ist ein überaus harter und scheint überhaupt
jede Diskussion von vornherein auszuschliessen, wie denn
auch z. B. Herr Pastor Schall in durchaus richtiger, weil
streng konsequenter Verfolgung des reinen Biblicismus
in der Reichstagsverhandlung vom 19. Januar 1898 das An-
sinnen einer „ Aufhebung von Strafgesetzen gegen Sodomie"
mit Energie und unverhehltem Abscheu zurückgewiesen
hat So wie Gott schon den coitus interruptus des Onan
— 205 —
mit dem Tode gestraft hat — Gen. 38,10: „Das gefiel
dem Herrn übel, das er that, und tötete ihn auch" — >
wie ein jeder, »Der ein Vieh beschläft, des Todes sterben
soll" (Exod. 22,19), ebenso heisst es ausdrücklich in
Leviticus 18,22 „Du sollst nicht bei Knaben liegen wie
beim Weibe, denn es ist ein Greuel." Dieser Greuel
-erscheint fast als die alleinige Ursache des Verderbens
für die früheren Bewohner des Landes, in das die
Israeliten gezogen waren, denn eben, weil sie durch solchen
Greuel das Land verunreinigt haben, sagt Lev. 18,29
„Hat es die Heiden ausgespien, die vor euch waren" und
darum „welche diese Greuel thuen, deren Seelen sollen
ausgerottet werden von ihrem Volk" (Lev. 18,29). Die
Vertilgung Sodoms und Gomorras durch Schwefel und
Feuer, das der Herr vom Himmel herab regnen lässt
{Gen. 19,24), erfolgt, weil ein „grosses Geschrei* über
den Städten ist und „ihre Sünden fast schwer sind 8
{Gen. 18,20*). Welcher Art aber dieses Geschrei ist, geht
unzweifelhaft aus dem Vorakt am Abend vor dem Straf-
gericht hervor, welchen die Einwohner Sodoms an den
Engeln Gottes, die als Gäste in dem Hause Lots weilen,
vollziehen wollen. Wie es wörtlich Gen. 19,4,5 heisst:
„Aber ehe sie sich legten, kamen die Leute der Stadt
Sodom und umgaben das Haus, jung und alt, das ganze
Volk aus allen Enden; und forderten Lot und sprachen
zu ihm: „Wo sind die Männer, die zu dir gekommen sind
diese Nacht? Führe sie heraus zu uns, dass wir sie er-
kennen.* Die Sodomer sind sogar auf dieses Beginnen
so sehr erpicht, dass ihnen Lot vergeblich seine beiden
bisher unberührten Töchter zur Prostitution darbietet
{Gen. 19,8), sie sich mit Gewalt die ihnen zusagende
konträre Befriedigung ihrer Geschlechtslust verschaffen
*) Die Citation findet der Verständlichkeit und der Nach-
kontrolle wegen stets nur nach dem deutschen Texte der Lutherischen
Uebersetzung statt.
— 206 —
und die Thtire aufbrechen wollen (Gen. 19, 9), bis die
Engel dem Treiben ein Ende setzen. Nicht viel anders
als im Alten Testament ist die Beurteilung der „wider-
natürlichen Unzucht" — um den gesetzlichen und den
dem biblischen Beurteiler allerdings durchaus geläufigen,
wenn auch an sich unrichtigen Ausdruck festzuhalten —
im Neuen Testamente. Zwar, und das ist hoch bedeut-
sam, erwähnt unser Herr Christus selbst, der doch
inbezug auf andere sittliche Punkte, z. B. auf die mit dem
gegenwärtigen Gegenstande verwandte Frage des Ehe-
bruchs eine sehr rigorose Aeusserung thut, indem er sagt:
„Wer sich von seinem Weibe scheidet, der macht, dass«
sie die Ehe bricht; und wer eine Abgeschiedene freiet r
der bricht die Ehe* (Matth. 5,32), die Frage der Horn o-
sexualität auch nicht mit einem Worte. Um so
mehr macht aber der feurige Paulus dieselbe zu einem
Gegenstand seiner Betrachtung nnd zwar, was bei ihm,
dem schriftgelehrten jüdischen Theologen, der zu den
Füssen des grossen Gamaliel gesessen (Act. 22,3) und ein
Eiferer „über die Massen gewesen um das väterliche Ge-
setz* (GaL 1,4), nicht verwundern kann, in rein alt-
testamentlichem Sinne. Gleichgeschlechtlicher Verkehr
von Männern oder Frauen unter sich erscheint ihm als
ein Nachgeben % schändlicher Lüste " (Rom. 1,20), als eine
Verwendung des natürlichen Gebrauchs in den unnatür-
lichen (Rom. 1,26), mit dem alles Ungerechte, Schalkheit,
Geiz, Bosheit, Hass, Mord, Hader, List, Verleumdung*
Frevel, Hoffart, Unberechenherzigkeit etc. (Röm. 1,29—31)
Hand in Hand geht, und daher in ganz gleicher Weise
wie die Automasturbation (Rom. 1,24) als ein Strafgericht,
das Gott über die Heiden verhängt hat, weil sie Götzen-
dienerei getrieben, „die Herrlichkeit des unvergänglichen
Gottes in ein Bild verwandelt haben 44 (Rom. 1,23). Der
sittliche Standpunkt Pauli ist also insofern ein im Ver-
hältnis« zu dem alttestamentlichen vertiefter, als nach
— 207 —
ihm Sodomie an und für sich schon eine — göttliche —
Strafe ist, wenn dieselbe freilich auch nach Paulus wieder-
um eine neue — göttliche und menschliche — Strafe ^
nämlich den Tod verdient. (Röni. 1,32) „Die Gottes
Gerechtigkeit wissen, dass, die solches thun, des Todes
würdig sind.*
Dies der biblische Standpunkt. Nun aber die weitere
Frage: wie ist dieser Biblizismus theologisch und
kirchlich zu werten? Und da kommen wir ja aller-
dings zu einer Grundlehre, über die nicht nur die christ-
lichen Konfessionen, sondern auch die einzelnen Partei-
. richtungen innerhalb der Konfessionen selbst in heftiger
Fehde liegen. Ich meine natürlich die Lehre von der
Inspiration. Es kann hier nicht Aufgabe des Verfassers
sein, die Grundsätze und Spezialfolgereihen bezüglich
unseres Gegenstandes für jede einzelne Richtung dar-
zulegen: eine derartige Auseinandersetzung würde den,
Rahmen des vorliegenden Aufsatzes weit überschreiten
und sich in ein rein fachwissenschaftliches, für den Laien
interesseloses Gebiet verlieren. Ich muss mich vielmehr -
damit begnügen, hier meinen eigenen Standpunkt wieder-
zugeben, der allerdings zugleich der Standpunkt der
Kirchenregierung und eines grossen Teiles der deutschen
evangelischen Geistlichkeit ist. Der Verfasser ist näm-
lich ein Anhänger des strengsten Orthodoxismus und hält
als solcher an der Inspiration derjenigen biblischen Stellen,
welche sich auf den Glauben an die christlichen Heils-
wahrheiten beziehen, unverbrüchlich fest. Anderseits aber
unterscheidet er sehr wohl zwischen dem, was göttlich,
und dem, was menschlichen Urspiungs in der Bibel ist.
Als menschlich und unverbindlich gelten ihm in erster
Reihe diejenigen Begebenheiten und Aeusserungen, die
lediglich im Rahmen ihrer Zeit uns den Sitten und An-
schauungen ihrer Zeitgenossen entsprechend von natur-
wissenschaftlichen und überhaupt dogmatisch und sittlich
— 208 —
gleichgültigen Dingen handeln, wie z. B. dem Sechstage-
werk der Schöpfung, der Drehung der Sonne um die
Erde, der Dämonenannahme des Herrn Jesus etc., denn
unser Herr und Heiland ist nicht in die Welt gekommen,
um allerhand Künste und Wissenschaften zu lehren,
sondern um Seelen zu retten. Aber zum Teil gilt diese
Unverbindlichkeit auch für die sittlichen Anschauungen.
So in hervorragender, vielleicht einziger Weise, von der
Frage, die uns in dieser Arbeit beschäftigt, der Frage
des Konträrsexualismus. Da nach den wissenschaftlichen
Forschungen der neueren und neusten Zeit, auch ganz
abgesehen von den Selbsterfahrungen der dabei persön-
lich Beteiligten, von jedem, der sich nicht mit Recht den
Vorwurf einer groben Unwissenheit auf diesem Gebiete
zuziehen will, schlechthin nicht bestritten werden kann,
dass es Tausende von Menschen beiderlei Geschlechtes
giebt, welche nicht normal, sondern nur konträr ge-
schlechtlich fühlen, so kann eine konträrsexuale Handlung
dieser auch schlechthin nicht mehr als eine „widernatür-
liche", sondern sie muss als eine eben diesen Menschen
„natürliche" gewertet werden. Hiermit aber fallen die
Grundvoraussetzungen der oben dargelegten biblischen
Anschauungen. Das ganze Gebiet entfällt der religiösen
Beurteilung und geht in das der naturwissenschaftlichen
über, in ähnlicher Weise, wie die Annahme der Zauberei
— nach Ex. 22, 18 sollen die Zauberinnen nicht am
Leben gelassen werden — schon seit langer Zeit fallen
gelassen ist, wie die christliche Kirche z. B. die sittliche
Wertschätzung der Vielweiberei bei den Erzvätern, welche
als ein durchaus tadelloses Institut in der alttestament-
lichen Anschauungsweise erscheint, nicht teilen kann, und
wie niemand den Untergang eines Volkes heute auf
einen gleichgeschlechtlichen Verkehr zurückführen wird,
da letzterer nachweislich örtlich und zeitlich unbeschränkt
bei sämtlichen bekannten Völkern sowohl zur Zeit ihrer
— 209 —
Blüte als zur Zeit ihres Untergangs geübt worden ist.
Selbstverständlich wird hierdurch an dem Worte der
Bibel auch nicht ein Haar gemindert. Die Bibel bleibt
für uns in gleicher Weise göttliche Offenbarung wie vor-
her, aber eben Offenbarung nicht über • normales und
konträres Fühlen, über Perversionen oder Perversitäten,
sondern über den Glauben an Gott den Vater, an seinen
eingebornen Sohn Jesum Christum, an die Wunderkraft
des Heiligen Geistes, über die Frage: „Was muss ich
thun, dass ich selig werde?*, über die leibhaftige Auf-
erstehung des Herrn.
Eine ganz andere Frage ist es endlich, wie sich
die christliche Kirche, nachdem die unwahren Vor-
aussetzungen, die der Homosexualität in der Bibel zu
Grunde liegen, als solche rückhaltdos anerkannt sind,
zu der staatlichen Bestrafung und zu der sitt-
lichen Wertung freiwilliger gleichgeschlecht-
licher Handlungen unter Erwachsenen über-
haupt zu stellen hat. Ueber die Frage der Bestrafung
dürfte bei Anerkennung der „Natürlichkeit* solcher
Handlungen kaum ein nennenswerter Disput entstehen
da eine solche, wie sie nur auf Grund jener unrichtigen
Motive gesetzlich fixiert wurde, selbstverständlich un-
berechtigt ist. Jedenfalls nicht berechtigter als eine Be-
strafung der Onanie oder jeder sonstigen ausserehelichen
sexuellen Handlung, auch wohl kaum berechtigter als
z. B. die bereits oben erwähnte biblisch fixierte und
staatlich lange geübte Bestrafung der Zauberei. Vom
Standpunkt der reinen Sittlichkeit jedoch — und eine
solche hat natürlich jede evangelisch-christliche Kirche
in hervorragender Weise zu betonen, so sehr sie auch
mit Recht die Dogmatik als das Primäre auffassen mag
— muss der homosexuelle Verkehr von Homosexualen
genau so gewertet werden, wie der heterosexuelle Ver-
kehr von Heterosexualen. Wie daher jeder normal-
Jahrbnch II. 14
— 210
geschlechtliche Verkehr ausser der Ehe als sittlich
schlechthin verwerflich betrachtet werden muss, so auch
der gleichgeschlechtliche Verkehr der Venus vulgivaga,
selbst wenn derselbe auf einer noch so starken Hyper-
ästhesie des Geschlechtstriebes beruht. Ein homosexualer
Verkehr wird daher von der Kirche nur dann als ein
sittlicher anerkannt werden können, dann aber auch bei
vorurteilsloser Beurteilung anerkannt werden müssen, wenn
derselbe auf einer tief eingewurzelten Neigung zu einer
andern Person des gleichen Geschlechts beruht. Jeden
homosexualen Verkehr wird die Kirche, wenn sie anders
der Wahrheit die Ehre geben will, auf die Dauer als
schlechthin unsittlich nicht errachten können, wenn es
natürlich auch ihre Pflicht bleibt, wie beim hetero-
sexuellen so beim: homosexuellen Triebe zu einer Be-
schränkung und Mässigung, ja, wenn möglich, völliger
Enthaltung zu mahnen, und auf Keuschheit innerhalb wie
ausserhalb der Familien durch ihre Organe hinzuwirken.
Diese drei Punkte also, die rückhaltslose Anerkennung
des naturwissenschaftlichen Irrtums der Bibel, als gäbe
es keinen angeborenen Konträrsexualismus, die hierauf
begründete Verwerfung einer staatlichen Bestrafung gleich-
geschlechtlicher Handlungen, aber zugleich die sittliche
Läuterung der Homosexualen, sie sind das Fundament
der Zukunft, auf welchem in Bezug auf die Frage des
Uranismus die Kirche weiter zu bauen hat.
Die Frauenfrage
und die sexuellen Zwischenstufen.
Von
Dr. phil Arduin.
Soviel auch schon über die Frauenfrage geschrieben
und diskutiert forden ist, so verschiedenartige und zum
Teil einander direkt widersprechende Meinungen darüber
sich geltend zu machen versucht haben: ein Gesichts-
punkt ist meines Wissens noch nicht zur Erörterung ge-
langt, der gerade geeignet ist, die tiefe physiologische und
psychologische Bedeutung der Frage klarzustellen, und
von dem aus es erst gelingen wird, eine gerechte Ent-
scheidung in dem Kampfe der Geister um sie herbei-
zuführen.
Aus dem Für und Wider, dem bunten Durcheinander,
das auf dem Kampfplatze herrscht, ragen zwei Auf-
fassungen der Frauenfrage besonders hervor, die in einem
gewissen prinzipiellen Gegensatze zu einander stehen,
in praktischer Beziehung aber vielfach Hand in Hand
mit einander gehen. Die eine von ihnen entspringt aus
der allgemeineren Ansicht, dass alle Menschen ursprüng-
lich gleich veranlagt sind, dass ein wesentlicher und
unauf hebbarer Unterschied zwischen den beiden Ge-
schlechtem in ihrer körperlichen und geistigen Leistungs-
fähigkeit nicht vorhanden ist; dass vielmehr die Unter-
schiede, die wir zur Zeit und in den Kultur gebieten
14*
— 212 —
der Erde beobachten, nur eine Folge der ungleichen
sozialen Erziehung sind, die Mann und Weib seit Jahr-
tausenden genossen haben. Nach dieser Anschauung wird
es der Frau, wenn sie künftighin gleiche Erziehung, gleiche
Ausbildung ihrer Kräfte mit dem Manne erhält, gelingen,
ihm völlig gleichwertig hinsichtlich ihrer Leistungen
gegenüberzutreten. — Diese Auffassung wird beispiels-
weise von Bebel in seinem Buche „Die Frau und der
Sozialismus" verfochten.
Auf völlig anderer Grundlage erhebt sich die zweite
der Anschauungen, die ich oben im Sinne hatte. Sie
lässt es zum mindesten unentschieden, ob oder inwieweit
die Frau als dem Manne ebenbürtig zu erachten ist. Sie
knüpft vielmehr, von vornherein an der theoretischen
Erörterung des im Vorigen gekennzeichneten grundsätz-
lichen Problems vorübergehend, an die unleugbare That-
sache an, dass tausende und abertausende von Mit-
gliedern des weiblichen Geschlechts in einen schweren
Existenzkampf gestellt werden, indem sie entweder un-
verheiratet bleiben oder in derartige Eheverhältnisse ein-
treten, dass sie gezwungen sind, zum Lebensunterhalt
der Familie wesentlich mit beizutragen. Um sie nun
nicht schutzlos und ungewappnet diesem Existenzkampf
preiszugeben, fordern die Vertreter der zweiten Anschau-
ung eine mehr oder weniger weitgehende Gleichberech-
tigung der Frauen mit den Männern — ähnlich, wie
öie auch, jedoch in der Hauptsache aus anderen Gründen,
von den Anhängern der ersten Auffassung verlangt wird.
Im Sinne der zweiten Anschauung ist die Frauen-
frag& lediglich ein Teil der sozialen Frage, und sie würde
beantwortet und erledigt sein, wenn diese ihre Lösung
gefunden hätte. Nach der ersten Auffassung dagegen
reicht die Bedeutung der Frauenfrage, die nach ihrer
praktischen Seite auch für sie sozialer Natur ist,
weiter und entspringt aus tieferem Grunde. Hat diese
— 213 —
Auffassung damit recht? Ist es t tatsächlich dem Weibe
von Natur gegeben, sich in derselben Art wie der Mann
zu bethätigen? Kommt es ihm sowohl in geistiger wie
in körperlicher Beziehung an Stärke gleich? —
Ich war früher der Ansicht (und habe sie auch ge-
legentlich öffentlich vertreten), dass diese Fragen schlecht-
hin verneint zu werden verdienen, und zwar aus folgenden
drei Hauptgründen, die gegen sie sprechen:
1) ist es in der Geschichte der Menschheit eine ein-
fache Thatsache der Erfahrung, dass fast in allen
Gegenden der Erde der Mann die Herrschaft über das
Weib erlangt hat. Wie war das möglich? — Es giebt
wohl keine andere Antwort darauf, als dass ihm über das
Weib eine gewisse, unbestreitbare Ueberlegenheit, sei es
in körperlicher oder in geistiger Beziehung oder in beiden,
wirklich zu Gebote gestanden hat und ihm bis zur Gegen-
wart verblieben ist. Eine derartige Ueberlegenheit aber —
bei allen Völkern und zu allen Zeiten — kann nicht anders
denn als eine dem Manne angeborene, zu seinem Wesen,
seiner Natur gehörige Eigenschaft angesehen werden. —
Selbstverständlich ist es dabei, dass dies nur im Ganzen
oder im Durchschnitt gilt, so dass einzelne Männer
sehr wohl hinter dem „mittleren Weibe" zurückstehen,
einzelne fVauen den „mittleren Mann" übertreffen
können.
2) Die Frau ist auf Grund ihrer natürlichen organisch-
physiologischen Beschaffenheit zu Zeiten der vollen Be-
thätigung ihrer nicht ins sexuelle Gebiet gehörigen Kräfte
entzogen. Wenn es in dieser Hinsicht nun auch viel-
fache, graduelle Unterschiede giebt und bei manchen
wilden Völkern sowie innerhalb des Arbeiterstandes bei
den Kulturvölkern dieser Einschränkung teilweise sehr
enge Grenzen gezogen sind, so ist doch der Unterschied
überhaupt, der hierdurch zwischen Mann und Weib
hergestellt ist, nicht zu leugnen.
— 214 —
3) Weil dem Weibe die vorstehend angedeuteten,
organisch-physiologischen Funktionen obliegen, während
der Mann gänzlich frei davon ist, so erscheint es ohne
weiteres klar, dass der Mann seine Lebenskräfte ander-
weitig besser und vollkommener als das Weib entwickeln
konnte. In der That zeigt ja doch die unbefangene Be-
obachtung, dass die Frau viel mehr ans sexuelle Leben
gefesselt und von ihm umfangen ist, viel mehr in der
sexuellen Sphäre lebt als der Mann, sofern man zu den
sexuellen Organen, wie billig, nicht nur die Geschlechts-
teile im engeren Sinne, sondern auch die Milch gebenden
Brüste und das für den Gebärakt passend eingerichtete,
unschöne Becken, und zu den sexuellen Funktionen ausser
dem eigentlichen Geschlechtsakt und der Menstruation
auch das Kindergebären, das Säugen und die Pflege des
Kindes in der ersten Lebenszeit rechnet Kurz gesagt,
ist die Frau in höherem Grade Geschlechtswesen als der
Mann. Und demgemäss konnte eben der Mann, vom
Sexuellen bei weitem weniger absorbiert, seine Fähig-
keiten auf den nicht-sexuellen Gebieten mehr entwickeln ;
er konnte insbesondere grössere körperliche Kraft (zu-
gleich notwendig, um das seinen Mutterpflichten nach-
gehende Weib zu ernähren und zu schützen) und hervor-
ragendere geistige Begabung erwerben.
Fast scheint es, als hätte mit dieser Darlegung die
Frauenfrage auf einfache Art ihre prinzipiell-theoretische
Erledigung gefunden und als bliebe sie nur noch nach
der praktischen Seite — als Teil der sozialen Frage, wie
zuvor erörtert — offen. Indessen empfindet auch der-
jenige, der unsere obigen Ausführungen unterschreiben
kann, dass hinter den Argumenten der Gegner, welche
die Gleichheit beider Geschlechter proklamieren, etwas
schlummert, was ihnen eine gewisse Berechtigung giebt.
Diese Empfindung gewinnt an Deutlichkeit und wird
schliesslich zur klaren Erkenntnis, wenn man sich einer
— 215 —
unter die gewöhnliche Oberfläche hinabtauchenden, ob-
jektiven Beobachtung der beiden Geschlechter und ihrer
Eigenart befleissigt. Es offenbart sich alsdann, dass
1) einem gewissen Prozentsatz der Mitglieder des
männlichen Geschlechts die Bezeichnung „Mann* nicht
mit vollem Rechte und bedingungslos zukommt. Ich sage
das nicht im Sinne des Vorwurfs, indem ich keineswegs
auf diejenigen Männer exemplifizieren möchte, die durch
servile Gesinnung ihre Manneswürde mit Füssen treten,
um Lebensstellungen zu erlangen oder sonstige äussere
Erfolge zu erringen, durch die ihre Selbstsucht oder ihr
Ehrgeiz Befriedigung findet. Sondern ich gedenke der-
jenigen Personen männlichen Geschlechts, die bei durch-
schnittlich tadellosem Charakter, gewinnenden Manieren
und liebenswürdigem Wesen so wenig von der kräftigen,
bestimmten, selbständigen Eigenart des Mannes, von seiner
körperlichen Stärke und seiner geistigen Veranlagung
aufweisen, dass sie viel mehr einen mädchenhaften oder
weiblichen, bisweilen weibischen Eindruck hervorrufen,
und die sich in ihrem Liebesverlangen, auch innerhalb
des rein sexuellen Verkehrs, nicht zum Weibe, sondern
zu ihnen — irgendwie und bis zu einem gewissen Grade
— imponierenden, Respekt und Bewunderung einflössenden
Männern hingezogen fühlen. Es sind dies die Angehörigen
der einen Klasse der homosexuellen Personen
männlichen Geschlechts;
2) giebt es demgegenüber einen gewissen Prozentsatz
der Mitglieder des weiblichen Geschlechts, die keine
rechten, keine Voll- Weiber sind. Sie besitzen eine
mehr männlich (als bei den letzteren) geartete äussere
Erscheinung; zeigen mehr männliche als weibliche Neig-
ungen; haben weder den Wunsch, die Rolle des Weibes
im Ehebett zu spielen, noch den, jemals Mutter zu werden,
der doch sonst in jedem echten Frauenherzen lebt; wollen
sich endlich nach Männerart ausleben und bethätigen.
— 216 —
Unter ihnen befinden sich nicht wenige Lehrerinnen, Er-
zieherinnen, Buchhalterinnen, Nonnen — insbesondere
Aebtissinnen — , Krankenpflegerinnen, vor allem aber ge-
hören zu ihnen, wie schon der Augenschein lehrt, zweifellos
viele der Führerinnen innerhalb der modernen Frauen-
bewegung. Sie bilden die eine Klasse der homo-
sexuellen Personen weiblichen Geschlechts.
Von ihnen wird sogleich des Näheren die Rede sein,
denn es ist klar, dass, wenn sie vorhanden sind —
und daran kann für den, der sehen will, kein Zweifel
sein — sie im Hinblick auf die Frauenfrage eine ausser-
ordentliche Rolle spielen und für deren prinzipielle Seite
von entscheidender Bedeutung sind.
Zuvor aber möchte ich mit wenigen Worten auf
einen anderen wichtigen Punkt im Gesamtgebiet der
homosexuellen Erscheinungen eingehen, der im Vor-
stehenden berührt worden ist und der um so mehr eine
gründliche Erledigung finden muss, weil ihm mehrfach
eine falsche Behandlung zuteil wird. Er betrifft die
Klassifikation der homosexuell veranlagten Menschen.
In der That giebt es unter ihnen mehr Hauptarten,
als von mancher schriftstellerischen Seite angegeben und
besprochen werden, so dass infolgedessen Eigentümlich-
keiten, die an einer Klasse der Homosexuellen vor-
handen sind, eine mehr oder minder weitgehende, unzu-
treffende Verallgemeinerung erfahren.
Den Thatsachen entspricht es, wenn wir vi er Haupt-
arten homosexuell veranlagter Personen unterscheiden:
1) die homosexuellen Männer, die sich als Mann fühlen
und deren Liebe sich daher auf Männer mit weiblichem
Wesen, vor allem auf Jünglinge oder doch jüngere
Männer erstreckt; 2) die homosexuellen Männer, die sieh
in der Rolle des Weibes fühlen und die deswegen nach
geistig und körperlich kraftvoll, d. h. thatsächlich ganz oder
vorwiegend männlich entwickelten Männern Verlangen
— 217 —
tragen ; 3) die homosexuellen Weiber, die sich in der Rolle des-
Mannes fühlen und demgemäss zarte, völlig weibliche
Naturen innerhalb des weiblichen Geschlechtes an sich ziehen
möchten; und 4) die homosexuellen Weiber, die sich auch
wahrhaft als Weib fühlen und darum zu männlich ange-
legten Individuen des weiblichen Geschlechtes Neigung
haben. Kurz gesagt: es giebt unter den Homosexuellen
virile Männer und feminine Männer, virile
Weiber und feminine Weiber.
Zum richtigen Verständnis der Natur der homosexuell
Empfindenden innerhalb aller dieser Klassen verdient
hervorgehoben zu werden, dass
1) in jedem Menschen männliche und weibliche
Elemente vorhanden sind*), nur — der Geschlechts-
zugehörigkeit entsprechend — die einen unverhältnis-
mässig stärker entwickelt als die anderen, soweit es sich
um heterosexuelle Personen handelt; und dass
2) der Hauptunterschied der Homosexuellen von den.
Heterosexuellen darin zu suchen ist, dass in den Homo-
sexuellen Männliches und Weibliches mehr ausgeglichen
ist, so dass wir unter ihnen, wenn noch eine hohe ab-
solute Entwicklung aller Anlagen hinzukommt (wozu
allerdings gehört, dass die Betreffenden homosexuelle
Männer — viriler Abart — sind), die vollkommensten
Blüten der Menschheit antreffen, wie es die Beispiele
eines Plato, Michel- Angelo, Shakespeare, Winkelmann,.
Friedrich des Grossen und mancher anderen zeigen.
Gerade der Umstand nun, dass zwischen Männlichem
und Weiblichem im homosexuellen Menschen eine grössere
Gleichheit herrscht als im heterosexuellen, hat zur Folge,
dass jener zur Ergänzung seines Wesens des eigenen Ge-
schlechtes bedarf statt des entgegengesetzten, da dieses
*) Vergl. dieses Jahrbuch, Bd. I, 1899: „Die ob jektive Diagnose
der Homosexualität" von Dr. M. Hirschfeld, S. 8—9 u. f.
— 218 —
von den Geschlechts-Eleraenten einer Art zu viel, von
denen der anderen zu wenig besitzt. Hierbei bleibt zu-
nächst noch eine Frage offen. Denn aus unserer theo-
retischen Betrachtung wird bisher nur klar, weshalb z. B.
ein homosexueller Mann sich mit keinem heterosexuellen
Weibe verbinden kann. Es ist noch zu erörtern, ob bczw.
warum er sich auch keinem homosexuellen Weibe zu-
wenden kann, das doch ebenfalls (gleich ihm selbst) eine'
grössere Ausgeglichenheit der Geschlechts-Charaktere auf-
zuweisen hat, so dass beide am Ende eine harmonische
Einheit zu bilden vermöchten.
Angesichts dieser Frage ist vor allem zu bedenken,
dass, wie es innerhalb der meisten Gruppen von Natur-
erscheinungen der Fall ist, auch unter den homosexuellen
Personen tausendfache Abstufungen sich finden. Sodann
ist hervorzuheben, dass
1) dem virilen homosexuellen Manne, dessen homo-
sexuelle Eigenart stark entwickelt ist, auch das (virile)
homosexuelle Weib einesteils noch zu sehr Weib ist,
während sich andernteils das männliche Element desselben,
gleichsam nach Anerkennung schreiend, zu sehr hervor-
drängt, statt sich mehr abwartend dem Liebeswerbenden
gegenüber zu verhalten, sich ihm jüngerhaft anzuschliessen
— eine Art in gewissen Widersprüchen hin- und her»
wogenden Kampfes, wie er indessen in der Welt des
psychologischen Geschehens nicht zu den Unmöglichkeiten,
ja nicht einmal zu den Seltenheiten gehört. Der femi-
nine homosexuelle Mann dagegen verlangt so stark nach
dem durch Männlichkeit führenden und hergehenden
Wesen, dass ihm gleichfalls — im Falle entschiedener
Ausprägung seines homosexuellen Charakters — das
homosexuelle Weib nicht zur Ergänzung seiner Persön-
lichkeit genügt. — Aehnliches lässt sich vom homo-
sexuellen Weibe sagen.
2) aber ist es eine nicht seltene Thatsache, dass
— 219 —
homosexuelle Männer, wenn ihre homosexuelle Anlage
weniger stark entwickelt ist oder wenn sie dieselbe über-
winden wollen, sich mit Frauen ehelich verbinden, die
dann selbst mehr oder minder homosexuell veranlagt sind
— und umgekehrt. In derartige Ehen treten von den
homosexuellen Männern besonders die femininen ein, die
dann die Erscheinung der Bisexualität, d. h. der doppelten
Neigung: sowohl zum Manne als auch zum Weibe, dar-
bieten — wenn man nicht überhaupt die bisexuellen Per-
sonen als eigene Gruppe von den im engeren und
strengeren Sinne homosexuellen scheiden will.
. Von denjenigen, welche die vorstehend entwickelte
Klassifizierung der Homosexuellen ausser Acht lassen,
werden vielfach die homosexuellen Männer kurzer Hand
als verweiblichte Männer = den femininen Homosexuellen
männlichen Geschlechts und die homosexuellen Weiber
schlechthin als männlich geartete Weiber = den virilen
homosexuellen Weibern angesehen und dargestellt, und
es werden demgemäss z. B. die homosexuellen Männer
als oberflächlich, unzuverlässig, kokett, unbeständig, ver-
gnügungssüchtig, rachsüchtig u. dgl. m. geschildert. M i t
Unrecht! Denn wenn es schon einseitig ist, alle fe-
mininen homosexuellen Männer, unter denen es sehr
zarte, feinsinnige, ästhetisch hochbegabte Individuen giebt,
derartig zu charakterisieren, so trifft diese Kennzeichnung
auf die virilen homosexuellen Männer, unter denen es
nach früher Gesagtem, um mit Prof. Gustav Jäger zu
reden| die Erscheinung der „Supervirilen* giebt, ganz
und gar nicht zu. —
Doch wir wollen uns nicht weiter mit einer Erörter-
ung der verschiedenen Arten der Homosexuellen be-
schädigen, wollen insbesondere die Betrachtung der Homo-
sexuellen unter den Männern, so besonders anziehend
und förderlich sie auch ist, verlassen, um — unseres
Themas eingedenk — derjenigen Klasse der homo-
— 220 —
sexuellen Weiber uns zuzuwenden, die hinsichtlich
der Frauen frage unsere besondere Aufmerksamkeit
verdient, Es ist dies, wie oben gesagt, die Klasse der
virilen homosexuellen Weiber.
In ihnen ist das männliche Element so stark ent-
wickelt, dass es nach einer Bethätigung und Befriedigung
verlangt, wie sie den Männern selbst zuteil wird oder
doch offensteht. Die Neigungen derartiger Personen
des weiblichen Geschlechts sind nicht auf die Dienste ge-
richtet, die sonst das Weib dem Manne leistet; die virile
Homosexuelle führt nicht dann ein vollkommenes Leben,,
wenn sie am Manne sich erheben und emporranken, wenn
sie ihm Kinder gebären und diese aufpäppeln und er-
ziehen kann; sondern sie will produktiv sein wie der
Mann selbst, sei es nun — je nach ihrer Veranlagung
und ihrem Bildungsstandpunkt — körperlich oder geistig.
Zeigt sich somit in ihr das Bedürfnis, männlichen Be-
rufsarten obzuliegen, so ist es eine Ungerechtigkeit, ihr
den Zugang zu denselben zu versperren. Was sie kann,,
insbesondere, ob sie dasselbe oder nahezu Gleiches
zu leisten vermag wie der wirkliche Mann — das
mag, das wird sich zeigen. Jedenfalls darf ihr die
Möglichkeit nicht genommen werden, sich ihren An-
lagen und Neigungen gemäss zu entwickeln. Dass dies
eine unbedingte Forderung der menschlichen Gerechtig-
keit ist, wird jeder zugeben müssen, der erkannt hat,
dass es Weiber giebt, die eben nicht reine Weiber sind,
sondern in die Sphäre des Männlichen hineinragen, an
ihr partizipieren.
Die Frauenfrage stellt sich hiernach unter einem
eigenen Gesichtswinkel dar. Es handelt sich bei ihr nicht
nur, ja nicht einmal hauptsächlich um die Versorgung
der eigentlichen Weiber, d. h., um im Sinne der oben
vorgeschlagenen Terminologie genau zu reden : der hetero-
sexuellen Weiber, welche sich dem Manne gegenüber
— 221 —
zurückgesetzt fühlen (was bei ihnen im allgemeinen gar
nicht der Fall ist) oder in sozialer Beziehung schiecht
gestellt sind (was allerdings auf alle Fälle zu berück-
sichtigen ist), sondern es handelt sich — in prinzipieller
Hinsicht — um d i e (viril homosexuell veranlagten) weib-
lichen Personen, die von dem inneren Drang erfüllt
sind, es in ihrem Wirken, in der Entfaltung ihrer Kräfte
und Fähigkeiten dem Manne gleichzuthun. Weil es aber
derartige Frauen und ein derartiges Verlangen in ihnen
giebt, darum ist mit sozialer Fürsorge die Frauenfrage
und Frauennot nicht zu beseitigen, darum offenbart sich
in ihr ein so gewaltiger, tiefer Zug nach freiheitlicher
Entwicklung. Noch einmal sei es gesagt, dass diese frei-
heitliche Entwicklung nicht die eigentlichen, echten
{heterosexuellen) Frauen verlangen, sondern jene im Vor-
stehenden gekennzeichneten Wesen, die, in der Maske
des weiblichen Geschlechts erscheinend, doch eine so stark
ausgebildete Männlichkeit besitzen, dass es nicht fort-
dauernd gebilligt werden kann, ihnen diejenigen Gebiete
zu verschliessen, in denen allein sie sich auszuleben im-
stande sind,
„Sich ausleben* — frei und rein, der natürlichen
Anlage gemäss, das ist ja das Zauberwort einer neuen
Zeit, deren Morgenröte uns entgegenlacht. Giebt es
Weiber mit nicht zu unterdrückendem männlichem Be-
tätigungsdrang — und die unbefangene und vorurteils-
lose Beobachtung lehrt es — so sei ihnen der Weg frei-
gegeben, auf den sie dieser Drang verweist.
Da sich nun aber durch kein roh-äusserliches Son-
-dierungs- Verfahren, durch kein Examenssieb oder dergl.
die echten Weiber von der in Betracht kommenden Klasse
der virilen homosexuellen Weiber unterscheiden lassen,
so müssen allgemein den Frauen die Berufe der Männer
eröffnet werden. Freilich dürften die Frauen nicht —
entsprechend etwa dem allgemeinen Schulzwange oder
222 —
sonstwie — in dieselben noch überhaupt in die
männliche Bildun gs Sphäre hineingedrängt wer-
den, weil wir sonst — unter den wirklichen Weibern
— der Natur nicht konforme Missbildungen züchten
könnten, wie sie teilweise schon jetzt die „höheren Töch-
ter* repräsentieren; nur das muss den Frauen gewähr-
leistet werden, dass diejenigen, die berufen, fähig und
gewillt sind, sich in der Bildungssphäre des Mannes zu
bewegen und zurechtzufinden, nicht von ihr ausge-
schlossen werden. Wer von ihnen sich in sie ver-
irrt, wird sich herausstellen. Prüfungen bezw. die Ur-
teile der Lehrer müssen — wie beim männlichen Ge-
schlecht — darüber entscheiden. Dass dabei trotz allem
Existenzen verunglücken können und verunglücken werden,
darf die Kulturmenschheit nicht abhalten, der Unter-
drückung ein Ende zu machen, unter der ein Teil ihrer
Mitglieder so lange geseufzt hat.
Es liegt übrigens nicht die von ängstlichen Gemütern
bef ürchtete Gefahr vor, dass die eigentlichen Frauen, die
ihrem ganzen Wesen nach dazu ausersehen sind, Haus-
frauen und Mütter zu werden, ihrem natürlichen Berufe
werden entzogen werden, wenn nur Freiheit waltet,
Zwang und Schematisierung ausgeschlossen bleiben. Die
Natur, die mächtige Gestalterin, wird jeden dahin drängen,
wohin er seiner Beschaffenheit und seinen Trieben nach
gehört.
Wir können nunmehr unsere Betrachtungen über die
Frauenfrage mit folgendem, wie ich glaube, ebenso er-
schöpfenden wie befriedigenden Endergebnis schliessen:
Es handelt sich bei der Frauenfrage um zweierlei,
und zwar deshalb, weil der Begriff „Frau* (ebenso wie
der Begriff „Mann") kein schlechthin einheitlicher ist
Hat man das weibliche Geschlecht im allgemeinen,
vorzugsweise also das Gros desselben: die Masse der
eigentlichen — heterosexuellen — Frauen im Sinne, so
— 223 —
ist die Frauenfrage nichts als ein Teil der grossen sozialen
Frage. Physiologisch und psychologisch vertieft dagegen
wird sie und an Schwergewicht gewinnt sie, wenn man
nur einen beschränkten Teil des weiblichen Geschlechts:
die Klasse der virilen homosexuellen Weiber in Betracht
zieht Dann rechtfertigen sich die weitergehenden, all-
gemeinen Forderungen, die von vielen Führern und
Führerinnen im Kampf um die Frauenrechte erhoben
werden.
Möge die Zeit nicht fern sein, wo alle Welt die
rechte physiologische und psychologische Einsicht in das
Wesen der menschlichen Geschlechter erlangt und daher
ein verständiges und gerechtes Urteil über die dadurch
bedingten Probleme gewinnt!
17 Fälle von Koincidenz von Geistesanomalien
mit Pseudohermaphroditismus,
zusammengestellt aus einer Gesamtkasuistik von
713 Beobachtungen von Scheinzwittertum
von
Franz Neugebauer,
Vorstand der Gynaekologischen Klinik des Evangelischen Hospitals
in Warschan.
Im Jahre 1896 war mir vom Gericht die Untersuchung
eines jungen Mädchens wegen zweifelhaften Geschlech-
tes übertragen worden, gleichzeitig die gerichtlich medi-
zinische Expertise bezüglich des Geisteszustandes dieses
jungen Mädchens. Es war eine Anklage wegen Giftmordes
gegen dasselbe erhoben worden. Das Mädchen, 18 Jahre
alt, einer Familie aus den besten Kreisen angehörig, war
angeklagt Mutter und Bruder mit Strychnin vergiftet zu
haben, wobei der 9-jährige Bruder dem Gifte erlag, die
Mutter aber dank rechtzeitig erteilter Hilfe gerettet wurde.
Die Angeklagte hatte sofort nach der Katastrophe an-
gegeben, sie habe nur sich selbst vergiften wollen, indem
sie das Gift in ihren Suppenteller geschüttet, dass aber
ein Teil des Giftes in die Suppenterrine gelangt sei, sei
ein Zufall gewesen und habe keineswegs in ihrer Absicht
gelegen! Das Mädchen gestand also die Absicht eines
Selbstmordes zu 1 Die nächste Frage war, warum sie sich
habe vergiften wollen? Es handelte sich um einen Selbst-
mordversuch aus Verzweiflung. Die Ursache zu dieser
— 225 —
Verzweiflung war die, dass das Mädchen einer „erreur
de sexe" zum Opfer gefallen war. Man hatte irrtümlich
einen männlichen Scheinzwitter als Mädchen erzogen.
Ich kann hier nicht die detaillierte Beschreibung dieser
Beobachtung geben aus von mir unabhängigen Gründen
(siehe: F. Neugebauer: Ein junges Mädchen von männ-
lichem Geschlecht, verhängnisvolle Folgen einer irr-
tümlichen Geschlechtsbestimmung. Internationale photo-
graph. Monatsschrift für Medizin und Naturwissenschaft,
III. Jahrgang, 189G). Die irrtümliche Geschlechts-
bestimmung hatte zu einem Zerwürfnis zwischen Mutter
und" Tochter geführt, zu einer Reihe endloser seelischen
Qualen für das junge Mädchen, das sich als Mann fühlte
und auf eigene Faust hin sich einer ärztlichen Unter-
suchung unterzog, von den beteiligten Aerzten aber den
Bescheid erhalten hatte, es liege weibliches Geschlecht
vor, während doch die unglückliche Person Beweise ihrer
männlichen Natur gefühlt und gesehen hatte. Das Haupt-
moment, welches die tragische Katastrophe herbeigeführt
hatte, war nichts Anderes, als der Fehler, den die von
dem Mädchen konsultierten Aerzte begangen hatten, zu
erklären, es liege bestimmt weibliches Geschlecht vor,
statt wenigstens vorsichtiger handelnd das Geschlecht
für zweifelhaft zu erklären und einen in diesen Fragen
erfahreneren Kollegen zu Rate zu ziehen. Nachdem ich
nach eingehender Untersuchung und Konstatierung von
normalem Sperma das männliche Geschlecht unzweifelhaft
festgestellt hatte, wurde gerichtlicherseits der Zivilstand
der Angeklagten geändert Sie erhielt männliche Kleider
und männliche Rechte. In den Gerichtsverhandlungen,
die nun weiter folgten, wurden uns drei Experten vom
Gericht folgende drei Fragen vorgelegt: 1) Konnte
die Entwicklungsanomalie der Geschlechts-
teile des Angeklagten einen Einfluss haben
auf seinen seelischen Zustand, auf seine psy-
Jahrbuch II. 25
- 226 —
chische Sphäre? 2) Lag hier eine angeborene
psychische Anomalie, psychische Minder-
wertigkeit vor oder war dieselbe erst später
entstanden und zur Entwickelung gelangt? —
3) War sich die angeklagte Person im Moment
ihres verbrecherischen Handelns der Gesetz-
widrigkeit ihres Handlung sowie des Charak-
ters dieser Handlung bewusst oder hatte sie
die That bedangen im Zustande momentaner
Umnachtung ihres Verstandes, momentaner
teilweiser oder gänzlicher Sinnverwirrung,
Unzurechnungsfähigkeit?
Meine Antwort auf diese Fragen lautete folgender-
massen:
ad I: Der JEntwickelungsfehler der Geschlechtsteile
hatte eine irrtümliche Geschlechtsbestimmung zur Folge
gehabt: das Kind, ein Knabe, wurde als Mädchen ge-
tauft und erzogen. In den ersten Kinderjahren konnte
dieser Irrtum für den psychischen Zustand des Kindes
irrelevant bleiben, sobald aber der Charakter des Kindes
sich zu bilden begann und die Geschlechtsreife erreicht
war, so begann der Einfluss dieser fehlerhaften sozialen
Lage sich zu zeigen. Die junge Person begann als
Mann geschlechtlich zu empfinden, verriet stets nur
Neigung zu männlicher Beschäftigung, Selbständigkeit und
hatte sehr stark ausgesprochene erotische Gefühle auf
das weibliche Geschlecht hin gerichtet. Der Geschlechts-
trieb war vorzeitig erwacht und äusserte sich ungewöhn-
lich stark, wie das oft namentlich bei wie hier vor-
liegendem Kryptorchismus beobachtet wird (siehe: „Etudes
sur la Monorchidie et la Cryptorchidie chez
Hiomme" par Ernest Godard. Paris 1857). Die
nächste Folge war Masturbation vom 16. Jahre an. In
einer Mädchenschule plaziert, verliebte sich die junge
Person bald in die eine bald in die andere ihrer Mit*
— 227 —
Schülerinnen oder Lehrerinnen, es kam zu heissen Ge-
fühlsergüssen. Es folgten in rascher Folge mehrere
Liebesverhältnisse, die mehr oder weniger weit gingen,
zu allerhand Geklatsch die Veranlassung gaben, endlich
zu allerhand Chantage-Affären mit Androhung der Ver-
öffentlichung gewisser Thatsachen, falls nicht die und die
Summe bezahlt werde etc. Je mehr die Mutter dieses
Verhaltens ihrer Tochter gewahr wurde, desto strenger
wurde die Tochter beaufsichtigt, durfte oiicht allein aus-
gehen, bekam die bittersten Vorwürfe zu hören, oft auch
harte Strafen. Die Folge davon war ein absolutes Zer-
würfnis mit der Mutter, ja ein Hass gegen dieselbe.
Dazu kam der vergebliche Kampf mit dem Laster der
Masturbation, die Angst vor etwaigen für das Gedächtnis
deletären Folgen dieses Lasters, worüber das Mädchen
Manches gelesen hatte. Später las die junge Person be-
unruhigt durch ihre körperliche Beschaffenheit und ihre
nicht weiblichen Gefühle, Ausbleiben der längst erwar-
teten Periode etc. in verschiedenen Büchern nach, verfiel
auf den Verdacht, ob sie nicht ein Hermaphrodit sei,
worüber sie in dem Konversationslexikon gelesen hatte.
Die junge Person sehnte sich nach einem männlichen
Berufe, schwärmte für das Universitätsstudium, das ihr
verschlossen bleiben musste als einem Mädchen.
Der Kampf mit der Masturbation, die Angst vor
deren Folgen, die Angst vor Schande infolge der immer
häufiger ihr drohenden Chantagebriefe, das Zerwürfnis
mit der Mutter, das eigene Bewusstsein männlicher Natur,
mit dem Zwange zeitlebens als Weib leben zu müssen^
die heisse Liebe zu einem Mädchen, wobei die Möglich-
keit einer ehelichen Vereinigung ausgeschlossen war, alles
das zusammen war die Quelle einer stetig zunehmenden
geistigen Aufregung und unaussprechlicher seelischer
Qualen. Endlich fasste die junge Person einen Entschluss.
Ihre letzte Hoffnung war darauf gesetzt, wenn ein Arzt
15*
— 228 —
sie untersuche, werde man ihr männliche Rechte zu-
sprechen. Mit Ueberwindung ihres Schamgefühles unter-
zog sie sich ohne Wissen der Mutter einer ärztlichen
Untersuchung. Der von den Aerzten gefällte Entscheid,
sie sei ein Weib, weil sie eine Scheide besitze, hatte eine
erschütternde Wirkung! Nun war Alles aus! die letzte
Hoffnung vernichtet aus dieser verhassten falschen sozialen
Lage herauszukommen! Die junge Person beschloss diesem
verfehlten Leben, welches ihr nichts als seelische Qualen
bot, ein Ende zu machen! Bis hierher war ihr Handeln
logisch gewesen und ergab sich ein Gedanke als die Folge
des aiideren. Mit voller Ueberlegung traf sie die An-
stalten zu dem beabsichtigten Selbstmorde, sie verschaffte
sich von einem befreundeten Arzte ein Rezept für
Strychnin unter dem Vorwande, die Mutter brauche
Strychnin zur Vergiftung der Wölfe auf ihren Gütern,
sie versuchte, ob das Strychnin sich besser in heissem
oder kaltem Wasser löse etc. Nun aber beginnen Wider-
sprüche in ihrem weiteren Handeln. Sie trug den Betrag
für das gekaufte Strychnin in das Kassabuch ihrer Mutter
ein, damit es so aussehe, als habe die Mutter das Strychnin
gekauft, "sie entnahm der Flasche einen Teil des Pulvers,
die Flasche selbst aber mit der Aufschrift „Strychnin"
stellte sie in die Kommodenschublade ihrer Mutter.
(Wozu ? um den Verdacht zu wecken, die eigene Mutter
habe sie vergiftet?) Nach allen Vorbereitungen kommt
der Moment der That: die junge Person in der Blüte
ihrer Lenzjahre stehend sieht den baldigen Tod vor sich!
Nachdem sie Strychnin auf ihren Teller geschüttet hat,
giesst sie mit der Kelle Suppe auf den Teller, den sie an
die Suppenterrine stützte — in diesem Momente tritt die
Mutter in das Zimmer ein, um am Mittagstische Platz
zu nehmen. Die Hand zittert, etwas von dem Inhalt des
Tellers schwappt in die Suppenterrine über. Wenn die
junge Person nur sich selbst umbringen wollte, wie konnte
— 229 —
sie es mit ansehen, dass die Mutter und der Bruder von
der vergifteten Suppe assen? Hier ist das gesamte
Handeln voller Widersprüche ! Alles spricht dafür, dass
das junge Mädchen im Moment der schrecklichen That
unzurechnungsfähig war. Den grausigen baldigen
Tod vor Augen, gab es sich keine Rechenschaft mehr von
seinem Handeln! Es muss der Seelenzustand dieser jungen
Person, welcher bis zum Tentamen suicidii führte und im
Momente dieser That bis zur Unzurechnungsfähigkeit, als
die Folge der falschen sozialen Lage der Person be-
trachtet werden, letztere aber als die Folge der irrtüm-
lichen Geschlechtsbestimmung! Es besteht ein kausaler
Zusammenhang zwischen dem seelischen Zustande des
Angeklagten und der anomalen Beschaffenheit der Ge-
schlechtsteile resp. — der irrtümlichen Geschlechtsbe-
stimmung.
Die Literatur verfügt über drei analoge Fälle, wo
eine „erreur de sexe* zum Selbstmorde führte, den ersten
Fall hat Tardieu in extenso beschrieben, indem er die
Autobiographie der Person hinzufügte: Alexina B.,
deren Geschlecht als männlich erkannt worden war, nach-
dem sie 22 Jahre lang als Mädchen gelebt hatte, machte
ihrem seelischen Leiden durch den freiwilligen Tod ein
Ende! (Siehe Tardieu: „Question m£dico-l£gale de l'i-
dentite dans ses rapports avec les vices de conformation
des organes sexuels contenant les souvenirs et impressions
d'un individu dont le sexe avait dte* m£connu." Paris
874 pg (51 — 174). Der andere Fall betrifft eine Bäuerin
Barbara Sk., welche sich mit Phosphor vergiftete, nach-
dem ihr wiederholt die Aerzte erklärt hatten, sie sei ein
Weib, obwohl sie sich als Mann fühlte; die Necropsie
ergab, dass die unglückliche Person ein männlicher Schein-
zwitter war, der den Irrtum der Aerzte mit dem eigenen
Leben bezahlte. (Protokolle der Gyn. Geb. Gesellschaft
in Kijew 1895. Bd. 8. pg 73.) Den dritten Fall, eine
— 230 —
Kohlenoxydvergiftung, haben Bacaloglu und Fossard
beschrieben. —
ad II : Im gegebenen Falle liegen keinerlei Momente
vor, welche dafür sprächen, dass eine angeborene geistige
Anomalie vorlag. Andererseits kennt die Kasuistik des
Scheinzwittertumes eine Anzahl von Fällen, wo der geistige
Zustand von Kind auf ein krankhafter war. Debierre
(„1/ Hermaphrodisme*) Paris 1891. pg 134: .,Herma-
phrodisme au point de vue psychologique" schreibt:
„Les pseudoh ermaphrod i tes sont ils des
Gtres normaux au point de vue moral? II est
assez difficile de repondre h cette question d ;
une facon catlgorique. Les uns sont faibles d'esprit,
les autres, s' ils sont intelligents, actifs et laborieux, dit-on,
sont le plus souvent d£siquilibr£s; ce seraient des impulsifs.
Christian, Legrand du Saulle, Magnan ont Sig-
nale Y importance des malformations genitales (Cryptorchi-
die, hypospadias) sur le developpement des maladies men-
tales. Raffe ge au conseille au mexlecin alilniste et au
meMecin legiste de considerer les sujets de ce genre comrae
des d£g£neres et de les traiter comrae tels. Cette con-
clusion, base> sur un certain nombre d' observations du
reste comporte une importance qui n T Ichappera h, per-
sonne. Ce point de vue de la question est d* autant
moiii ii oublier qu'il parait aussi bien Itabli que Von
trouve souvent des antecedents her£ditaires du cöte* du
Systeme nerveux chez les pseudohermaphrodites, hypos-
pades, cryptorchides. — Des lors, si ce sont des d£g£neres
ils peuvent aussi bien devenir des impulsifs, irr^sponsables.
La chaine n* est pas briste, le nenropathe engendre
Physttfrique aux goAts, aux allures et aux penchants fugi-
tifs et bizarres; il donne naissance au chorelque ou k
l'epileptique et de celuici la fammile s' achemine vers la
folie." Für Debierre ist der Pseudohermaphrodit ein
geistig anormales Individuum, welches auch „deg£ner£ tt
— 231 —
sein kann: „d'oü k Panomalie pbysique peut se joindre
la defectuositä psychique." „Ce n'etait qu'un d£sh£rit£
mais il peut devenir un danger pour autrui.* Im gegebenen
Falle liegen keine positiven Anzeichen einer Degeneration
vor*) ebensowenig Verdacht auf die von Vielen angezwei-
felte „Moral Insanity/sondernnur Unzurechnungsfähig-
keit im Momente der That. Die That selbst aber war die
entfernte Folge der perversen sozialen Lage des Indivi-
duums. Hätten die seiner Zeit von der Person konsul-
tierten Aerzte nicht den Irrtum der falschen Geschlechts-
bestimmung begangen, sondern das Geschlecht richtig als
männlich erkannt oder zum mindesten erklärt, sie können
die Frage nicht entscheiden und behufs Entscheidung die
Person an einen mehr kompetenten Arzt gesandt, so
würde schwerlich die junge Person den Selbstmordversuch
begangen haben. Hätte man rechtzeitig der Person die
ihr zuständigen männlichen Rechte zuerkannt, so hätte
dieselbe wohl ihr moralisches Gleichgewicht, den Seelen-
frieden wenn nicht ganz so wenigstens in hohem Grade
wiedererlangt, dessen sie verlustig gegangen war nach
Erreichung der Geschlechtsreife.
ad. III: Die falsche soziale Lage des Angeklagten
samt allen Besonderheiten, die höher oben aufgezählt
sind, lässt es wahrscheinlich erscheinen, dass der Ange-
klagte im Moment der verbrecherischen That sich im Zu-
*) Der verstorbene 9jährige Bruder litt an „Epilepsie nocturna"
lind wies die Sektion phthisische Cavernen in den Lungen auf, die
Mutter ist hochgradig neurasthenisch, der Vater leidet an einer
Tabes. Wenn ich auch die Möglichkeit einer organischen Belastung
hier nicht in Abrede stellen darf, so glaube ich doch, dass wenn
der Angeklagte seiner geschlechtlichen Anlage gemäss als Mann er-
zogen worden wäre, Uberhaupt sein Geisteszustand ein normaler
geblieben wäre, es wäre dann Uberhaupt nicht zu dem unglück-
lichen Familiendrama gekommen, das ihn vor die Schranken des
Gerichtes geführt hat.
— 232 —
stände einer verminderten oder aufgehobenen Zurechnung^*
f ähigkeit befand. Da ein Beweis für beabsichtigten Mord
der MutteT oder des Bruders nicht erbracht wurde, son-
dern nur ein Beweis für das „Tentamen suicidii* sowie
ferner, da der Angeklagte noch nicht majorenn ist, so
erfolgte eine Verurteilung zu einer Kirchenbusse und der
Angeklagte wurde unter Aufsicht der Eltern gestellt.
Gelegentlich dieser Expertise stellte ich 17 Fälle von
Koincidenz von geistigen Anomalien mit Scheinzwitter-
tum zusammen.
Da die einzelnen Mitteilungen in den verschiedensten
Zeitschriften der gesamten Welt zerstreut sind, so wird
es für den Psychopathologen und Gerichtsarzt von Nutzen
sein, die bisher bekannt gewordenen Fälle zusammen-
gestellt zu finden.
1) C. W. Allen: „ Report of a case of psychosexual
Hermaphroditisin" [siehe: Medical Record 8. V. 1897 —
siehe Referat: Wracz 1897 Nr. 29 pg. 813 (Russisch).]
Allen trug in der medizinischen Akademie in New- York
folgenden Fall vor:
Viola Estella Angell bat um Aufnahme in das
Asyl für moralisch gefallene Frauen in der Florence-
Mission. Sie wurde 1874 als das 17., jüngste Kind
ihrer Eltern geboren in Nova Scotia und erzählt, ihre
Mutter sei im dritten Monate, als sie mit ihr schwanger
ging, sehr erschrocken über einen sie verfolgenden Mann,
ihr Vater aber habe einen „teuflischen Charakter"
gehabt. Bis zum 14. Jahre wurde Viola als Mädchen
erzogen, später jedoch als gewisse Veränderungen an den
Geschlechtsorganen auftraten, gab man ihr männliche
Kleidung. Am meisten trug der Entscheid der Mutter
tu dieser Aenderung bei, welche der Ansicht war, dass
Viola als Mann sich leichter werde ihr Brot erwerben
können, denn als Mädchen. Viola wurde dann für drei
— 233 —
Jahre in einer männlichen Schule untergebracht, wo ihre
Lage eine sehr unangenehme war, weil sie von den Mit-
schülern wegen ihres mädchenhaften Aussehens ständig
ausgelacht und geneckt wurde und den Spitznamen „sissy"
sich gefallen lassen musste. Sogar die Passanten auf der
Strasse hielten den Knaben für ein verkleidetes Mädchen.
Vom 14. Jahre an trat jeden Monat eine Mastdarm-
blutung von 4 — 5 lägiger Dauer auf, welche bis jetzt bis
zu dem 23. Jahre sich regelmässig wiederholt. Ab und
zu entleert sich das Blut aus der Harnröhre statt aus
dem Mastdarm. Zu jener Zeit empfindet Angela starke
Schmerzen, welche von den Aerzten erfolgreich bekämpft
wurden mit antidysmenorrhoischen Mitteln. Schon ein
Jahr vor dem Auftreten dieser Blutungen litt Viola an
Bleichsucht, Kopfschmerzen, häufigen Ohnmächten und
starkem Husten, in den letzten drei Monaten hatte sie
vor jeder kommenden Blutung starke Leibschmerzen.
Der Harn soll stets sowohl durch die in dem penis ge-
legene Harnröhrenöffnung als auch durch den Mastdarm
abgeflossen sein. Viola hatte niemals eine Erektion
oder Pollution und empfand nur geschlechtlichen Trieb
zu Männern, d. h. sie empfand als Frau. Viola oder
An gell, wie er jetzt genannt wurde, hatte mehrere
Male den Beischlaf mit Männern ausgeübt, zu einem Bei-
schlaf mit Frauen empfand er niemals die Lust. Da
Angell durchaus keine Neigung zu männlicher Beschäf-
tigung empfand und überhaupt ihm das Leben als Mann
im höchsten Grade zuwider war, so kleidete er sich auf
eigene Faust hin wieder weiblieh und entfloh aus dem
Elternhause, nahm eine Stellung als Dienstmädchen an,
später aber bat er um Aufnahme in das vorgenannte
„Asyl für moralisch gefallene Frauen*. Körpergewicht
150 Pfund, Körperhöhe 5 Fuss und 10 Zoll. Das Ge-
sicht verrät den Goethe'schen Typus, die Haare jedoch
sind infolge Brennens geringelt. Die Barthaare sind
— 234 —
offenbar ausgerissen, Gesichtsausdruck weiblich. Sopran-
stimme; die rechte Brust war grösser als die linke, ein
Fuss und eine Hand sollen männlich, die anderen weib-
lich gebildet sein (? N.), Becken männlich. Charakter
und Neigungen absolut weiblich. Hysterie; Intellekt sehr
beschränkt, Hang zur Musik und Poesie. In dem Hoden-
sacke liegen die auf Druck sehr empfindlichen Geschlechts-
drüsen, der Cremasterreflex fehlt vollkommen. An gell
behauptet bei der Aufnahme, alle vier Wochen Blutungen
aus dem Mastdarm und der Harnröhre zu haben. Damm
sehr lang, Mastdarmöfihung breit und klaffend von
fleischigen Erhabenheiten umgeben, ähnlich den Hymenai-
resten. (? N.) Aus der Mastdarmöffnung tropft noch Blut
(nach Angabe des An gell soll dies der letzte Rest der
letzten Monatsblutung sein). Der sphincter ani iternus
ist dick — enges Mastdarmlumen — , erinnert an eine
portio vaginalis uteri. (? N.) Es gelang nicht, eine
Kommunikation zwischen Harnblase und Mastdarm nach-
zuweisen. Man fand auch keine Spur von weiblichen
Geschlechtsorganen vor. Man hatte nur wenige Tage
lang die Gelegenheit, An gell zu beobachten, da er Angst
bekam, man werde ihn wieder in die ihm verhasste
männliche Kleidung stecken und eines schönen Tages
wieder die Flucht ergriff. Er hinterliess nur einen Brief,
in dem er schrieb, er werde gutwillig männliche Kleider
anlegen und sich „so oder so 4 einrichten! Eigentümlich
ist es und schwer zu verstehen, weshalb die Eltern das
Kind, als es zur Welt kam, als Mädchen tauften, da ge-
sagt ist, man habe später keine Spur weiblicher Ge-
schlechtsorgane gefunden, zweitens giebt die allmonatliche
typische Blutung ein Rätsel auf, sofern diese Angabe auf
Wahrheit beruht, drittens frappiert der Umstand, dass
das allgemeine Aussehen dieser Person so weiblich war,
dass selbst die Passanten auf der Strasse den schon als
Jungen gekleideten An gell doch für ein verkleidetes
— 235 —
Mädchen hielten, ferner das absolut homosexuale ge-
schlechtliche Empfinden. Die erweiterte Analöfihung und
die Angaben des nur mit Männern, niemals mit Frauen
ausgeübten Beischlafes weisen auf Päderastie hin, wobei
An gell die passive Rolle übernahm. Allen betont die
geringe Intelligenz des Individuums. Leider fehlen jeg-
liche Angaben über die Antecedentien des Vaters und der
Mutter, vom Vater ist nur gesagt, er hatte einen „teuf-
lischen Charakter" aber nicht, ob hier Lues hereditaria
vorlag, ob der Vater einiTrinker war etc. [Leider konnte
ich mir die Originalbeschreibung von Allen nicht ver-
schaffen, sondern war auf Referate in dem Journal:
„Wracz* und Fromme Ts Jahresbericht angewiesen.]
2) J. C. Carson und Hrdliczka: „An interesting
case of pseudohermaphroditismus masculinus extermus.*
(Albany Medical Annais. Vol. XVIH. Nr. 10. 1897. —
Referat: Centraiblatt für Gynäkologie 1898. Nr. 13 pg. 341.)
In einer Anstalt für idiotische Kinder wurde eine
weiblich gekleidete, als Mädchen erzogene 27jährige
Person untergebracht. Möns Veneris behaart, unterhalb
eine Schamspalte, aus der in der oberen Partie eine penis-
artige Clitoris hervorragt, die so aussieht, wie der penis
eines mosaischen Knaben von 4 — 5 Jahren. Eichel und
Vorhaut existieren; dieses Glied ist aber nicht von einer
Harnröhre durchbohrt. Es finden sich grosse Scham-
lippen, die unten etwas breiter sind als oben, die kleinen
Schamlippen fehlen. Die Harnröhrenöffnung liegt in der
Tiefe einer trichterartigen Grube, unterhalb dieser Harn-
röhrenöfinung liegt die von einem Hymen umgebene Oeff-
nung der Vagina. Die Scheide ist eng, lässt aber den
Finger auf 7 cm Tiefe ein. Weder Ovarien noch Uterus
wurden getastet. Die Scheide gleicht einer solchen nach
vaginaler Hysterektomie. In jeder grossen Schamlefze
wurde ein Gebilde von der Gestalt eines Hodens ge-
tastet. Es scheint sich also um einen Mann zu handeln
— 236 —
mit Hypospadiasis peniscrotalis und ziemlich langer
Scheide.
Ueber das Wesen der Geistesanomalie ist nichts
Spezielleres angegeben, als dass das Individuum in die
Idiotenanstalt aufgenommen wurde.
3) Georges Dailliez: [„Les sujets du sexe dou-
teux etc. Thfcse de Paris. Lille 1893] giebt 1. c. Seite 39
die Biographie der Marie L£onie Antoinette, des
einzigen Kindes vermögender Eltern. Das Kind wurde
als Mädchen erzogen, lebte vorherrschend in weiblicher
Umgebung. Im 14. Lebensjahre zeigte sich ein Anflug
von Schnurrbart, Kinnbehaarung und die Stimme wurde
männlich. Ebenso änderte sich zusehends der Charakter
des Kindes. Endlich traten solche Erscheinungen auf,
welche die Eltern veranlassten, einen Arzt zu konsultieren.
Die Professoren Pelletan, Dubois und Boyer kon-
statierten, dass das Mädchen ein männlicher Schein-
zwitter sei mit Kryptorchismus behaftet. Man fand sogar
die Prostata und stellte fest, dass das Kind nicht nur
ein Mann sei, sondern auch in Zukunft fähig zur Fort-
pflanzung und dass diese Fähigkeit noch gesteigert werde
durch den Kryptorchismus. „Les naturalistes savent que
les animaux dont les testicules ne se montrent jamais au
dehors, ont plus de salacitd que dans le cas contraire
(Haller). 4 * Pelletan zitierte hier Haller: ,Elementa
Physiologica" T. VII pg. 415: „Non rarum est, ut aut
imup alter testis aut omnino uterque scrotum non subeat
ini|ue inguine moretur, aut in annulo aut demuni in ab-
(Inmifle maneat, quales homines veteres minime ignoraverunt
et dixerunt testicondos. Nulla inde noxa sequitur et potius
saliu-iores fuisse autores exstant. Sed etiam inanimalibus
ra fabrica reperitur.*
Die drei Herren erklärten: „Le vice de conformation
exn'rieure ne sera jamais qu'un l£ger obstacle auquel
fioatmct saura pourvoir.* Das Tribunal änderte dem-
— 237 —
gemäss den Zivilstand des Mädchens und Marie wurde
fortan als Mann erzogen.
In der Folge wünschten die Eltern, besorgt, ihr Ge-
schlecht könne aussterben, der Sohn solle heiraten. Sie
konsultierten abermals Pelle tan, welcher abermals er-
klärte, das Zurückbleiben der Hoden in der Bauchhöhle
könne keinen Einfluss auf den Kopulationsakt an sich
haben. Der Sohn wurde also verheiratet, aber die Ehe
blieb kinderlos. Man trat eine Hochzeitsreise an, welche
volle zwei Jahre dauerte. Im Laufe dieser Zeit täuschte
die junge Gattin eine Schwangerschaft vor und auch die
Entbindung, indem auf Verlangen des Mannes ein fremdes
Kind untergeschoben wurde um Erbschaftsansprüche er-
heben zu können auf den Nachlass des Grossvaters. Die
junge Frau litt so furchtbar unter dem Bewusstsein des
mit ihrem Manne gemeinsam ausgeübten Betruges, sowie
unter dem Einflüsse seiner „travers d* esprit", dass
sie nach einigen Jahren aus Kummer und Sorge krank
geworden, elend zu Grunde ging. In der Folge suchte
der Witwer nachzuweisen, das Kind sei nicht seines,
sondern ein fremdes, untergeschobenes, da er zu jener
Zeit impotent gewesen sei, als angeblich seine Frau
schwanger geworden war. — Dieses Individuum ging
schliesslich nach einem Leben voller Ausschweifungen zu
Grunde an Myelitis cum paraplegia, incontinentia alvi et
urinae.
4) Charles Dulles (zitiert nach Garin:
Wjestnik obszczestwjennoj Gigjeny, sudjebnoj i prak-
ticzeskoj Mediciny T. XXIX. Kniga II. Fewral 1896
pg. 59) schreibt: Ein gewisser Delbert Reynolds
in San Raphael in Kalifornien geboren, heiratete
als Frau einen Schmied vom besten Rufe in der
Ortschaft Ale na und gilt von jener Zeit an als liebendes
Weib unter dem Namen „Belle Hardmann". Der
Mann ist bereit darauf zu schwören, seine Frau sei ganz
— 238 -
normal gebaut, die Mutter jedoch behauptet, das Kind
sei bei der Geburt ein Knabe gewesen und bis zum 20.
Jahre ein solcher geblieben, der Knabe habe stets in
männlicher Umgebung gelebt und männliche Arbeiten
verrichtet.
Nach der Angabe eines Arztes in San Franzisko soll
sich der Wechsel des Geschlechtes binnen anderthalb
Jahren vollzogen haben, was keinem Zweifel unterliegen
könne (?) Dr. Du 11 es wandte sich nun an den Hausarzt
der Familie Reynolds. Dieser, Dr. Henry A. Dubois,
erklärte, er habe das Kind stets für einen Knaben ge-
halten, desto mehr später als der Bartwuchs erschien,
und erklärte sich die Verheiratung des Delbert an einen
Mann entweder als Folge einer Psychopathie oder
als die Folge der Sucht von sich reden zu machen
und die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
(The Philadelphia Medical and Surgical Reporter. X. 1890.
Nr. 43. pg. 90.) Es wäre interessant, wenn einer der
dortigen Kollegen dieser merkwürdigen Beobachtung auf
den Grund gehen wollte. Es ist ja immerhin möglich,
dass Delbert ein männlicher Scheinzwitter ist mit einer
den Beischlaf gestattenden Scheide und homosexuellem
Empfinden.
5) Dailliez (1. c. pg. 37) zitiert als Beispiel von
Demoralisation eine von Filippi in Florenz beschriebene
Person zweifelhaften Geschlechtes, die Filippi in einer
humoristischen Brochure: ,Umo o donna?" beschrieben
hat Virginia M. sollte eine missbildete Frau sein.
Schon im 10. Lebensjahre veranlassten sie heftige erotische
Triebe zur Masturbation. Sie empfand stets Hang zu
Männern, aber mehr „par besoin d'affection m orale,
car il me plait" sagte sie „d' €tre libre comme
l'air et de n'etre commandde par personne, pas
meme par mes parents." Jm 20. Lebensjahre hatte
sie den ersten Beischlaf mit einem Mann. „J' avais"
— 239 —
schreibt sie, ,,1'esprit plein de cette chose et je la
dlsirais. Maintenant, j'ai (toujours besoin
d'£motions et de changer souvent d'homme et de
pays." Dieser geschlechtliche Hang zu Männern schlug
später in das Gegenteil um und Virgin ie hatte später
zweimal den Beischlaf mit Frauen ausgeübt. „8i ce n'
etait mon physique petit et mäle* fügt sie hinzu,
je sens que je ferais fortune au milieu des artistes
dramatiques.* Es liegt eine Aberration des geschlecht-
lichen Empfindens vor, die heute einer Erklärung noch
vergeblich harrt.
6) Guermonprez („Une erreur de sexe avec ses con-
s£quenccs* Annales d'Hygifene publique. Paris. Septembre-
Octobre 1892) beschreibt eine ihm am 2. VIL 1892 von
Dr. Keumeaux aus Dünnkirchen zugesandte Person.
Das 23jährige Fräulein meldete sich bei Guermonprez
mit einem Briefe von Keumeaux, der die Worte ent-
hielt. „Sujet interessant au point de vue psychologique"
„La personne porte des v€tements de femme d'une
manifere bien Strange, ses traits sont durs, sa contenance
embarrass£e, sa parole h&itante et brfeve, et son allure
aussi £nigmatique que le mot d' introduction qui 1' annonce."
Dieses Fräulein war vor einer Woche zum Besuche ihrer
Verwandten eingetroffen und sofort erkrankt unter Er-
scheinungen der Stuhlverhaltung, des Erbrechens und
Schmerzen. Man konstatierte eine Inguinalhernie, welche
sehr tief herabreichte. Es war unmöglich, eine Unter-
suchung vorzunehmen ohne sofort eine bizarre Ueber-
raschung zu empfinden! Dieses Fräulein erwies sich als
Mann! Guermonprez war erstaunt und staunte noch
mehr, als das Mädchen ihm sagte, sie halte sich für ein
Weib, habe oft mit Männern den Beischlaf ausgeübt und
empfinde nur zu Männern geschlechtlichen Trieb.
«Bizarre contradiction entre la valeur anatomique du
sujet et les caractäres psychiqucs de ses tendances
— 240 -
.sexuelles!" Man beseitigte mit Erfolg die Erscheinungen
einer Brucheinklemmung durch entsprechende Therapie.
Am 4. Juli untersuchte G. diese Person genauer: Die
Stimme war absolut männlich. Einen eigentümlichen Ein-
druck machte diese Person in ihren weiblichen Kleidern :
„toilette mal ajustäe: denule de gräce et de legferetl!
Tous le £l£ments qui la composent sont bien en rapport
avec les modes de la saison, mais la broche est placee
maladroitement de cöt£, la ceinture remonte d'avantage
d'un c6t£ que de l'autre, les fleurs et les rubans de son
chapeau sont disposäs sans goüt et tout l'ensemble
repond k une sorte de negligeance qui n'est nullement
la conslquence d'un mauvais vouloir, mais qui rlsulte
manifestement de cette absence de bon goüt, de bon ordre,
de soin de sa personno, de tendance k la parure, qui
caracterise quelques femmes mal doules, il n* y a rien
qui ressemble raeme de loin k la coquetterie!* Gesichts-
ausdruck männlich, tägliches Basieren verlangt der üppige
Bartwuchs. Der Damm, die Schenkel, die Unterbauch-
gegend sind stark behaart, die Schambehaarung reicht
bis an den Nabel. Linkerseits findet sich eine 18—19 cm
tief herabreichende Inguinoscrotalhernie. Der Leisten-
kanal lässt bequem zwei Finger zugleich eintreten. Nach
Reduktion des Bruches tastet man in der scheinbaren
Schamlefze Hoden, Nebenhoden und Samenstrang.
Während diese Organe rechterseits von normaler Grösse
sind, sind sie linkerseits etwas kleiner, atrophisch. Zwischen
dem gespaltenen Penis und dem Damme liegt eine Scham-
spalte, in der sich die scheinbar weibliche Harnröhren-
öflhung und die Oefihung der Scheide befinden. Keine
Spur von Uterus entdeckt, ebensowenig eine Spur einer
Prostata. Androraastie. Allgemeinaussehen und Becken
echt männlich. „Tous les mouvements dlmontrent les
formes musculaires, les saillies osseuses et articulaires et
meme les veines souscutanles avec la vigueur et Paccen-
— 241 —
tuation qui caractfcrise le sexe masculin." Das Mädchen
hatte niemals die Periode, wohl aber oft Erektionen und
Pollutionen. Bis zum Jahre 1891 führte sie wie es scheint
ein keusches Leben, später jedoch trat sie in ein öffent-
liches Haus ein, nahm später alle Augenblicke wechselnd
die verschiedensten Stellungen an, in Bierhäusern, Cafös
etc.! Sie führte eine „vie de d£bauche" und sank von
Stufe zu Stufe immer tiefer. Obwohl der Beischlaf mit
Mäunern ihr Schmerzen verursachte, so blieb sie doch
bei dem horizontalen Mutier! Guermonprez hält sie
für psychopathisch affiziert und glaubt, dass diese
Psychopathie im Zusammenhange stehe mit der ange-
borenen Anomalie der Geschlechtsteile.
7) Louet („Des anomalies des organes glnitaux chez
les d£gdner£s". Thfese de Bordeaux 1889) (zitiert von
Laurent: „Les bisexu6s,gyn6comastes ethermaphrodites*
Paris 1894 pg. 215) sah einen männlichen Scheinzwitter
von weiblichem Aussehen der Geschlechtsteile (wegen
Hypospadiasis peniscrotalis), „qui dtait manifestement un
d6s£quilibr£".
8—9) Magna n (Soci6t£ mldico — psychologique. —
siehe Laurent: 1. c.) erwähnt ebenfalls zwei männliche
Scheinzwitter „dlbiles au point de vue intellectuel."
10) Magnan (Communication ä la Soci£t£ nildico-
psychologique 28. II. 1887. Archives de Neurologie.
T. XIII. Nr. 39. Mai 1887 pg. 419) beschrieb einen
männlichen Scheinzwitter mit Hypospadiasis peniscrotalis
von weiblichem Aussehen, welcher sich der Päderastie
hingab (siehe Laurent: 1. c. pg. 208). Dieses als Mäd-
chen erzogene Individuum war in einer Mädchenschule
untergebracht worden. Schon im 7. Lebensjahre bemerkten
die Mitschülerinnen etwas Absonderliches in dem Bau
der Geschlechtsteile ihrer Schlafgenossin. Sie wurde dann
in einem Kloster plaziert. Im 13. Jahre verliess dieses
Individuum das Kloster und trat in das Kloster der
Jahrbuch II. 16
— 242 —
Benediktinerinnen ein, wo man es vorbereitete für das
Noviziat. Der absolute Mangel jeder Intelligenz, die Un-
lust zu irgend welcher Arbeit, endlich das Hervorsprossen
eines männlichen Bartes brachten es mit sich, dass das
unglückliche Wesen vielfach zur Zielscheibe des Spottes
gewählt wurde. Infolgedessen verliess dieses Mädchen
bald das Kloster und kehrte zu seiner Mutter heim. Nach
dem Tode des Vaters schloss sich das Mädchen an einen
60jährigen Mann an und reiste mit ihm auf die Insel
Martinique. Kaum aber war das Paar in Amerika an-
gekommen, so fing der Mann an, sein Dienstmädchen zu
poussieren; da er jedoch bald zur Ueberzeugung kam,
seine desideria werden pia bleiben, dass ein richtiger
Beischlaf nicht gelingen werde, so entschloss sich das
Paar zu gegenseitigem buccalen Onanismus. Eine Negerin,
die in demselben Hause diente, erkannte alsbald den
Sachverhalt des Baues der Geschlechtsteile ihrer Kameradin
und lud sie in ihr Bett ein. Das Mädchen kohabitierte
nun als Mann mit der Negerin, später mit einer Mulattin,
empfand jedoch weder hier noch dort die Annehmlich-
keit, welche ihr der angeblich geschlechtliche Verkehr
mit dem alten Manne bereitete. Nach erfolgter Rückkehr
nach Frankreich erlangte dieser männliche Scheinzwitter
endlich die ihm zustehenden männlichen Rechte und trat
als Infirmier in eine religiöse Genossenschaft ein.
11) C. E. L. Mayer (Verhandlungen der Gesell-
schaft für Geburtshilfe in Berlin 1869 pg. 102) (.Die
Beziehungen der krankhaften Zustände und
Vorgänge in den Sexualorganen des Weibes zu
Geistesstörung") beschrieb einen 52jährigen geistig
gestörten männlichen Scheinzwitter.
12) Moreau (siehe Laurent: 1. c. pg. 215) stellte
in der Society mtfdico-psychologique in Paris ein 12 jähriges
Mädchen vor, bei dem die Untersuchung männliches Ge-
schlecht feststellte mit Hypospadiasis peniscrotalis, einem
— 243 -
erektilen Penis, Kryptorchismus und einem utriculus mas-
culinus. Das Kind war behaftet mit „D£bilit£ moral e*
(Bulletin m^dical 3. IV. 1887 — siehe auch: Repertoire
Universel d'Obst&rique et de Gynäcologie 1887 pg. 321).
13) Poppesco (, Hermaphrodisme au sexe mal d£-
fini" in der Arbeit: „L'hermaphrodisme au point
de vue m£dicol£gal. Thfese. Paris 1874) beschreibt
pg. J4 folgende Beobachtung. 1867 wurde er zu einem
Freunde eines seiner Bekannten geholt. Er traf unter
der ihm gegebenen Adresse einen jungen Mann von un-
gefähr 25 Jahren an, der jedoch weiblich gekleidet war.
Langes Kopfhaar, keine Spur von männlicher Gesichts-
behaarung vorhanden. Die Bewegungen, das Gebaren,
die Allüren dieser Person waren solche, dass Poppesco
sich unwillkürlich fragen musste, ob er es mit einem
Manne oder mit einer Frau zu thun habe. Auf die
Frage, worum es sich handle, wurde dieses Individuum
verlegen, bat um Stillschweigen über den Untersuchungs-
befund, ging dann in das Schlafzimmer, entkleidete sich
und legte sich ins Bett. „Cette chambre", schreibt P.,
„etait magnifiquement orn£e; des parfums innombrables
£taient diss£min£s cä et \k tout en un mot dans cet appar-
tement revdlait la coquetterie la plus efltfminde." Das
merkwürdige Individuum klagte über Schmerzen in den
Geschlechtsorganen. Poppesco fand eine Clitoris von
5 — 6 cm Länge, einen gespaltenen Penis mit Eichel und
Vorhaut Unterhalb findet sich eine Grube, welche den
Finger aufnimmt und in der sich die scheinbar weibliche
Harnröhre öffnet. Die Person hatte weder jemals die
Periode gehabt noch fand sich eine Spur eines Uterus
vor. Die grossen Schamlefzen erschienen normal, auf
der rechten fand sich ein weicher Schanker, weshalb
Poppesco geholt worden war. Der Bekannte war der
Liebhaber dieser Person. Die Stimme war weiblich.
Poppesco fand keine Spur von Hoden; der Brustkorb
IG*
— 244 —
war breit, die Brüste wenig entwickelt. Diese Person
empfand keine Spur von geschlechtlichem Triebe zu Frauen.
Da sie vermögend war, hielt sie sich zahlreiche Be-
dienung und zwar nur männliche. P. sah die Person
mehrmals in sehr grellen Farben gekleidet, in allerhand
phantastischer Kleidung. Zu Hause ging diese Frau stets
weiblich gekleidet umher, sowie sie aber auf die Strasse
ausging, trug sie männliche Kleider. Da P. nicht im
Stande war, Hoden oder Eierstöcke zu konstatieren, so
konnte er auch das Geschlecht dieser Person nicht be-
stimmen, deren geistiger Zustand ebenfalls unerklärlich
blieb, jedenfalls aber pathologisch zu nennen ist.
14) Porti IIa ( „ Annales de Ost^tricia, Ginecopathia
y Pediatria N: 89, 1888, siehe Referat: Repertoire
Universel d' Obst£trique de Gyn^cologie et de Pädiatrie
1888 pg 502. „Pseudohermaphroditi8me feminin*) be-
schrieb ein in Valencia geborenes, jetzt 20 Jahre altes
Individuum von 160 Centimeter Körperhöhe, augenblick-
lich gefänglich inhaftiert wegen Teilnahme an einer
revolutionären Bewegung. Allgemeinaussehen und Brüste
weiblich, die Scheide endet blind (?); es existiert ein
hypospadischer penis. Hoden konnten nicht getastet
werden. Angesichts dessen, dass dieses Individuum nur
Geschlechtsdrang zu Frauen empfand und trotzdem ein
Beischlaf mit einer Frau unmöglich sich erwies, könnte
man dieses Individuum für einen männlichen Scheinzwitter
halten, aber das Vorhandensein einer regelmässigen
Periode spricht für das Vorhandensein von wenn auch
rudimentären Ovarien, „c'est un homme-femme par son
aspect, par son caractfcre hautain et indocile, par sa
conduite comme citoyen; il a £t£ consid£r£ comrae un
homme a instincts d£prav£s, mlritant la punition de la
justice." Leider ist die Beschreibung eine sehr wenig
genaue.
1 ^ Reverchon („Annales mt'dicopsychologiques
— 245 —
V — eme s£rie T. IV. 28 — eme ann£e. pg 377) beschrieb
eine Person aus der Anstalt für Geisteskranke im Asyl
in Laroche Gandon: Marie C hupin, die bis zum 30.
Lebensjahre als Frau gelebt hatte. In jenem Alter be-
gann sie ihr weibliches Geschlecht zu bezweifeln und
unterzog sich einer ärztlichen Untersuchung. Das Er-
gebniss war, dass man sie für einen Mann erklärte und
ihr männliche Rechte zuerkannte. Um diese Zeit
herum beging diese Person ein Verbrechen, sie
6türzte ein Kind in einen Brunnen. Die That
geschah im Moment einer geistigen Umnachtung.
Kaffegeau („Du röle des anomalies cong£niales, des
organes g£nitaux dans le de*veloppement de la folie chez
l'homme". These. Paris, 1884 pg 38) giebt einige Details
betreffend diese Beobachtung an: Er hatte die Gelegen-
heit, Marie Chupin mehrmals zu beobachten in dem
Asyle de Saint-Gemmes sur Loire, wo er als
Assistent des Dr. Petrucci arbeitete. Im Jahre 1881
wurde Marie Chupin in dieser Anstalt beschäftigt als
Aufwärterin, sie war damals im Alter von 43 Jahren und
gehörte es zu ihrem Dienste, die Zimmer der Aerzte auf-
zuräumen. Marie Chupin von hohem Körperwuchse,
von 171 Centimeter, war sehr kräftig gebaut, hatte einen
starken Bartwuchs und nur ein Auge, das andere hatte
sie in der Kindheit eingebüsst aus unbekannter Ursache.
Die Brüste waren grösser als gewöhnlich bei Männern.
Der Kehlkopf stand fast gar nicht vor und erinnerte
mehr an einen weiblichen als an einen männlichen, ebenso
ist die Stimme eher weiblich. Die Behaarung im Allge-
meinen ist sehr spärlich mit Ausnahme der Schamgegend.
Hypospadiasis peniscrotalis: Der 5 Centimeter lange
penis ist hakenförmig nach unten gebogen, die Harn-
röhrenöffnung weiblich, die Harnröhre drei Centimeter
lang. Angesichts des Modus der Harnentleerung findet
Marie Chupin die männlichen Hosen viel bequemer
— 240 —
als ihre frühere weibliche Kleidung. Zu seinem Erstaunen
fand Raffegeau unterhalb der Harnrohrenöffnung die
Oeffhung einer für den Finger in der Länge von 9 Centi-
metern eingängigen Scheide, die in der Höhe blind endete.
Um die Oeffnungen der Harnröhre und Scheide erblicken
zu können, musste man die beiden kleinen Schamlippen
auseinanderziehen, die sich unten mit einer Art frenulum
mit einander vereinigten. Es handelt sich um ein ge-
spaltenes Scrotum, rechterseits eine leicht reduzierbare
hernia inguinalis, nach Reduktion derselben tastet man
einen Hoden und Nebenhoden in der Schamlefze.
Während der Erektion krümmt sich der penis noch mehr
als sonst nach unten, sodass Marie Chupin ihn schwer-
lich jemals pro coitu mit einer Frau benützt haben dürfte.
Als Marie Chupin geboren wurde, erklärte die Heb-
amme, das Kind sei ein Mädchen und der herbeigeholte
Pfarrer pflichtete dieser Ansicht bei! In der Schule hatte
Marie sehr schlechte Zeugnisse und hatte nach 18monat-
lichem Schulbesuche kaum das ABC gelernt. Im 13.
Jahre jedoch lernte sie ohne fremde Hülfe lesen und
begann alsbald mit besonderem Eifer religiöse Bücher zu
lesen, sie empfand einen ganz besonderen Reiz darin, sich
mit Angelegenheiten zu beschäftigen, welche Kirche und
Religion anbetrafen und gehörte zu mehreren Kongre-
gationen, indem sie deren Vorschriften streng beobachtete.
Als sie mehr herangewachsen war, bemerkte sie mit
Schrecken, das« ihre erwartete Periode ausblieb, ebenso-
wenig nahmen ihre Brüste an Umfang zu, statt dessen
fand sich ein männlicher Bartwuchs, welcher sie zwang,
sich ständig zu rasieren. Immerhin erwartete Marie
noch immer ihre Periode und Hess sich, um deren Ein-
treten zu beschleunigen, Blutegel setzen, gebrauchte heisse
Fussbäder mit Senf etc! Endlich jedoch machte sie sich
vertraut mit dem Gedanken an das Ausbleiben der Periode,
Im 35. Jahre erkrankte sie an Typhus und drei Jahre
— 247 —
später ereignete sich ein Zufall, der Marie Chupin in
das Irrenbaus führte. Schon seit längerer Zeit schlief
Marie in einem Bette mit einer sehr schönen Kousine
aus Nantes und begann damals ihr weibliches Geschlecht
anzuzweifeln, ja sie hob sogar den Unterrock und das
Hemd einer anderen 14jährigen Kousine in die Höhe,
um das Aussehen der Geschlechtsorgane derselben mit
dem der eigenen zu vergleichen! Der Gedanke, dass sie
anders gebaut sei als andere Frauen, fing an, sie beständig
zu quälen, und sie trug sich seit längerer Zeit mit der
Absicht, einen Arzt zu fragen, was das bedeute. An-
dererseits kam sie oft in Streit mit ihrem älteren Bruder,
der bis zur Schlägerei führte. Endlich beschloss Marie,
ihren Heimatsort zu verlassen, jedoch verweigerte man
ihr die Auslieferung eines Passes. Sie verfiel damals auf
die schreckliche Idee, welche eine psychische Anomalie
und religiösen Fanatismus verrät: Nur um arretiert und
untersucht zu werden, beschloss sie einen Mord zu be-
gehen, sie ergriff eines Morgens das Kind einer Nach-
barin und stürzte dasselbe in einen 32 Fuss tiefen Brunnen.
Sofort nach dieser Unthat, ohne sich um das Loos des
Kindes zu kümmern, das"" übrigens gerettet wurde, begab
sie sich in die Gensdarmerieverwaltung des Ortes, um
ihr Verbrechen zu bekennen, sie erklärte, sie häbe sich
an ein Kind gewandt „parcequ' il etait en £t&t de gräces
et qu'il £tait sur d'aller au ciel. Au reste il esp£rait*
schreibt Raffegeau „que la Sainte Vierge ferait un
miracle et que son action servirait seulement ä faire re-
connattre son identitä.* Im Oktober 1868 wurde Marie
Chupin in weiblicher Kleidung in das Irrenasyl einge-
liefert. Binnen Kürze verwechselte sie das weibliche
Kostüm mit einem männlichen und verriet starke Ge-
wissensbisse und Reue nach ihrer That, „mais ses id£es
restaient bizarres, on se voyait en prlsence d'une intelli-
gence mal Iquilibrle, et aujourdhui encore, on doit h£siter
— 248 —
avant de tenter un essai de sortie!" In der Familie der
Marie Chupin gab es mehrere Fälle von Geisteskrank-
heit, auch war ein Epileptiker darunter. Marie resp.
der Mann, wenn Marie ein solcher ist, verrät eine De-
generation psychischerseits.
16) Ricoux und Aubry („Un prltendu androgyne
dans un Service de femme". Le Progres mddical 1899
Nr. 37 pg. 183): Es handelt sich um die Beschreibung
eines Individuums, welches die beiden Aerzte untersuchten
in der Anstalt für Geisteskranke in Mar£ville. Die Be-
obachtung ist doppelt interessant, erstens, weil das In-
dividuum einen bisexuellen Lebenswandel trieb, zweitens,
weil man irrtümlicherweise einen 72 jährigen Mann in der
Abteilung für kranke Frauen untergebracht hat! Nach
der Geburt dieses Individuums wurde verzeichnet, es ge-
höre dem hermaphroditischen Geschlechte an (sie!) und
wurde ihm ein doppelter Vorname gegeben, ein männ-
licher und ein weiblicher. Nach Abfluss eines Jahres
fand eine Untersuchung auf Veranlassung des Prokurateure
statt und wurde das Geschlecht als männlich bestimmt.
Dieses Individuum war 1828 geboren. In seiner Familie
waren bisher keinerlei Missbildungen beobachtet worden.
Einer der Brüder ist verheiratet und hat Kinder. Bis
zum 10. Jahre wurde dieses Individuum als Knabe er-
zogen, damals aber gaben ihm die Eltern weibliche Klei-
dung, weil das Kind nicht im Stande war zu harnen, ohne
sich die Hosen zu beschmutzen und weil sie dem vor-
beugen wollten, dass der Sohn zum Militär genommen
werde. Von jener Zeit an bis zum Eintritt in die An-
stalt, galt dieses Individuum als Zwitter, „il resta un
homme-femme." Die weitere Beschreibung zitiiere ich im
Original: „Suivant la manifere assez repandue en Lorrain
de d&igner par les diminutifs en: „on* comme Manon,
Fauchon etc. les femmes au type raasculin, D. fut
appell Finon. IVune intelligence ddbile, il frlqnenta
— 249 —
peu P£cole et fut employ£ k la garde des pourceaux.
Devenu plus grand, ses travaux restferent plutöt des
travaux d'homme: il travaillait au bois, fauchait et s'£tait
fait une sp£cialit£ des plus rüdes besognes: £quarissage,
forage des puits, vidange etc. Quand les occupations
masculines lui faisaient d£faut, D. tricotait et faisait la
lessive; malgr£ le costume feminin, les allures de D.
£taient celles d'un homme. Porteur d'une forte barbe, il
se rasait chaque seraaine, montait k cheval, fumait, jurait
et s'enivrait. II lui arrivait parfois, aprfcs avoir absorbl
de copieuses rations d'eau de vie, de s'attaquer aux
femmes, elles , auraient eft souvent k se dlfendre contre
ses attentats qui ne pouvaient cependant pas avoir de
grandes cons£quensces, le coit lui £tant anatomiquement
impossible. IVautre part il aurait jou£ le role inverse
vis-k-vis de soldats d'une garnison voisine. II £tait d*
ailleurs l'objet de curiositl et connu dans le pays sous
Pltiquette de femme k barbe. En resum£ d'aprfes ce
qui pr^cede, nous voyons que D. avait une existence ab-
solument bisexu£e, alliant aux travaux des champs et
aux habitudes du sexe fort des occupations et im costume
tout f&ninin. Am£n£ k P ksyle fin Juillet 1899 pa* le
garde champetre de son village, D. marchait tres difficile-
ment et donnait le bras k son conducteur. II s* £tait vdtu
d' habits de femme usls, corsage et jupe noirs, chemise
sans manche, et bonnet k ruches.
Son visage bien que fraichement rase, contrastait
singuliferement avec son bonnet blanc. Ädmis k P ksyle
en vertu d* un arret administratif avec des pifeces ne
donnant que des renseignements trfes succincts de ses
antecedents, il fut envoy£ par les bureaux dans le Service
des femmes en raison de ses pr£noms et de son costume.
La personne qui P accompagnait n' ayant pu fournir
aucun renseignement.")
„Alite dfes son arriv^e dans un dortoir de femmes,
— 250 —
D. trfes sourd d' ailleurs, n' eut nullement 1' air depaysä
dans ce milieu. Immldiatement mis ea £veil par ses
allures et sa voix, nous 1' avons examinl facilement saus
provoquer de sa part aucun Itonnement ni aucun senti*
meut de pudeur, et nous avoos constatl, ce qui suit: les
cheveux sont assez courts, gris et rares. D. nous dit de
ne les avoir jamais coupl. La face trfes masculine nous
montre un systfeme pileux, trfes bien d£velopp£. Les
oreilles sont assym&riques, mal cerclls et nou perctfes, la
droite est sensiblelent deform£e. Le sujet ne präsente
pas a la face de signes de deg^nerescence. Les muscles
du cou sont bien developp^s ; le cartilage , thyr^oide fait
une forte saillie, il est dur et surmonte un corps thyroide
peu volumineux, le lobe median prldomine sensiblement.
La voix, forte et grave en temps ordinaire, s' adoucit
quand le malade assez craintif manifeste un sentiment de
frayeur. Le syst&me osseux est en g£n£ral trfes d£velopp<5,
les membres sup£rieures sont bien muscl£s, les avantbras
sont aplatis, les mains noueuses et 1 arges.*
„Les membres införieurcs sont maigres bien muscles.
Quelques poils assez rares recouvrent la r£gion du genou.
U arcade plantaire est tres accas^e. Le thorax est bien
conforml, cylindrique, recouvert de pectoraux vigoureux.
Quelques poils au niveau des mamelons, ces derniers
etant petita, tr^s peu saillants, le tissu glandulaire sous-
jacent fait totalement ddfaut. Le ventr« plat est niarqul
par un ombilic saillant qui se trouve a 20 centini&tres de
1' appendice xiphoide. L' ossature du bassin est tont ä
fait masculine. La distance entre P ombilic et le m£at
urinaire est de quatre centimfetres et demi. Le systfeme
pileux de la rlgion glnitoanale est normalement d^veloppe.*
„Les organes glnitaux sont ceux d'un Ipispade com-
plet avec monorchidie. Les penis est aplati et relevl
contre l'abdonien au quel il est en quelque sorte accol£,
ne permettrait pas le coit, l'intromission n'ltant
/
— 251 —
gufcre possible et le sperme en cas d'äjaculation ne pouvant
Stre proj6t4 que sur l'abdomen. II raesure 5lj milimetres
de longueur et 35 de largeur h la naissance et 46 an
niveau du gland. La paroi supärieure est constitu£ par
Purfctre £tal£e, präsentant ses dätails anatomiques normaux,
et se continuant dans la vessie par une crSte divisant en
deux un m£at v£sical, dont les dimensions sont de 15
millimgtres horizontalement, et verticalement sur la ligne
mediane de deux mi Uimfetres seulement. La face infiSrieure
du pdnis nous montre un gland 6tal6 uni par un frein
tres court k un pr£puc e sans adh£rences, qui se continue
par les faces laterales avec 1 'uretre pr£c£demment d£crite.
Le scrotum lisse, sans poils, ne präsente pas de cicatrices;
il est normalement retractile, le raphe est bien marqul.
On y trouve h. droite un testicule de volume peu ijif^rieur
ä la normale, de sensibilite trfes exag£r£e, de consistance
assez molle, coiffß d'un £pididyme nettement perceptible.
Les canaux d£ferents semblent normaux des deux c6t£s.
Le gauche se continue avec une petite masse molle, nodu-
leuse, de volume d'une grosse lentille. Pas de testicule
de ce cöt£. L'anus large dilatl pennet facilement le
toucher rectal qui fait sentir une prostate atrophi^e.*
Nach Konstatierung des männlichen Geschlechts
wurde D. in die für Männer bestimmte Abteilung ge-
bracht. Es gefiel ihm dort keineswegs und schien er
sehr geniert zu sein durch die männliche Kleidung. Er
verstand es aber sehr bald, sich dem Zwange der männ-
lichen Kleidung zu entziehen, indem er sich die Hosen
am Damme zerriss, um In der Weise harnen zu können
wie früher. Diese Beobachtung ist um so interessanter,
als trotzdem schon im zweiten Lebensjahre das männliche
Geschlecht festgestellt worden war, dennoch dieses Indi-
viduum 70 Jahre lang als Frau weiter lebte, sich selbst
zeitlebens für eine Frau hielt und auch von seiner Um-
gebung für eine Frau gehalten wurde. „L'erreur menle
jusqu' ä un asyle d'ali^n&s par Pommission de l'envoi d'un
extrait de naissance aurait peut^etre dur£ jusqu* k sa
mort si un examen des organes glnitaux ne l'eüt fait
rev£ler." Die Autoren verlangen, man solle jeden geistes-
kranken Patienten bei seiner Aufnahme unbedingt auch
auf sein Geschlecht hin untersuchen, da nur so etwaigem
Unheil vorgebeugt werden könne. Im gegebenen Falle
war freilich jede Sorge dieser Art ausgeschlossen, da D #
überhaupt nicht fähig war zur Vollziehung oder auch nur
zu dem Versuche eines geschlechtlichen Aktes.
17) White: „A Hermaphrodite in insane Asylum*
(Daniels Texas M. J. Austin 1890—1891 Vol. VII.
pg. 19G). Leider war mir nicht einmal ein Referat dieser
Beobachtung zugänglich, geschweige denn die Original-
arbeit White's.
18) Comstock („Alice Mitchell of Memphis
a case of sexual perversion of Urning* New- York Medical
Times 1892—1893 Vol. XX pg. 170) beschreibt folgende
Beobachtung: Zwei Fräulein verliebten sich in einander
und gaben sich der Lesbischen Liebe hin. Als die eine
von ihnen sich später mit einem Manne verlobte, so ent-
brannte die verlassene Freundin in einer solchen Eifer-
sucht, dass sie die frühere Lesbos-Gefährtin ermordete,
indem sie erklärte, sie könne ohne dieselbe nicht leben.
In der Gerichtsverhandlung wurde die Frage erhoben
nach der „pervertits sexuality" und dem krankhaften
Geisteszustände dieser Person.
Ich konnte leider nicht in Erfahrung bringen, ob das
Gericht im gegebenen Falle bei seinem Entscheide eine
sexuelle Perversion berücksichtigte oder nicht? War
diese Person, welcher der unerfüllte Geschlechtstrieb eine
Mordwaffe in die Hand zwängte, nicht einfach ein männ-
licher Scheinzwitter? Diese Angelegenheit soll erörtert
worden sein.: The Medical Reeord, 1892 Vol. XVI. pg.
104: „Lesbian Low and Murder*. Es wäre er-
— 253 —
wünscht, die Originalbeschreibung dieses Falles zu
kennen.
Es ist Sache des Psychopathologen, die einzelnen
Fälle kritisch zu beurteilen. Sehr eingehend erörtert die
Frage nach dem Zusammenhange zwischen Missbildungen
der Geschlechtsteile und der Entwicklung von Geistes-
anomalien Raffe geau in seiner These: „Du röle des
anomalies cong£niales des organes gänitaux
dans le d^veloppement de la folie chez Phomm e*
Paris 1874. Die interessanten Schilderungen Raffegeau's
machen es leicht verständlich, wie namentlich Kryptor-
chismus, Pseudohermaphroditismus nur allzuleicht zu
Melancholie, Verfolgungswahnen führen können. Ebenso
interessant ist auch der Aufsatz von Poppe sco: „De
l'herm aphrodisme au point de vue m£dicol£gal"
These, Paris 1874, der Aufsatz von Legrand du
Saulle: »Les signes physiques des folies
raisonnantes" Annales m£dico-psychologiques, Paris
1877, und sei das Studium dieser Aufsätze Jedem
empfohlen, der sich für die Koincidenz geistiger Anomalien
mit Scheinzwittertum interessiert.
Michel Angelo's Urningtum.
Von
Dr. jur. Numa Praetorius.
Eine grosse Anzahl berühmter Männer ist der Homo-
sexualität verdächtigt worden.
Bei Vielen mag es zweifelhaft sein, ob dieser Ver-
dacht begründet ist und überhaupt schwer sein, die
völlige Wahrheit zu erfahren, bei Keinem jedoch tritt
die urnische Natur so unzweideutig zu Tage, wie gerade
bei Michel Angelo.*) Deshalb begreift man es nicht, wie
immer noch die meisten Gelehrten den Gefühlen des
grossen Meisters verständnislos gegenüber stehn. Auch
der letzte Herausgeber der Dichtungen M. A/s**) kann
sich die Liebesgefühle des Künstlers nicht erklären und
spricht in seinen kritischen Anmerkungen von dem zur
Zeit des Dichters herrschenden Freundschaftskultus, von
dem Geschmacke des damaligen Zeitalters für eine über-
schwengliche Lyrik u. dgl.
Aehnlich drückt sich auch der Verfasser eines im
September 1898 in den „Grenzboten 44 erschienenen, die
*) Z. vgl. auch Molls in der dritten Auflage seiner r Conträren
Sexualempfindung" (Berlin 1899) S. 118: „Man möge es nur ganz,
unverblümt aussprechen, dass manches Michel Angelo betreffende
Rätsel, insbesondere seine Gedichte, am ehesten erklärbar sind,
wenn man die urnische Natur des Künstlers annimmt." Ferner
Carpenter: „Die homogene Liebe" (Leipzig, Spohr) S. 8 und 9.
**) Karl Frey: Die Dichtungen von Michel Angelo-Buonarrotti,
Berlin 1897.
— 255 —
neue Herausgabe Frey's besprechenden Artikels aus. Es
berührt wirklich eigentümlich, wenn heute noch trotz der
Forschungen über Urningtum gelehrte Philologen in
Michel Angelo's Seelenleben ein Rätsel erblicken, während
doch des grossen Künstlers Schriftwerke beredt uns
künden, dass er ein Konträrsexualer war.
Wenn man nicht annehmen will, was kaum glaublich
erscheint, dass gebildete Litteraten die Forschungen über
mannmännliche Liebe nicht kennen, so bleibt nur die
eine Erklärung übrig, dass sie beim Studium von Michel
Angelo seine konträre Sexualempfindung einfach ver-
schweigen, aus Furcht, das Ansehen des berühmten
Mannes könne darunter leiden.
Desshalb ist es doppelt angezeigt, auf Grund der
über Michel Angelo bekannten Thatsachen und insbesondere
seinen veröffentlichten Sonetten und bekannt gewordenen
Briefe seine Homosexualität nachzuweisen.
Dieser Nachweis wird uns besonders erleichtert durch
das schon im Jahre 1892 erschienene Buch von Schettler:
„Michel Angelo eine Renaissancestudie 41 (Altenburg, Ver-
lag von Geibel). Scheffler, von den obigen Vorwürfen
frei, hat uns den wahren Michel Angelo erst erschlossen.
Scheffler hat die Entstehung der Gedichte und
Briefe, sowie die Verhältnisse und Erlebnisse, aus denen
sie herausgewachsen sind, in überzeugendster Weise ge-
schildert und den Mut gehabt, unbekümmert, ob seine
Feststellungen opportun erscheinen mögen oder nicht,
den eigenartigen Eros Michel Angelo's darzulegen.
Allerdings erwähnt auch Scheffler nicht, dass es sich
bei Michel Angelo um konträre Sexualempfindung handelt
und versäumt es, des Künstlers Gefühle mit ihrem
wahren Namen als homosexuelle zu bezeichnen, daher
haftet auch seinen Schlussfolgerungen und Ausführungen
eine gewisse Unklarheit und Unsicherheit an.
Nur dann, wenn man Michel Angelo vom Gesichts-
- 256 —
punkt der Homosexualität aus betrachtet, nur dann kann
man ein völlig klares Bild seiner ganzen Persönlichkeit
und ein rechtes Verständnis seiner Dichtungen erhalten.
Die Veröffentlichung und Erklärung der Schriftwerke
Michel Angelo's hat eine wechselvolle Geschichte hinter
sich, über die uns Scheffler eingehend berichtet.
Schon zu Lebzeiten M. A.'s veranstaltet ein Zeit-
genosse, Varchi, Vorlesungen über die Sonetten des be-
rühmten Künstlers.
Varchi verschweigt nicht, dass eine Anzahl von
Sonetten an den intimen Freund M. A.'s, den jungen
Tommaso de Cavalieri, gerichtet sind, und bezeichnet auch
des Dichters Liebe zu seinem Freund als eine socratische,
voll platonischer Gedanken.
Nach Varchi kommt, wie Scheffler sich ausdrückt,
das System der Verdunkelung der Thatsachen auf.
Zunächst Condivi — noch bei Lebzeiten M. A.'s —
und dann später im 17. Jahrhundert ein Grossneffe M.
A.'s suchen die wahren Gefühle des grossen Künsters zu
vertuschen. Während Condivi M. A/s freundschaftliches
Verhältnis zu einer älteren Dichterin, der Marquese
Vittoria Colonna, als Liebesleidenschaft darstellt, revidiert
der Grossneffe einfach den Text der Sonette nach seiner
Willkür. Er lässt aus, was ihm nicht passt und allzu
deutlich M. A.'s Liebe zu Jünglingen zum Ausdruck-
bringt, deshalb ändert er an manchen Stellen einfach das
„Signior" in eine „Donna".
Erst in unserem Jahrhundert wurde der fromme
Betrug des Grossneffen entdeckt; erst in unserem Jahr-
hundert sind auch die Briefe M. A/s herausgegeben
worden, welche ein neues Licht auf seine Gefühlswelt
werfen.*)
*) Ein grosser Teil der an M. A. gerichteten Briefe sind noch
nicht veröffentlicht. Wahrscheinlich liegt der Grund dieser Säumnis
in dem allzu deutlichen Charakter dieser Korrespondenz.
— 257 —
Die Thatsache, das zahlreiche Briefe und Gedichte
Liebesleidenschaft atmen und trotzdem an Jünglinge ge-
richtet sind, kann man nunmehr kaum noch leugnen.
Die einen (so z. B. der Italiener Guasti) wollen M. A/s
Ausdrucksweise aus dem herrschenden Zeitgeschmack
erklären, ein anderer (so Lange in „M. A. als Dichter
1861) fasst den Inhalt der Sonette symbolistisch auf.
Die Liebe M. A.'s sei sein künstlerisches Ideal, unter dem
geliebten Gegenstand sei die Idee der Schönheit zu ver-
stehen; in einigen Gedichten sei unter symbolischem Ge-
wände seine Vaterstadt Florenz besungen, ja sogar seine
politischen Schmerzen habe der Dichter in die Form von
Liebessonetten eingekleidet.
Bei Langes Erklärungen weiss man nicht, ob man
sich mehr über dessen Naivetät oder seine vielleicht mehr
oder weniger bewusste Selbsttäuschung wundern soll.
Aehnliche seltsame Deutungen müssen sich auch M.
A/s Briefe gefallen lassen. Gotti (Vita di M. A. Firenze
1875) ist zwar genötigt, ihren erotischen Inhalt zuzugeben,
er meint aber, die an Männer gerichteten Liebesbriefe
seien thatsftchlich für die Marquese Vittoria Colonna be-
stimmt gewesen, die Adressaten seien nur als Mittels-
personen aufzufassen!
Scheffler verwirft alle diese gesuchten und phan-
tastischen Erklärungsversuche und stellt die wahren
Thatsachen auf Grund des Quellenmaterials, soweit es
ihm zugänglich war, fest.
Er weisst nach, dass die einzige Frau, welche in
M. A.'s Leben eine grössere Rolle gespielt hat und auf
die sich eine Anzahl von Gedichten bezieht, die Marquese
Vittoria Colonna, nur in freundschaftlichem Verhältnis
zum grossen Künstler gestanden habe und dass nur Freund-
schaft, aber keine Liebe beide verband. „ Siebenundfünfzig
Jahre muss der Künstler erst werden/' bemerkt Scheffler
treffend, „um von dem „kalten platonischen Lächeln*
Jahrbuch II. 17
- 258 —
einer frommen Matrone in Liebesglut entzündet zu werden?
Tote, stumme Zeit im Herzen, die dieser verspäteten
Episode vorhergeht, Kälte des Alters, die ihrem Ablauf
folgt?! Das wäre an einer abnormen Natur überhaupt
schon schwer zu begreifen.
Bei Michel Angelo's feurigem Künstlertemperamente
ist diese Vorstellung geradezu eine Unmöglichkeit, eine
Aufhebung seines sonstigen Seins." (Scheffler S. 155.)
Mit Recht stellt Scheffler fest, dass die der Colonna
gewidmeten Gedichte im Gegensatz zu den Sonetten an
Cavelieri einer echten Liebesleidenschaft entbehren und
nur die an Jünglinge gerichteten Dichtungen wirkliche
echt empfundene erotische Gefühle wiederspiegeln.
Scheffler zögert auch nicht, es offen auszusprechen,
dass nicht blosse Freundschaft den Meister beseelt, son-
dern wahre Liebe mit sinnlicher Grundlage, «der in der
Glut wahrer Leidenschaft sich offenbarende Eros. * ( Varchi).
Bei der Erklärung von Michel Angelos Erotik betont
Scheffler besonders, dass Piatos Werke und Gedanken
und sodann das ästhetische Gefühl die Liebesrichtung
des grossen Meisters beeinfiusst hätten.
Für Michel Angelo sei der schöne Mensch ein Kunst-
werk gewesen. Das reine ästhetische Gefühl habe zu
Freundschaft und Liebe geführt. In dem schönen Körper
habe er ebenso wie Plato nur das Abbild der seelischen
Schönheit, das Urbild der himmlischen Liebe gesucht
Die Bedeutung beider Einflüsse ist nicht in Abrede
zu stellen. Michel Angelo selber spricht sich sehr oft
gerade in Bezug auf die Liebe ähnlich wie Plato aus,
z. B. in folgendem Sonett (Scheffler S. 89):
„Die Liebe, die ich für dich, für die Schönheit, hege, stammt
im Grunde gar nicht aus dem Herzen, (das auch würdige Gedanken
hegt) sondern das gesunde Auge erfaast sie nur In deinen
Augen lebt der Abglanz des Paradieses, wo ich früher weilte.
Wie das Feuer mit der Wärme, ist meine Liebe mit diesem Ewig-
schönen verbunden. Um dorthin also zurückzukehren, wo ich Dich
— 259 —
früher (im Paradiese) liebte, stürze ich erglühend unter Deine
Augenbrauen."
Die Ursachen dieser Liebe liegen aber tiefer, nämlich in
der eigenartigen konstitutionellen Anlage Michel Angelo's.
Denn warum erblickt er das Schönheitsideal in dem
jungen Mann und nicht in dem schönen Mädchen? Warum
liebt er glühend Jünglinge, die, wie Scheffler richtig be-
merkt, weder ihrem Alter noch ihrer unreifen Bildung
nach die tiefe Seelenliebe des Meisters zu rechtfertigen
vermögen? Warum ist ihm Plato und nicht der viel
näher liegende Petrarca vorbildlich geworden?
Weil Michel Angelo in Plato dem verwandten Geist
begegnet und in seinen Lehren Entschuldigung und
Rechtfertigung seiner eigenen Liebesrichtung findet ; weil
er eben ein Urning, ein Konträrsexualer ist, dessen Natur
ihn zwingt, Jünglinge und nicht Mädchen zu lieben.
Michel Angelo selber hebt die Notwendigkeit und
Natürlichkeit seiner Liebe an einigen Stellen hervor:
„Und weiterhin handle ich in meiner Liebe ja auch unter einem
Naturzwange, der mich entschuldigt." Ferner:
„Wenn ich im Anblick Deiner göttlichen Schönheit erglühe,
ist das nur Trost, dass ich demgegenüber nicht anders kann."
(Scheffler S. 91.)
Das wichtigste Liebesverhältnis im Leben Michel
Angelo's ist dasjenige mit dem jungen Cavalieri.
Ungefähr im Jahre 1532 lernt ihn der Künstler
gelegentlich eines vorübergehenden Aufenthalts in Rom
kennen. Während des Jahres 1533 entwickelt sich dann
eine von Michel Angelo ausgehende Korrespondenz
zwischen beiden, in welcher der Meister den gewaltigen
Eindruck, den Cavalieri auf ihn gemacht hat, und die
Sehnsucht, ihn wiederzusehen, offen zum Ausdruck bringt.
Ein Passus eines auf der Rückseite eines Briefes be-
findlichen Madrigales, das die damaligen Gefühle Michel
Angelo's wiederspiegelt, mag hier angeführt werden:
„Die Liebe nimmt so mich ein und will es auch nicht, das« ich
IT
— 260 —
Anderes begehre, als was Dir gleiche. Und da von Deinen Augen-
brauen allein Tugend, Ehre, Leben, Heil abhängen, kann auch meine
Seele — von den Sinnen beschwert — nur durch Dich klar er-
fassen, was die Natur mir verbirgt und der Himmel mir verhüllt. 11
(Scheffler S. 46.)
Aus demselben Jahr entstammt wohl auch folgendes
Sonett:
„Ich sehe mit Euren schönen Augen ein süsses Licht, das ich
nicht mit den eigenen blinden erblicken kann. Mit Euren Füssen
vermag ich auf meinen Schultern ein Gewicht zu tragen, das zu be-
wältigen mir nicht gegeben ist mit meinen lahmen Füssen.
Mit Euren Flügeln schwinge ich mich auf, selbst flügelarm.
Mit Eurem Geist fühle ich mich stets zum Himmel erhoben. Nach
Eurem Gefallen werde ich bleich und heiss, bin in der Sonne kalt
und fühle mich erwarmen im starken Frost.
Mein Wille ist in dem Euren beschlossen, meine Gedanken
entstehen in Euren Herzen, und meine Worte leben in Eurem Atem.
So scheint es, ich bin wie der Mond, der für sich allein nicht
leuchtet, da unsere Augen ihn nicht am Himmel zu sehen vermögen,
ausser wenn die Sonne ihm Glanz giebt." (Scheffler, S. 49—50.)
Im Dezember 1533 kann Michel Angelo endlich
Florenz verlassen und begiebt sich nach Rom. Von
dieser Zeit an dauert nun das feste Freundschaftsverhält-
nis zwischen ihm und Cavalieri 32 Jahre lang bis zum
Tode des Meisters. Cavalieri wird Michel Angelo's
Schüler, er gewinnt einen Einfluss auf ihn wie Niemand
jemals vorher; erjdarf seiner unvergleichlichen Schönheit
wegen der Einzige sein, dessen Porträt Michel Angelo
malt, er bekommt eine Reihe von Zeichnungen des
Künstlers von diesem geschenkt; auf seinen Antrieb hin
verfertigt Michel Angelo das Modell für die Kuppel zur
Peterskiche. Während der letzten Krankheit des Meisters
verläs8t Cavalieri nicht das Bett des Freundes, er trifft
die letzten Maasnahmen vor Ankunft des Erben ans
Florenz. Von dem Erbvollstrecker erhält er die schon
zu Lebzeiten des grossen Künstlers für ihn bestimmten
Cartons mit Zeichnungen Michel Angelo's zugeteilt
(Scheffler, S. 55). .
— 261 —
Einen deutlichen Einblick in Michel Angelo's Ge-
fühle für Cavalieri gewähren uns die an diesen gerichteten
zahlreichen Gedichte, von denen noch einige hier Platz
finden mögen:
(Wir entnehmen die folgenden, ebenso wie die später
zitierten, aus derUebersetzung von Walter Robert-Tornow;
Ausgabe von Georg Thouret, Berlin, Haude u. Spener'sche
Buchhandlung 1896.)
Nr. 34: Ich spiegle mich in Dir und ans der Ferne
Erfleh ich, heim zum Himmel zu gelangen;
Gleichwie ein fisch am Haken wird gefangen,
Also geködert, komm 1 zu Dir ich gerne!
Und weil ein schwankend Herz nur dürstig schlägt,
Hab ungeteilt ich mein's Dir hingegeben,
Dass ich (Du kennst mich ja!) fast brach zusammen,
Und weil die Seele gern das Beste hegt,
Muss ewig ich dich lieben, will ich leben ....
Ich bin nur Holz, und Du bist Holz in Flammen!
Nr. 48: Wenn in den Augen wir die Seele sehen,
Sind meine meiner Gluten klarstes Zeichen;
Um Deine Gunst, mein Liebling, zu erreichen,
Genüge dies ! Du wirst mich nun verstehen.
Siehst Du in keuscher Glut mich fast vergehen,
Wird sich vielleicht Dein Sinn für mich erweichen,
Mir glaublich kaum, vertrauend ohne Gleichen,
Wie Huld Die überströmt, die sie erflehen.
0 sel'ger Tag, der einst Gewissheit bringt!
Erbarmt Euch, Zeit und Stunde, Tag und Sonne:
Steht plötzlich still in Eurem ew'gen Gange;
Dass mir's auch ohne mein Verdienst gelingt,
Zu schliessen in die Anne voller Wonne
Den holden Freund, nach dem ich längst verlange!
Nr. 50: Ich weine, mich verzehrt der Liebe Brand
Und nährt mein Herz! 0 süsses Schicksal Du!
Wer neigt sich, sterbend nur, dem Leben zu,
Wie ich, dem Trübsal ward zum Lebensband ?
— 2G2 —
Grausamer Schütz, die Hand ist Dir bekannt,
Wo uns're kurzen Qualgedanken Du
Mit starker Hand versenkst in Seelenruh!
Nie stirbt ja, wer durch Tod sein Leben fand !
Als Michel Angelo Cavalieri's Bekanntschaft machte,
war er schon in den Sechszigern. Cavalieri ist aber weder
der erste noch der einzige Jüngling, der Michel
Angelo's Liebe entfacht hat. Schon lange vor Cavalieri's
Begegnung haben ihn Jünglinge gefesselt; so sagt Michel
Angelo selber in einem Brief an seinen Freund Riccio: er
vermöge sich nicht gegen den Liebeseindruck zu waffnen
„da ein Tag die Gewohnheit langer Jahre nicht tilgt*
(Scheffler S. 167.)
Dass auch andere Jünglinge als Cavalieri ihm Liebe
eingeflösst haben, zeigt z. B. folgendes Gedicht an Febo
die Poggio:
Vor Deiner Augen Pracht
Sinkt jeder Blick, der Trotz ist tiberwunden!
Wenn einer je den Freudentod gefunden,
Geschieht's in solchen Stunden,
Wo Schönheit unterliegt der Liebe Macht.
Ich sank in Todesnacht,
Wenn sich raein Herz im Feuer nicht bewährte,
Durch deinen vielversprechend ersten Blick,
Vor dem ich nie zurück
Mein Auge hielt, das sehnend mich verzehrte.
Wenn Schwäche mich zerstörte,
Wärst du nicht Schuld; ich dürfte gar nicht klagen!
Du Huld und Schönheit, die Du niemals endest,
Zu Grabe mehr Du sendest
Je mehr Du Gnade spendest;
Bewundrer musst Du ja mit Blindheit schlagen !
Michel Angelo's Liebe zu Jünglingen tritt uns sodann
gerade in seiner Korrespondenz mit dem schon erwähnten
Riccio entgegen. Sein Verhältnis zu letzterem ist ein
eigentümliches. Riccio ist nämlich ebenso geartet wie
der grosse Künstler selber, auch er schwärrat für schöne
Jünglinge und besonders für einen, den frühzeitig — im
17. Lebensjahr — verstorbenen Cecchino Bracci.
Eiccio, dem Gleichgesinnten, gegenüber, thut sich
Michel Angelo keinen Zwang an, dem verständnisvollen
Vertrauten braucht er seine Gefühle nicht zu verbergen.
In den Briefen an Riccio findet sich deshalb manche
Stelle, wo Michel Angelo unverhohlen seine Liebe zu
Jünglingen verrät. Als der Liebling von Biccio, der
junge Bracci, stirbt, da dichtet Michel Angelo eine Beihe
von Epitaphien über ihn. Wie Biccio Michel Angelo's
Gefühle versteht, so war auch Michel Angelo wie kein
Anderer befähigt* den Schmerz und die Liebe Biccio's
dichterisch wiederzugeben.
Einige dieser Verse lauten:
(Der Dichter lässt den Toten z. B. wie folgt sprechen):
Nr. 14: Zu früh muss ich hier ruh'n; nicht tot, am Leben
Noch bin ich ; meine Seele zog nur aus
Und fand im Freund, der mich beweint, ihr Haus.
Sollt' es kein Aufgehn ineinander geben V
Nr. 17: Mein staubge wordenes Fleisch und mein Gebein,
Der Augenpracht und holder Reize baar,
Bezeugen ihm, dem einst ich Wonne war,
Wie hier die Seele wohnt in Kerkerpein.
Nr. 24: Ich lebte! ... Gut! .... Im Tode leb' ich fort,
Vom Freund geliebt noch, dem ich nun entrissen!
Tod ist ein Glück, Verklärung durch's Vermissen,
Liebt er mich mehr, als er es einst vermocht.
(Der Sarkophag spricht zu Riccio):
Nr. 84 : Dein Leben war die Lichtgestalt des Knaben,
Der tot hier liegt. Verlustlos leben Die
Und friedlich, die Cecchino gesehen nie,
Lebendig tot, die ihn gesehen haben.
Schon den Zeitgenossen des Dichters muss sein Ver-
hältnis zu den Jünglingen aufgefallen sein, denn ein
— 264 —
schmähsüchtiger Schriftsteller, Aretino, hat ähnlich wie
Heine gegenüber Platen, den Umgang Michel Angelo's
mit Jünglingen verdächtigt und in einem Schmähbrief
seinen Verkehr mit seinen Lieblingen nur auf grobsinnliche
Triebe zurückführen wollen. „Man müsse ein Gherardo
oder Tommaso sein, ■ sagt Aretino, „um Etwas von Michel
Angelo zu erlangen/
Michel Angelo selber suchte seine Gefühle mehr
oder weniger vor der Welt zu verbergen, so z. B. gerät
er in grosse Aufregung, als er erfährt, dass durch Riccio's
Schuld einige seiner Sonetten dritten Personen bekannt
geworden sind, und droht auch Riccio, dessen Sachen
(die dieser auch nicht veröffentlicht wünschte) weiter zu
verbreiten ; ferner hat er die Vorsicht, in manchen Sonetten
das im Urtext befindliche Masculinum bei den in die
Hände Dritter gelangenden Exemplaren in ein Femininum
zu verwandeln.
Michel Angelo lebte gerade in einem Zeitalter, wo
auch namentlich an den sittenlosen Höfen der Päpste
und der Medicäer grobsinnliche Männerliebe nichts un-
gewöhnliches war, andererseits Kenntnis der Urningsliebe
fehlte. Michel Angelo war daher gezwungen, seine Ge-
fühle nicht allzu offen kundzugeben, wollte er nicht be-
fürchten, sie Missdeutungen ausgesetzt zu sehen.
An manchen Stellen seiner Gedichte verwahrt sich
der Dichter selber gegen eine niedrige Anschauung seiner
Liebe :
Z. B. in Sonett Nr. 65:
Was ich, Gebieter, schau' in Deinem hehren
Gesicht, ich kann es kaum hienieden sagen:
Die Seele, noch in Fleischeslust und -plagen,
Sie durfte schonend so zu Gott oft kehren.
Und kann man's auch den Schuften nicht verwehren,
Uns ihrer eignen Sünden anzuklagen,
So gilt doch noch ein Wille ohne Zagen
Und so auch Lieb' und Treu' und keusch' Begehren.
— 265 —
Am besten wird der Weise doch vergleichen
Die Reize alle, die uns hier erfreuen,
Dem Gnadenquell, aus dem wir Menschen fliessen.
Sonst ward uns keine Spende und kein Zeichen
Vom Himmel hier, und wer Dich liebt in Treuen
Steigt auf zu Gott, wird sich den Tod versüssen.
Sonett Nr. 66:
Nur Himmelsfriede habe ich erblickt
In Deiner Augen Glanz, kein Erdenstreben;
In Ihrer reinen Tiefe sah ich leben,
Was liebevoll mein liebend' Herz berückt.
Es würde nur, was unser Aug' entzückt
Die Seele wünschen, war' ihr nicht gegeben
Gottähnlichkeit ! Sie weiss sich zu erheben
Zur Urform, weil sie Flüchtges nicht beglückt.
Mir scheint, dass Sterbliches in uns nicht stille
Die Sehnsucht nach dem Ew'gen, die uns zwingt,
Bald zu vertauschen unser Erdenkleid.
Die Sinnlichkeit ist zügellosser Wille,
Ein Seelenmord; nur edle Glut beschwingt
Uns hier mehr noch in der Ewigkeit.
So viel ist gewiss: Dies spricht aus jeder seiner
Zeilen, dies verkündet auch das Zeugnis seiner Bekannten
und dafür bürgt seiner erhabener Geist: Michel Angelos
Liebe darf nicht mit dem nur grobsinnliche Wollust
erstrebenden Eros verwechselt werden, wahre edle Liebes-
leidenschaft hat ihn erfüllt, die wenn auch durch sinn-
liche Reize angefacht, eine tiefere seelische Anziehung
sucht und mit geistigem Band Liebhaber und Liebling
umschlingt.
Desshalb wird man aber nicht jede sinnliche Be-
friedigung bei Michel Angelo für ausgeschlossen halten
dürfen.
Psychologisch und physiologisch scheint es wohl kaum
möglich, dass ein Mann wie Michel Angelo, der mit der
— 2GG —
ganzen Glut eines der gewaltigsten Künstlertemperamente,
welche die Kunstgeschichte kennt, mit der sein tiefstes
Innerstes aufwühlenden Leidenschaft des heissblütigen
Italieners Jünglinge und nur Jünglinge liebte, lebens-
länglich jedem sinnlichen Begehren entsagend, in reiner
platonischer Liebe sich verzehrt hat.
Jedenfalls weist auch manches gegen Ende seines
Lebens verfasste Gedicht — als er bald den Tod erwartet
und die Religion immer mehr sein Gemüt beherrscht —
darauf hin, dass gerade die sinnliche Seite in seinem
Leben eine grössere Rolle gespielt hat, als man gewöhn-
lich glaubt.
Fortwährend kehren die Gedanken von begangener
Sünde und von Schuld, von Reue und sündhaftem Hang
wieder.
So z. B. in Sonett Nr. 286:
Ob ich auch mein Gesicht
Verändre für den Schluss der Lebenszeit
Kann ich doch ändern nicht verjährten Hang,
Der fester mich von Tag zn Tag nmrankt.
Amor, ich berg es nicht:
Wer tot ist, weckt mir Neid!
So tief verzagt und krank
Bin ich, dass meine Seele hangt und bangt
u. s. w.
Oder in Sonett Nr. 299:
Bedrückt' vom Alter und der Sünde Schwere,
Mit eingewurzelt starkem, argem Hang
Bin ich vor zwiefach dräu'ndem Tode bang,
Und bis er naht, ich doch vom Gift nur zehre.
Mir fehlt's an eigner Kraft, die fähig wäre,
Zu ändern, Was ich trieb mein Leben lang,
Wenn Du*) nicht Ziel und Halt giebst meinen Gang,
Nicht Dein Geleit mir giebst, das leuchtend-hehre!
Bei der damaligen Auffassung der mannmännlichen
*) nämlich Gott.
— 267 —
Liebe, in einem Zeitalter, wo das Wesen der Urnings-
liebe der Wissenschaft völlig fremd ist und Wissenschaft,
Religion und allgemeine Anschauung in ihrem blinden
Verdammungsurteil einig sind, ist es nicht zu verwundern,
wenn den greisen Dichter — mochte er noch so sehr von
der Berechtigung und Natürlichkeit seiner Liebe durch-
drungen sein — Gefühle der Sündhaftigkeit seiner Liebes-
richtung befallen, wenn er mit zunehmenden Alter an
sich selbst irre wird und Gewissensbisse seinen Lebens-
abend trüben.
Heute aber, wo wissenschaftliche Erkenntnis anfängt,
die jahrhundertjährigen Vorurteile zu zerstreuen und in
das verborgene Dunkel der menschlichen Psyche heller
hineinzuleuchten, wird man den gequälten Dichter getrost
zurufen können:
Deine Liebe war nicht sündhafter als die
Liebe des Normalmannes zum Weib. Dein
Ruhm wird nicht verdunkelt, die Lauterkeit
Deines Charakters und Deiner Gesinnung nicht
befleckt, weil Du den Jüngling liebtest.
Auf alleZeiten wirst Du bleiben das strahl-
ende Beispiel eines Urnings, der mit der ihm
eingeborenen Liebe, Seelenadel, Künstlergrösse
und Genie vereinigte.
Georges Eekhoud.
Ein Vorwort
von
Dr. jur. Numa Praetorlus.
Georges Eekhoud — ein Bahnbrecher in der künst-
lerischen Darstellung der Homosexualität, ein Pfadweiser
für die poetische Auffassung der Urningsliebe — in
diesen Sätzen lässt sich die Bedeutung des belgischen
Dichters, soweit sie für dieses Jahrbuch in Betracht
kommt, zusammenfassen. Kunst und Wissenschaft ergänzen
sich gegenseitig: Während die Wissenschaft durch genaues
Studium und durch die wissenschaftliche Methode
die Wirklichkeit zu erforschen strebt, dringt der Dichter
kraft der Macht seiner Phantasie in das Wesen der Er-
scheinungen und weiss oft vermöge seines Seherblicks
dunkle Gebiete wie mit einem Lichtstrahl zu erhellen und
ungeahnte Perspektiven zu eröffnen.
Diese Erkenntnis der Homosexualität durch künst-
lerische Dichtung, dieses Eindringen in den Kern der ur-
nischen Liebe macht gerade Eekhouds Werke wertvoll
und für jeden, der sich mit der Frage des konträren Ge-
schlechtsgefühles befasst, unentbehrlich.
Wir ergreifen daher mit Freuden die Gelegenheit^
der schönen historischen Studie, welche Eekhoud dem Jahr-
buch gewidmet hat, einige Worte über den Dichter und seine
Werke, soweit sie für die Homosexualität von Bedeutung
sind,*) voranzuschicken.
*) Nur diese Seite in den Werken Eekhoud s soll hier näher
besprochen werden.
— 269 —
Georges Eekhoud ist geboren 1854 zu Antwerpen
von Eltern, die beide aus Antwerpen stammten, von seinem
Grossvater mütterlicher Seite bat er deutsches (hessisches)
Blut in den Adern. Nach frühzeitigem Verlust seiner
Eltern wurde er in ein Pensionat der französischen Schweiz
geschickt, wo er eine spezifisch französische Erziehung genoss.
Im 17. Lebensjahr musste er auf Wunsch seines Vor-
mundes die Militärschule zu Brüssel besuchen, um sich
der militärischen Laufbahn zu widmen.
Aber mit Gewalt zog es ihn zur Litteratur hin und
schon damals vertiefte er sich neben selbständiger pro-
duktiver litterarischer Thätigkeit in das Studium der
englischen und deutschen Meisterwerke, die er im Urtext
lesen konnte.
Seine Neigung für die Litteratur nahm immer mehr
zu und eines Tages verliess er plötzlich die Militärschule.
Mit seiner Familie wegen dieses Schrittes verfeindet,
war Eekhoud gezwungen, eine Zeit lang in Antwerpen
eine dürftige Stelle bei einer Zeitung anzunehmen.
Nach einer etwas stürmischen Jugend führte Eekhoud
mit dem von seiner Grossmutter ererbten Vermögen das freie
ungebundene Leben des wohlhabenden Landedelmannes.
1881 siedelte dann Eekhoud nach Brüssel über, wo
er jetzt noch wohnt.
Im Jahre 1893 erhielt er für seinen Roman: „La
Nouvelle Carthage" den alle fünf Jahre ausgeteilten Preis
für französische Litteratur, den sog. Preis des «Königs".
Seine Verehrer veranstalteten bei dieser Gelegenheit ein
grosses Fest, an dem ausser einem Teil der höchsten
Behörden Minister, Bürgermeister, Abgeordnete, nahezu
an dreihundert Künstler und Schriftsteller teilnahmen.
Eekhoud ist heute Kunstkritiker an der Zeitung „La
R^forme" und Professor an der „Uni versitz Nouvelle*
in Brüssel. Er liefert ausserdem den Monatsbericht für
Belgien in dem Pariser „Mercure de France".
— 270 —
Eekhouds Hauptwerke sind ausser dem erwähnten
Roman „La Nouvelle Carthage", aus früherer Zeit: tKees
Doorik», cKermesses», tLes Milices de Saint Francis»,
tNouvelles Kermesses» ; ferner cLes Fusilles de Malines»,
sodann aus den Jahren 1896 und 1897 die zwei Novellen-
sammlungen: tLeCyclePatibulaire» und «MesCommunions»
und aus dem Jahre 1898 ein weiterer Roman: cEscal Vigor».
Zu nennen sind auch noch dieUebersetzungen der englischen
Dramen: Philaster von Beaumont und Fletscher, Duchesse
de Malfi von Webster und des echt homosexuellen Stückes
Eduard II. von Marlow, ferner Studien über die englische
Litteratur und die Zeit Shakespeares.
Eekhoud, einer der bedeutendsten Roman- und
Novellenschriftsteller Belgiens, kann geradezu als der
Führer der jungbelgischen Litteraturschule bezeichnet
werden.
Schon Eekhoud's Sprache verrät eine eigenartige
Persönlichkeit. Vor keiner Neuerung und Kühnheit der
Wortbildung zurückschreckend, wenn sie zum charakter-
istischen Ausdruck des Gedankens dient, macht er sich
die Erwerbungen der jüngsten Richtung nutzbar, ihre
Uebertreibungen aber vermeidend, verleiht er seinem Styl
durch Wärme und Schwung persönliches Gepräche.
Alles, was Eekhoud schreibt, erglänzt in echt künsterischem
Gewand, zielt auf ästhetische Wirkung und poetische
Gestaltung hin.
Und doch huldigt Eekhoud nicht bedingungslos dem
Satz: «L'art pour Part," sucht nicht den Selbstzweck in
prunkenden Formen und Farbenbildungen, will nicht des
Absonderlichen wegen nach seltsamen Gefühlen und
Stimmungen haschen; aber ebensowenig verliert er sich
in die trockene Wirklichkeitsphotographie und den Kleinig-
keitskram eines trüben Naturalismus, obgleich er sozial
verpönte Leidenschaften und gesellschaftlich niedrig
stehende Menschen gerade mit Vorliebe malt. UeberaU
— 271 —
durchbebt der warme Hauch lebhafter Sympathie der
Pulsschlag eigenen Mitempfindens und Mitgefühls die
Gestaltungen des Dichters.
Der ausgesprochene Schönheitssinn Eekhoud's, sein
Bestreben allen Erscheinungen die ästhetische Seite ab-
zugewinnen, erklärt seine Bewunderung für die mensch-
lichen Formen, da wo die Schönheit am reinsten erstrahlt,
in dem männlichen jugendlichen Körper; giebt den
Schlüssel zu seiner oft enthusiastischen Schilderung
frischer Naturburschen und kraftstrotzender harmonisch
gebildeter Volkstypen.
In vielen Stellen seiner Werke tritt dieses sinnlich
gefärbte Wohlgefallen an männlicher Schönheit, Grazie
und Anmut, diese Verherrlichung jugendlicher Kraft,
Tüchtigkeit und Selbstbewusstsein hervor, ohne dass das
homosexuelle Moment direkt betont würde, so namentlich
in seinem ersten Roman: „La nouvelle Carthage*, wo ins-
besondere die Schlusskapitel „Le Moulin de pierre", „Les
Runners", „Contumace", „Le Carnaval", „La Cartoucherie"
schwärmerische Begeisterung für die Plastik und Schön-
heit ländlicher Arbeiter, herrlich geformter Piraten und
unerschrockener flämischer „Runners 11 atmen.
Aber Eekhoud ist weiter gegangen. Die Verstossenen
und Parias der Gesellschaft, Ausnahmemenschen aller
Art, nach Freiheit dürstende Seelen, Feinde des Alltags-
lebens und der gesellschaftlich geheiligten Form und
Konvention wählt er zu seinen Lieblingshelden.
Und so führt ihn seine Zuneigung zu den Sozial-
geächteten und -missachteten in Verbindung mit seiner
Bewunderung für männlicher Schönheit dazu, die Anar-
chisten der Liebe, die Gefühlsrebellen, die Homo-
sexuellen künsterisch zu verwerten und befähigt ihn
das schwere Problem wie kein Anderer, zu verstehen.
Die Novellensammlung: Le Cycle patibulaire(Mercure
de France Paris 1896 (Der Zyklus der Leidenden) ent-
— 272 —
hält an deutlich homosexuellen Novellen: Zunächst
„Aux bords de la Durme • und „Suicide par amour."
Beide die Macht der Einbildung und Phantasie; gleich-
sam die Projizierung des inneren Gefühls auf ein durch
die Einbildungskraft und die Sehnsucht nach Verwirk-
lichung des Schönheitsideals verklärtes Objekt darstellend.
Ferner: Ä Le tribunal au Chauffoir": Die er-
greifende Lebens- Liebes- und Leidensgeschichte des
homosexuell Geborenen, der jahrelang seine glühende
Leidenschaft unterdrückt, bis er bei der Verlobungsanzeige
des Geliebten die langverhaltene Glut nicht mehr be-
meisternd dem Freund seine wahren Gefühle gesteht,
von diesem aber auf immer Verstössen wird. Im Sinnen-
taumel sucht der Urning Vergessenheit und Beruhigung
aber vergeblich. Haltlos vom Strudel der sinnlichen
Lust hingerissen ereilt ihn sein Verhängnis — das Ge-
fängnis, wo er seine Leidensgeschichte erzählt und selbst
bei den Verbrechern Teilnahme und Mitleid findet
Sodane: „Le Tatouage": Die Eifersucht des Mannes
gegenüber dem Jüngling, der ihm angehörte, und der
Heroismus des Jünglings, der, als das Zeichen seines
früheren Liebesverhältnisses — die auf seinem Arm täto-
wierten Liebesworte — im Streite mit dem früheren ge-
liebten Mann den Blicken der Anwesenden sichtbar wird,
mit glühendem Eisen den verräterischen Spruch ausbrennt.
Endlich: „Le Quadrille du Lancier 11 : Der ganze
Unverstand und die Grausamkeit der boshaften Menge
gegenüber den Homosexuellen und der Sieg der Schön-
heit und der selbstbewussten Ueberlegenheit des un-
schuldig Verfolgten trotz seines Unterganges. Der wegen
homosexuellen Vergehens aus dem Regiment verstossene
Oavallerist wird nach dem schmaoh- und schmerzvollen
Spiessrutenlaufen zwischen den Reihen seiner Kameraden
* einem öffentlichen Tanzlokal von den Weibern erkannt
•ud langsam hingemartert. Vergeblich suchen die er-
— 273 —
bitterten Frauen den Weiberfeind zu bekehren und ihm
ein Gefühl für ihre Reize einzuflösen. Durch die Ruhe,
Schönheit und das Selbstbewusstsein des Märtyrers werden
wie durch eine magnetische Kraft selbst die zuschauenden
Männer umgestimmt. Sie gebieten zwar der Wut der
Frauen keinen Einhalt, aber nichtsdestoweniger geht der
Gefolterte mit der tröstenden Gewissheit zu Grunde, dass
er in den Blicken der Männer Sympathie und Berech-
tigung seiner Liebe gelesen hat
In dem Novellenband : „Mes Communions" (Mercure de
France Paris 1897) behandelt Eekhoud das homosexuelle
Problem in: „Apoll et Brouscard", „Une mauvaise ren-
contre", „Le sublime escarpe" und ,Une partie sur Peau\
Apoll et Brouscard bringt zum Ausdruck die
gegenseitige leidenschaftliche Zuneigung zweier Vaga-
bunden, ihr inniger Liebesbund, der sie durch alle Aben-
teuer ihres Verbrecherlebens hindurch zusammenhält, bis
eines Tages Brouscard von einer vorübergehenden sinn-
lichen Begierde für ein wollüstiges Weib ergriffen, mit
dem eifersüchtigen Apoll in Streit gerät und in einem
Augenblick sinnverwirrender Wut dem geliebten Freund
einen tötlichen Messerstich versetzt. Sofort aber ernüchtert
und überwältigt vor Schmerz und Reue wirft sich Brous-
card, Verzeihung erflehend, dem Sterbenden in die Arme,
während er mit einer mechanischen Bewegung seines
Messers nach rückwärts das buhlerische Weib tot nieder-
streckt und gelassen die gerichtliche Sühne erwartet.
„Une mauvaise rencontre". Die seelische Ge-
meinschaft zwischen Prinz und Vagabund, der veredelnde
Einfluss des Prinzen auf den Verkommenen und die
Macht seiner Liebe, welche dem Verbrecher die schon
bereite Mordwaffe entwindet und den Hass und die Hab-
sucht in Reue und Anhänglichkeit für einen Mann um-
wandelt, der nie geahnte Worte der Güte und Milde zu ihm
gesprochen, der als Freund und Wohlthäter sich erwiesen.
Jahrbuch n. 19
— 274 —
Zugleich aber weist die Novelle hin auf die Ver-
bildung und Perversion edler Eigenschaften durch Schuld
der Gesellschaft, welche durch ihre Härte und Lieblosig-
keit den liebebedürftigen sozialen Paria zum anarchist-
ischen Verbrecher werden lässt
„Le sublime escarpe*: Der Weltkampf an Edel-
mut und Grossmut zwischen Zanardelli, dem Rechtsanwalt
und seinem Geliebten Teodato, dem Bettler und Dieb;
die Aufopferungsfähigkeit wahrhaft Liebender. Der wegen
Mordes unschuldig verhaftete Teodato weigert sich trotz
aller Bitten Zanardellis, sein Alibi nachzuweisen und dem
Richter zu verraten, dass er die Nacht des Mordes bei
dem Rechtsanwalt zugebracht, da er dadurch seinen Ge-
liebten sozial vernichten würde. Dieser ist entschlossen,
in der Hauptverhandlung selbst die Wahrheit zu sagen,
aber Teodato erhängt sich inzwischen, um Zanardelli vor
Schaden zu bewahren.
f Une partie sur l'eau*: Die Spazierfahrt auf der
See zweier Männer mit zwei Matrosen als Ruderer, mehr
ein Gedicht in Prosa als eine Novelle schildert Die
Freude der Spazierfahrer an der Schönheit und dem
Seelenreiz der Naturburschen, ihre Wonne, fern von der
gewohnten Umgebung mit diesen jugendfrischen Menschen
einige Stunden verleben zu können, den poetischen und
sinnlichen Reiz dieser Fahrt in der Vertrautheit und der
Gemeinschaft mit diesen blühenden Söhnen des Volkes.
In dem „Mercure de France", Augustheft 1897, be-
findet sich eine Novelle Eekhouds: ,Tremeloo", ein
poetisches Stimmungsbild, in welchem die seelische
Harmonie des Dichters mit einer verödeten traurigen
Gegend und ihren sozial geächteten Einwohnern, seine mit-
fühlende Sympathie, in dem ergreifenden Eindruck eines
hübschen plastischen Jünglings ihren Höhepunkt erreicht
Das letzte Werk Eekhouds: Le comte de la Digue*
naoQ i m ^ Mercure de France" erschienen) im Buchhandel:
— 275 —
^Escal-Vigor", vielleicht der schönste, echt künstlerische
Urningsroman, der auch, was Aufbau, Geschick der Dar-
stellung , psychologisches Verständnis und lyrischen
Schwung anbelangt, als vortrefflich bezeichnet werden
muss, behandelt die Liebe eines jungen mit allen Vor-
zügen des Geistes und Körpers ausgestatteten Grafen zu
Gidon, dem einfachen Bauernburschen, dessen Erziehung
der Graf unternimmt, den er zu sich emporhebt und in
dem er das Ideal von Jugendschönheit und Charakter-
güte findet.
Der Roman gewährt zugleich einen Einblick in die
Seelenkämpfe und -Qualen, die ein Homosexueller durch-
zumachen hat, bis er sich zur Erkenntnis seiner Natur
und der Berechtigung seiner Liebe hindurch gerungen
hat; er schildert sodann nicht nur die Entwicklung der
Leidenschaft des Grafen zu Gidon, sondern auch den
Eindruck dieser Leidenschaft auf die Umgebung und den
Ansturm der Vorurteile gegen sie. Ueberall begegnet
der Graf dem Misstrauen, der Verleumdung, der Bos-
heit und dem Hass; nur eine Frau, die ihn hoffnungs-
los liebt, vermag ihm Mitleid und Verständnis entgegen
zu bringen. In einer grandiosen Schlussszene pracht-
vollen Colorits wird der tragische Untergang des Ge-
liebten dargestellt, der an einem Tage allgemeiner Volks-
belustigung, wo die entfesselte Sinnlichkeit des Volkes
wahre Orgien feiert^ durch wütende Frauen — wahre
Mänaden — getötet wird.
Die trockene Inhaltsaugabe kann nur ein schwaches
Bild von dem Gedankenreichtum, poetischen Glanz, der
Tiefe und Feinheit dieser Erzählungen gewähren.
Eekhoud stellt nicht das rein geschlechtliche Moment
in aufdringlicher Weise in den Vordergrund, er fasst
nicht die urnische Liebe von ihrer brutal sinnlichen Seite
auf. Er schildert die gegenseitige, seelische Anziehung,
18*
— 276 —
welche die Schönheit der Charaktere, die Affinität des
Empfindens, der Beiz edler Eigenschaften ausübt
Aber auch das spezifisch Eigentümliche gerade der
urnischen Liebe kommt zum Ausdruck. Die in der Wirk«
lichkeit häufig zu beobachtende Anziehungskraft der sozial
Niederstehenden, der Naturburschen auf gebildete, sozial
höher stehende Urninge, sodann die in Folge dieser Ge-
meinschaft zwischen Vertretern extremer sozialer Klassen
nivellierende Gewalt dieser Liebe, ihre soziale Gegensätze
überbrückende Macht, welche Rechtsanwalt und Bettler,
Prinz und Vagabund in Freundschaft verbindet.
Damit wird dann auch der Gedanke in Verbindung
gebracht, dass der oft gute und edle Charakter des sozial
Geächteten nur durch die Gesellschaft verdorben war
und die Macht der homosexuellen Leidenschaft gezeigt,
wie sie selbst den Verkommenen und Gesunkenen zu ver-
edeln und über sein Niveau emporzuheben vermag.
Eekhouds Novellen reichen also weit über die indi-
viduell-geschlechtliche Seite hinaus, Anklänge an Rousseau
und wiederum an Nietzsche finden sich vor, aber nirgends
drängen sich moralisierende Tendenzen oder philosoph-
ierende Reflexionen auf, überall bleibt der Charakter des
dichterischen Kunstwerkes gewahrt. Eekhoud ist der
erste Schriftsteller, Dichter und Denker zugleich, der eine
wirkliche künstlerische Darstellung des Homosexuellen
gegeben hat, der die Gefühle des Urnings mit dem
Schimmer der Poesie verklärt und die mannmännliche
Liebe nicht als Vorwand pikant lasciver Schilderungen
oder geistreichelnder ironischer Satiren oder moralischer
Entrüstungspredigten benützt, sondern die urnische Leiden-
schaft als das erkannt und demgemäss geschildert hat,
was sie in Wirklichkeit ist, als die der normalen Liebe
parallelen Minne, die wie jene einer poetischen und idealen
Auffassung fähig, auch würdig ist vom Dichter besungen
zu werden.
— 277 —
Mit vollem Recht sagt daher ein bedeutender und
ernster Philosoph und Moralist, Eugfene de Roberty, in
seinem Buch: L'Ethique (Les Fondements de FEthique)
(Felix Alcan id. Paris 1899) Kap. IV:
„Der um die in der Entwicklung der Gesellschaft
möglichen Ueberraschungen bekümmerte Soziologe und
Moralist wird die kraftvollen und gesunden Werke dieses
herrlichen Schriftstellers, Georges Eckhoud, (ich habe be-
sonders seinen prächtigen „Cycle Patibulaire" im Auge)*)
mit Vorteil befragen."
Un illustre uraniste du XVII 6 siede
Jeröme Duquesnoy.
Sculpteur Flamand.
par Georges Eekhoud.
Jeröme Duqnesnoy n£ a Bruxelles en 1602 et mort
h. Gand le 28 septembre 1654 dans des circontances par-
ticulierement atroces, fut un des plus grands sculpteurs
du XVII e siecle, et l'lgal, sinon le sup^rieur de son frfere
Francis Duquesnoy que les critiques vulgaires et d'esprit
Itroitement puritain dont nos temps sont encore afHigls,
feignent de lui pr^fferer parce que lui, Jeröme, se rendit
coupable du soi disant crime ayant entratn£ la destruction
des Sodome et Gomorrhe.
Comme Francis, son ain£, Jerome fut Peleve de leur
pere, Jeröme Dusquesnoy le Vieux. A peine äg6 de dix
neuf ans (1621) il rejoignit son fröre Francis ä Rome
oü celui-ci Itudiait avec enthousiasme et ferveur les grands
mattres de la Renaissance, et y acquerrait cette £l£gance
*) Roberty kannte wohl noch nicht: „Mes ('onunur.ions" und
da8 Meisterwerk Eekhonds: „Eacal-Vi#or u .
— 278 —
et cette harmonie de formes qui devaient complfeter ses
dons de robuste et cordial Brabancon. Jusquä ce moment
le frfere cadet n'avait £t£ que simple apprenti en l'atelier
paternel, mais dou6 d'une äme intr£pide et d'un templra-
ment aventureux il partit plein d'ardeur avec la volonte
de se perfectionner dans la profession qu'il avait llue et
oü Tun des siens avait excelll, oti un autre promettait de
8'illustrer ä son tour. Guide* par les conseils de son frfcre
il commenc^ par faire des copies des chefs d'oeuvre de
l'Antiquitä et de la Renaissance. Mais bientdt il se
trouva de force & s'essayer, lui aussi, a la creation; et
dans la taille du bois, de l'ivoire et du marbre, dans le
modelt des chairs, dans le jeu des muscles et des attaches,
dans le bonheur des mouvements, dans Fexpression de la
beaut£ feminine, mais surtout dans l'£panouissement ing£nu
et la gaucherie potel£e des figures enfantines il devait
Egaler et m&me surpasser son fröre Francis, Pauteur du
d£licieux Manneken Pis de Bruxelles, h teile enseigne
qu'on a souvent confondu leurs enfants Jlsus, leurs petits
Saint Jean Baptiste, leurs anges et leurs cupidons.
Autant ils se ressemblaient par les aptitudes et les
goüts artistiques, meme par la conception et la facture
de leurs Oeuvres, autant ils diffiSraient, paratt-il, d'humeur
et de caractfere. De fräquentes querelies se seraient
£lev£es entre eux. Daprfcs certains biographes, un peu
suspects de partialitä pour des motifs dont je touchais
un niot en commencant, Jerome aurait eu un caractfere
ombrageux, empörte, envieux et cupide. La legende veut
meme que son frbre finit par le chasser, r£volt£ par ses
mauvaises moeurs, et que plus tard, pour se venger et
aussi pour lui voler son bien, le cadet aurait empoisonne*
son afnd. Mais il n'existe aucune preuve de cette haine
et de ce crime.
Quoiqu'il en soit les deux Duquesnoy se s£parfcrent
quelque temps aprts le sejour que fit a Rome le c£lt?bre
— 279 —
peintre anversois Antoine Van Dyck. Le disciple favori
de Rubens s'^tait lid aussi bien avec Jlröme qu'avec
Francis. Leur souci de gräce et de v6rit£ dtait fait
pour lui plaire et il devait priser leur talent a tous deux.
Les particularit^s de leurs relations aroicales eussent £t£
faites pour nous intöresser, malheureusement on ignore
presque tout du s^jour de Van Dyck a Rome. On prd-
tend qu'il se häta de quitter la ville ^ternelle choqu£ par
la trivialitä et la crapule de la colonie artistique flamande.
Tout nous porte ä supposer, ä commencer par la noblesse
de leur art m^me, Hans parier de l'estinie de Van Dyck,
que corame le futur portraitiste d'une aristocratie supreme,
les Duquesnoy faisaient exception dans ce monde d'ivrognes,
de tape-dur et de bas mystificateurs. Van Dyck peignit
meme ses deux amis: il montre Francis Duquesnoy
tenant ä la main une tete de faune antique, tandis qu%
J6röme il donne pour attribut un buste de bei enfant
contemporain.
La m£me lacune qui se produit ici dans la biographie
de Van Dyck existe ä ce moment dans ce qui nous est
parvenu sur la vie du plus jeune des Duquesnoy. Tandis
que l'atn£ demeure ä Rome oü il se lie avec Nicolas
Poussin et Algardi, et partage m£me leur maison, nous
perdons la trace du cadet jusqu'au moment oü nous le
trouvons en Espagne oü il a 6t6 appel£ par Philipe IV
qui lui accorde sa faveur et le comble de commandes.
Mais, de nouveau, nous ignorons les 6v£nements de sa
vie durant cette p£riode espagnole.
Notre sculpteur 6tait revenu de Madrid vers 1641
et il logeait depuis neuf mois ä Florence, chez un cora-
patriote, Vorf&vre bruxellois Andrl Ghysels, quand lui
parvint en 1642, la nouvelle de la grave maladie de
Francis, demeur£ a Rome.
J^röme se häte de se rendre auprfes de son atn£ et
les medecins ayant recommandl pour le malade un climat
— 280 —
plus templr£ que celui de Korne, les deux fiteres partent
ensemble et remontent vers le Nord, mais arriv& ä Li-
voorne ils sont forc£s de s'arrfeter : le malade a une rechute,
les fifevres le reprennent avec une nouvelle violence, le
mal empire, et trois semaines apres, Francesco il Fiammingo
succombe entre les bras de son cadet et de leur ami
Andr£ Ghysels.
II tardait k J&örae de regagner sa patrie, surtout k
präsent qu'il avait perdu celui qui la lui reprlsentait et
la lui incarnait le mieux. II s'empresse donc de r£unir
toutes les oeuvres et les objets de valeur du d£funt et
de partir pour les Pays Bas en traversant la France.
II se fixe k Bruxelles, sa bonne ville natale, et aprfes
s^tre dlbattu quelque temps contre d'autres h£ritiers de
son frfere dans des procfcs oü il obtient gain de cause, —
tous les cartons, dessins, moulages, pifeces d'ivoire, de marbre
et de bois poli, collections de Fran9ois lui <*tant attribu<5s
comme „materiel de sa profession" — il se remet r6-
solument au travail et dlploie non seulement une activitä
prodigieusemaisaussi un talent primesautier etincomparable.
En son fitere, Jlröme Dusquesnoy avait perdu son
seul rival. II £tait considerl dlsormais comme le plus
habile statuaire des Pays Bas. Artiste complet» ressemblant
sous ce rapport k ses mattres, les Italiens de la belle
£poque,il£taitnon seulement sculpteur mais encore statuaire,
graveur de mldailles, ciseleur, orffcvre et architecte; bref
une sorte de Cellini flamand.
Accabl£ de commandes, il ne cessait de produire
mais cela sans se rel&cher, sans se contenter d'improvi-
sations et d'äbauches. Ce n'est pas ici la place pour
dresser un catalogue de ses oeuvres. Bornons nous k en
citer quelques unes: les quatre grandes statues des S S
apätres Paul, Thomas, Bartbelemy et Mathieu, dans la
enef de la colllgiale Sainte Gudule k Bruxelles; le christ
an croix tailll dans un seul bloc d'ivoire, du Grand
— 281 —
Be*guinage de Malines; les statues de saints Commanders
par PAbbaye de Saint Michel d'Anvers, enfin ce fameux
Ganymede et l'aigle de Jupiter offert par Jeröme
a son confrere, le sculpteur Luc Faid'herbe de Malines
et qui fut cause d'un accident bien singulier, surtout si
Pon songe au sujet de ce groupe ainsi qu'a la mauvaise
reputation de Duquesnoy et a sa fin tragique et infamante :
Luc Faid'herbe avait legue* le Ganymede de Duques-
noy a son fils. Or la cbute de ce groupe causa en 1704
la mort du jeune Faid'herbe. Des esprits superstitieux
ou enclins ä la merveillosite' trouveraient en ce fait as-
surlment peu ordinaire, une sorte de correspondance a
la Swedenborg. Iis attribueraient k ce Ganymede, chef
d'oeuvre du genial uraniste, une vertu mallfique et ex-
piatoire. L'infortune* J£röme avait il prSte" une äme oü
tout au moins une mission, une destin^e ä son oeuvre?
Eut-il par la suite k se plaindre de Faid'herbe ? Celui-ci
ne prit-il pas assez Inergiquement sa defense lors du
douloureux procls ? Ou la statue du mignon de Jupiter,
devenue une idole consciente, vengeait-elle sur un fils
de chr£tien, sur le premier venu, le traitement aborainable
inflige* a un paien £gar<* dans nos siecles d'intoldrance, et
coupable d'avoir imite* le maitre des dieux dans sa passion
pour de plastiques dphebes? . . .
Cependant J e>öme Duquesnoy, vers ces temps, k Papog£e
du talent e*tait aussi parvenu au falte des honneurs.
L'archiduc Leopold Guillaume d'Autriche, alors gouverneur
ge*n£ral des Pays Bab pour le roi d'£spagne Philippe IV
Pavait nomine* statuaire et sculpteur de la Cour.
Son style pur et correct, mais oü Pel£gance et la
gräce ne contrariaient point le mouvement et le frisson
naturel; m£me un rien d'abiable morbidesse et de vague
sensualite* qui se dlgage de ses productions les plus
vantäes, avaient fait appeler Je*r6me Duquesnoy PAlbane
de la sculpture. C'est IMpoque oü il crlait ses suaves et
— 282 —
mutins enfants ä la chfcvre et ses non moins gentils
Enfants et le Jeune Faune.
II allait s'llever encore en exlcutant un chef d'oeuvre:
le mausol£e d' Antonie Triest, 6vfique de Gand, £rig£ en
1654, du vivant m£me de ce prälat, dans le choeur de la
cathldrale Saint Bavon. La statue du v£n£rable chef
dioclsain, grandeur nature, ä demi coucböe sur un sarco-
phage de marbre noir, ölfeve ses regards supremes vers
le christ qui lui montre sa croix. En face du Rldempteur
apparalt la Yierge Marie. Six petita anges ou g£nies
dllicatement traitls, tenant des flambeaux ou des clepsydres,
soutiennent ou encadrent le monument.
» J£röme Duquesnoy arriva ä Gand le 6 juillet 1654«,
dit M. Edmond de Busscher un des biographes les plus
intäressants et les plus impartiaux du grand sculpteur
bruxellois*) >il s'installa avec ses aides dans une chapelle
de la cath£drale pour y dresser et achever les pifeces de
ce tombeau admirable qui aurait pu §tre pour le maftre
le premier fleuron d'une nouvelle couronne sculpturale
s'il n'y avait trouvd une malheureuse fin. Dans les derniers
jours du mois d'aout une Strange ruineur circula dans
la ville de Gand: le sculpteur Jdröme Duquesnoy dtait
incarclre au Chfttelet accuse d'avoir mesuse de deux jeunes
gar^ons dans la chapelle oü il travaillait.«
Bien n'etait plus vrai que cet emprisonnement et cette
accusation, la plus sinistre qui füt en ces temps oü des
penalites sanglantes et feroces consacraient la puissance
d'un inique prejuge. Cette accusation etait-elle justifiee
et jusqull quel point? Y avait-il eu violence et abus
d'autorite? S'agissait-il vraiment d'actes de Sodomie, d'un
attentat brutal sur des enfants? Les procfes verbaux de
cette lamentable cause, rldiges en flanand consignes aux
archives communales de Gand et signees Hieronimus
*) Voir le toraeil des Bibliograp h ies Nationales pub-
H>* pnr tAcademie de Belgique.
— 283 —
Quesnoy, gardent sur ces points d£licats maia essentiels
un silence reprobateur et scandalise. Et cependant il
nou8 importerait d'Gtre fixes sur l'etendue du pretendu
abus Srotique pour lequel od etrangla un grand lionimc!
II parait etabli que Paccuse n'avait' commis aucun acte
sadique et contre la cbarite. Kien ne nous garantit, au
surplus, qu'il ne fut pas la victime d'une läche vengeance,
d'un guet-apens, d'une machination des ennemis et des
envieux qu'il s'etait fait par son independance de caractere,
sa vie ä part et non conforme, et surtout son genie et
sagloire. Autant de points d'interrogation ou mieux autant
de probabilitäs.
Dans ses deux premiers interrogatoires, les 31 aoüt
et premier septembre, il nia energiquement les trans-
gressions qu'on lui imputait, malgre les aveux de ses
complices. Ceux-ci auraient ete deux de ses jeunes eleves
ou apprentis, non des enfants mais des adolescents.
Duquesnoy pr&endait ne les avoir re^us dans son atelier
que pour faire une dtude au crayon de leurs bras et de
leur poitrine. Le pauvre diable n'osa m£me parier de
leurs hanckes et de leurs jambes! Et cependant celles-
ci n'eussent-elles point sollictt^ au meme titre que le reste,
ses yeux et son admiration d'artiste pour ne point parier
d'une autre ferveur? Un troublant mystfere continue h
planer sur ces deux jeunes creati. Qui sait si les
figures juveniles ornant le niausolle de l^veque ne nous
pr£servent pas les traits et le galbe des deux Inigmatiques
modales ?
Ne parvenant point üi lui arracher d'autre confession,
pour son troisifeme interrogatoire, le 3 septembre, les juges
(il s'agit de juges civils, d'un tribunal ordinaire et non
d'inquisiteurs) recoururent k la torture et, naturellement,
les questionnaires firent consentir sa parole ou mieux ses
cris de d'ouleur, a tout ce dont ils avaient besoin pour
l'envoyer a la mort.
— 284 —
Cependant, dfcs le 2 septembre, Partiste avait adress£
une requfete au roi d'Espagne en son conseil priv£ des
Pays Bas pr£sid£ par le gouverneur g£n£ral. Dans cette
requgte J£röme Duquesnoy, entretenant, a bon droit
aurait-on peu croire, plus de confiance en la clairvoyance
et en la sagesse d'un tribunal d'^lite qu'en la compltence
et P£quit£ d'un arlopage de bourgeois born£s et vulgaires,
d&linait la juridiction Ichevinale de Grand sous les auspices
de laquelle on Pavait appr£hend£ et poursuivi.
Mais ces bourgeois encrassls dont Pinfortun£ avait
toutes les raisons de se d£fier, n'entendaient pas lächer
l'audacieux adorateur de la beautl masculine, et le 10
septembre, le Grand Bailli et les Ichevins de Gand, en-
voyferent au Conseil priv£, un avis dlfavorable aux pr6
tentions de leur prisonnier, accompagn£ des pifeces du
dossier et de la demande de pouvoir prononcer la sentence.
D*autre part les parents, les amis et les admirateurs
du statuaire ne l'abandonnaient point dans sa d£tresse et
adressaient directement une supplique, en latin, ä Parchiduo
Leopold Guillaume, dans laquelle ils invoquaient le scan-
dale qu'entrainerait la condamnation du malheureux artiste
en ce sens que de cette manifere seraient divulgu£s les
faits honteux miß ä sa cbarge; ils faisaient aussi entrer
en considlration Phonneur de la famille jusque la imma-
cule, ils d£ploraient la tache qui rejaillirait sur un nom
illustre par d'autres encore que par ce grand coupable,
mais ils insistaient principalement et avec plus de raison,
sur la haute valeur artistique de J£r6me Duquesnoy et
sur la perte que la sculpture Iprouverait dans la personne
de cet artiste de moeurs exceptionnelles mais de g&iie tout
aussi rare, si on Pabandonnait ä la merci des honnetes
mais fort communs magistrats gantois. En cons£quence
ils suppliaient le prince de faire extraire JdrAme de sa
prison de Gand pour le faire conduire sous bonne escorte
ä Bruxelles et Py faire comparattre devant le Conseil
— 285 —
Prive\ Enfin ils conjuraient l'archiduc d'user en demier
ressort de son pouvoir absolu pour commuer le cas
£che*ant la peine de mort en une d£tention a perp£tuite\
De cette fagon concluaient les p£titionnaires tout en ex-
piant sa faute le sculpteur pourrait continuer ä produire
des chefe d'oeuvre.
Contre Pattente de Järöme et de ses amis les grands
seigneurs du Conseil Prive* se montrerent aussi prüdes
et aussi implacables que les marchands ignares et rassis
du banc echevinal gantois. Iis n'attendirent mßme pas
pour se prononcer que le prevenu eüt e*te" amene* dfevant
eux, mais, ayant pris connaissance du dossier envoye de
Gand, ils s'empresserent de rejeter les consid£rations des
signataires de la requöte a l'archiduc ,et dans une „con-
sulte* ä celui-ci ils approuverent les conclusions des pre-
miers juges en demandant qu'il lui plüt de laisser la
justice suivre son cours.
Le Conseil prive* d£clarait opiner contre le recours
du reque*rant et de ses amis parce que «quand meme
l'artiste aurait le droit de dlcliner la judicature du magi-
strat de Gand, il y aurait matiere süffisante en terme de
justice de l'en declarer de*cbu et indigne.»
cEnsuite, £tait-il dit plus loin, comme il convient de
nlcessite* d'en faire un chastoy exemplaire afin de couper
s'il se pouvait par sa racine ce mal qui se vat glissant
et serpente permy le monde, il nous a semble* que Votre.
Altesse pourrait estre servie de refuser la grace requise
et, pour le surplus, en laisser convenir le Magistrat de
Gand, lä oü le crime et Pesclandre ont <He* commis et
le proces instruitt
Cet avis impitoyable fut apostille* par le prince et
approuve en ces terra es p£remptoires: me conformo
in tutto.
H£las, Jlröme Duquesnoy nVtait plus sous le ciel
cllment et radieux, conseiller de tolerance, secourable ä
toute passion, de la genereuse Italie!
— 286 —
Puis les temps etaient loin d£jä de ces princes et
de ces papes, philosophes et artistes, mlcfenes absolus,
h£t£rodoxes ou mieux largement Ivangeliques absolvateurs
et m^me complices des amants £perdus de touteBeautä!
Passe* et fini le sifecle des Leon X et des Jules II!
U Europe e*tait redevenue orthodoxe et austäre et sur-
tout cette Flandre h la fois espagnolis£e et protestantisee,
sous le gouvernement d'un prince cagot et bornl dont
les grandes admirations artistiqaes allaient aux magots
d'un Teniers le Jeune!
Pourtant il convient de dire ä la gloire des vrais
chr£tiens de ce temps et h la honte des magistrats com-
munaux prltendus garants de la libertä, que le vln&able
evfcque Triest s'&ait mis du c6t£ de son artiste et avait
signe* en tdte de la supplique adressle au gouverneur!
On a vu que rien n'y fit. La masse, le pr£jug£, le
voeu du plus grand nombre, Pemport&rent.
A la suite de Papprobation souveraine, en sa slance
du 22 septembre le Conseil priv£ formula en d£cret cette
r&olution definitive avec confiscation de biens au profit
du Roi.
Pour commencer on inventoria tout ce que poss^dait
Duquesnoy en sa somptueuse demeure de la Place des
Walions k Bruxelles. Un orf&vre bruxellois se rendit
ra£me le 26 septembre, au Chätelet de Grand, avec une
dlllgation du mar^chal de la cour pour rlclamer au pri-
sonnier le moule d'une image de Notre Dame quil avait
& couler en argent pour son Altesse Slrlnissime.
Enfin le 28 septembre 1654 la sentence de mort fut
pronopcee en assembl£e speciale dans la salle de justice
de Gand. Elle condamnait Jeröme Duquesnoy, convaincu
de Sodomie, k Hre attache* h. un poteau, £trangl£ et son
corps rlduit en cendres sur le marchl aux Qrains de
ladite ville.
L'ex£cution eut lieu le m€me jour avec Pappareil
— 287
usitä. Le bailli de Gand, deux Ichevins d£l£gu£s et
l'amman ächeval y pr£sidaient accompagnls du conseiller
criminel, du clerc de sang, des gens de justice et des
secr&aires communaux. L/officier des hautes oeuvres
G£rard Van Wassenburgh fonctionnait avec ses aides
sons la protection des hallebardiers du bailli.
L'historien gantois Dierickx pr£t£nd que la gräce
de J£röme Duquesnoy arriva le lendemain de son supp-
lice, de sorte qu'on ne proc£da point ä la confiscation de
ses biens. Mais Dierickx fait erreur. Des documents
prouvent que les b^ritiers plaidferent bien longtemps aprfes
pour rentrer en la possession desdits biens et toucher les
arriferls dus ä leur malheureux parent pour le mausol^e
de 1'^vSque Triest.
Un portrait de J£röme Duquesnoy d'aprfes Van Dyck,
grav£ ä la manifere noire en 1779, par Richard Brooks-
haw, artiste anglais, porte celle inscription:
Hic ille est quondam fratri vit dispar in
arte, Felix! In felix altamen igne perit.
Non perisse, abiss£ scias; sua foma celebris
arte, manet: redit; nam redivimus adest!
En effet la gloire de Partiste supplictä et fl£tri ray-
onne de plus en plus pure en d£pit des rlticences, des
b£gueuleries et des conspirations pharisiennes.
Les temps sont proches oü loin de consid£rer corame
oeuvre infame et une cause d'anathfeme les actes pour les-
quels il fut men£ au supplice, nous serons tent£s d'y voir
une preuve de cet esthltisme absolu qui, sous un Magi-
strat de bourgeois profanes comrae celui des Pays Bas du
XVII 6 sifccle, aurait valu le bücher aux plus nobles ar-
tistes de la Renaissance a commencer par le Sodoma, le
Vinci et Michel-Ange.
David und der heilige Augustin,
zwei Bisexuelle.
Es kann keinem Zweifel linterliegen, dass auch David,
der „Streiter Gottes*, der Hagiograph und Prophet, der
Bibelheros, ein Liebhaber seines eigenen Geschlechtes war.
Desgleichen Jonathas, sein Freund. Das Verhältnis
zwischen beiden weist mit aller Deutlichkeit auf ihre
homosexuelle Ader. „Als David den Philister erschlagen
hatte und zurück kam, da nahm ihn Abner und brachte
ihn vor Sau], da er das Haupt des Philisters in seiner
Hand hielt. Und Sau! sprach zu ihm: Von welchem
Geschlecht bis Du, o Jüngling? Und David sagte: Ich
bin der Sohn Deines Knechtes Isai, des Betblehemiters.
Und es geschah, als er mit Saul zu reden aufge-
hört, da verband sich die Seele Jonathas mit
der Seele Davids und es liebte ihn Jonathas wie
sich selbst. — Und David und Jonathas' schlössen
einen Bund, denn er liebte ihn wie sich selbst Und
Jonathas zog seinen Hock aus und gab ihn dem David,
und auch seine übrigen Kleider, sogar sein Schwert,
seinen Bogen und seinen Gürtel." (I. Buch der Könige,
17, 57 und 58. — 18, 1, 3 und 4.) Ist das die Art,
wie Freundschaften entstehen? Nein, mit solcher Schnellig-
keit zündet nur der Strahl sexueller Liebe!
Sehr beachtenswert ist sodann L Buch der Könige,
20, 27—41. — Der erzürnte Saul spricht zu Jonathas,
seinem Sohn: „Du Sohn eines mannsüchtigen Weibes!
Weiss ich nicht, dass Du den Sohn Isais liebet, Dir
selbst und Deiner schamlosen Mutter zur
— 289 —
Schande!* (30.) Das ist eine ganz klassische Stelle.
Was soll das anders heissen als: „Weiss ich nicht, dass
Du, von einer männertollen Mutter geboren, selbst Männer
liebst, dass Du mit David in einem ^schändlichen' Ver-
hältnis stehst? 11 — «Und sie küssten einander und
weinten zusammen." (41.) David, an dem kein Funke von
Sentimentalität wahrzunehmen ist, der kriegslustige,
oft zur Härte geneigte Jüngling, wie hätte er küssen
können, wo er nicht in Liebe entbrannt war!
Und endlich : Als Jonathas in der Schlacht gefallen
war, spricht David: „Wie sind doch die Helden gefallen
im Streit! Jonathas ist erschlagen auf deinen Höhen, o
Israel! Leid ist mir um dich, mein Bruder Jonathas!
Ueberaus schön warst Du und lieblicher als
Frauenminne! Wie eine Mutter liebt ihren einzigen
Sohn, also habe ich dich geliebt/ (II. Buch d.Eön. 1. 25. 26.)
— Da ist ein Zweifel wohl ausgeschlossen. —
„Als ich", schreibt der beilige Augustin in seinen
autobiographischen ,Bekenntnissen', „in meiner Vaterstadt
Unterricht zu erteilen begann, hatte die Uebereinstimm-
ung der Neigungen mich durch innige Freundschaft mit
einem jungen Mann verbunden, der in meinem Alter und
wie ich in der Blüte der Jahre stand. Er war mit mir
aufgewachsen. Wir hatten dieselben Schulen besucht,
dieselben Spiele geteilt. Damals aber war er mir
noch keineswegs in diesem Sinne Freund ge-
wesen, obgleich es auch nicht einmal zu jener
Zeit die rechte Freundschaft war. (,Sed nondum
sie erat amicus, quamquam ne tunc quideni sicuti est
vera amicitia.")
Denn eine solche ist nur diejenige, welche du selbst
— o Gott — zwischen den Seelen befestigest, durch
das Band der Liebe, die in unseren Herzen aus-
gegossen ist vom heiligen Geist, der uns ge-
geben worden'. Allein sie war überaus wonnig, unsere
Jahrbuch II. 19
♦
— 290 -
Freundschaft, geschlossen durch die Glut der gleichen
Neigungen •
n Meine Seele konnte ohne ihn nicht mehr leben.
Aber, o mein Gott, du Gott der Rache und Quelle aller
Erbarmungen zugleich, du, dessen Arm ausgestreckt ist
über deinen flüchtigen Sklaven, und der du sie auf wunder-
baren Wegen zu dir zurückführst, siehe, plötslich nahmst
<Ju mir diesen Menschen aus der Welt, nachdem ich seine
Freundschaft kaum ein Jahr genossen gehabt hatte, sie,
die mir süss war über alle Süßigkeiten meines damaligen
Lebens. Was thatest du damals, o Gott ! Wie undurch-
dringlich ist der Abgrund deiner Gerichte! Dieser junge
Mann ward von einem hitzigen Fieber ergriffen und lag
lange ohne Bewusstsein im Todessch weiss ... .Er
starb in meiner Abwesenheit/
„O welch düsterer Schmerz erfüllte da meine Seele!
Alles, was ich sah, zeigte mir das Bild des Todes. Der
Aufenthalt in mainer Vaterstadt wurde mir zur Marter
und das väterliche Haus zu einem furchtbar unglücklichen
Ort. Betrachtete ich ohne ihn die Gegenstände, deren
Genuas wir geteilt hatten, so zerrissen sie meine Seele
durch unaussprechliche Qujden. Ueberall suchten ihn
meine Augen und ich fand ihn nicht mehr. Alles war
mir verbasst, weil er nicht da war, und weil nichts mehr
wie zur Zeit seines Lebens mir sagen konnte: Siehe, er
kommt wieder. Ich war mir selbst ein unauflösliches
Rätsel geworden. Ich fragte meine Seele nach der Ur-
sache ihrer Traurigkeit und warum sie sich so sehr be-
trübe. Und sie konnte mir nichts antworten "
„Jetzt, Herr, ist das alles vorüber, und die Zeit hat
meine Wunde geheilt. Darf ich nun das Ohr meines
Herzens deinem Munde näher bringen und von dir er-
fahren, warum die Thränen für die Unglücklichen so süss
sind ? Wie, bist Du nicht> obwohl überall gegenwältig,
unendlich entfernt von unserem Elend? Würde
die Stimme unserer Thränen nicht zu Deinem Ohr auf-
steigen, so würde uns keine Hoffiiung mehr in unserem
Unglück bleiben. Warum also ist es so süss, diese
Früchte unserer Bitterkeiten zu pflücken, zu weinen und
zu seufzen, zu ächzen und zu klagen? Kommt diese
Süssigkeit etwa von der Hoffnung, dass Du uns erhören
werdest ? Das ist wahr von den Thränen, welche wir im
Gebet vergiessen, weil es ihre Absicht ist, sich zu Dir
zu erheben. Das war aber nicht der Fall, als meine
Seele beweinte, was sie verloren hatte und in düsterer
Qual versenkt blieb. Denn ich hoffte nicht» ihn wieder
aufleben zu sehen und meine Thränen flössen nicht, um
ihn zurückzuerlangen. Ich seufzte, ich weinte bloss, weil
ich unglücklich war und verloren hatte, was meine Freude
bildete " „Ja, ich war elend. Und giebt es ein
Herz, das es nicht ist, sobald es sich von der Liebe zum
Vergänglichen hinreissen läset, und welches sich nicht
zerrissen fühlt, wenn es dasselbe verliert? Das ist der
Zustand, in dem ich mich damals befand. Ich vergoss
die bittersten Thränen und fand Linderung nur in ihrer
Bitterkeit. O wie unglücklich war ich! Und doch war
mir dieses so elende Leben noch lieber als selbst mein
Freund. Wohl hätte ichs ändern mögen, aber doch war
es mir lieber, ihn verloren zu haben als das Leben. Ich
weiss nicht einmal, ob ich eingewilligt hätte, es zu ver-
lieren, um ihn zu retten, wie die Geschichte oder Fabel
von Orestes und Pylades erzählt, welche für einander
oder wenigstens mit einander zu sterben wünschten, weil
ihnen der Gedanke, ohne einander leben zu müssen,
schrecklicher war als der Tod. Meiner Seele bemächtigte
sich eine gewissermaseen ganz entgegengesetzte Empfin-
dung. Der Grund liegt ohne Zweifel darin, dass mir, je
mehr ich ihn geliebt hatte, der Tod, welcher mir ihn
entrissen, um so verhasster erschien, und ich ihn als den
unversöhnlichsten Feind um so mehr fürchtete. Ich
19*
— 292 —
glaubte sogar, er werde, da er mir ihn entreissen konnte,
augenblicklich alle Menschen dahinraffen. Das war da-
mals der Zustand meiner Seele, und die Erinnerung daran
ist meinem Gedächtnis tief eingeprägt. Siehe da mein
Herz, o Gott, erforsche es und siehe, dass diese Erinner-
ungen mich nicht täuschen, o Du, meine einzige Hoffnung,
der Du mich von dem Schmutz solcher Neig-
ungen reinigest, meine Blicke auf Dich richtestund
meine Füsse vom Fallstrick befreiest. Ich wun-
derte mich, dass die übrigen Menschen noch lebten, nach-
dem ich den hatte sterben sehen, den ich liebte, wie
wenn er ewig hätte leben sollen. Weit mehr aber wun-
derte ich mich, dass ich noch lebte, nach dem Tode
dessen, der mein zweites Ich war Ich fühlte, dass
seine Seele und meine nur eine Seele in zwei Leibern
gewesen waren. Darum wurde mir das Leben zum Ekel,
weil ich mich sträubte, nur halb zu leben. Und darum
vielleicht fürchtete ich mich auch zu sterben, weil durch
meinen Tod derjenige ganz gestorben wäre, den ich so
heiss geliebt hatte!"
„ Welch ein Wahnsinn, die Leiden der mensch-
lichen Natur so ungeduldig zu ertragen, wie ich damals
that! Ich seufzte, ich weinte, mein Herz war voll Ver-
wirrung und Zerrüttung. Ich war ohne Ruhe und ohne
Rat Meine zerrissene und blutende Seele ertrug es un-
geduldig, in mir zu bleiben. Es war eine schwere Last,
von der ich nieht wusste, wo ich sie ablegen sollte.
Nichts konnte mich zerstreuen, nicht liebliche Haine, nicht
die Freuden des Spiels und des Gesanges, nicht dife besten
Wohlgerüche und die herrlichsten Mahlzeiten, nicht die
Berauschungen der Wollust noch die Reize der Lektüre
und Poesie. Alles war mir unerträglich, selbst das Licht
des Tages. Was nicht der war, den iöh verloren hatte,
erschien mir verhasst und stiess mich ab. Nur nicht
die Seufzer und die Thränen, die allein mir einige Lin-
derung verschafften. Wenn ich sie manchmal unter-
brechen musste, dann sank ich zerschmettert unter der
Last meines Schmerzes zusammen. . . . Ich blieb allein
in mir selbst, wie in einem wüsten Lande, wo ich nicht
wohnen konnte, und aus dem ich doch nicht hinauszugehen
vermochte. Ach, wohin hätte mein Herz vor meinem
Herzen fliehen können? Wie hätte ich mich selbst fliehen
oder aufhören können, mich immer zu begleiten? Doch
ich floh aus meiner Vaterstadt. Denn seltener suchten
meine Augen ihn da, wo sie ihn doch nicht mehr zu
sehen gewohnt waren. Ich verliess Tagaste, um nach
Ohartago zurückzukehren/
Nachdem Augustin sodann erwähnt, dass unter dem
Einfluss der heilenden Zeit und namentlich unter dem
Einfluss des Reizes, den andere Freunde auf ihn ausübten,
die Wunde allmählich doch zu vernarben begann, schliesst
er an dieses ergreifende Kapitel seiner Herzensgeschichte
folgende Betrachtungen an: „ Glücklich, o mein
Gott, ist der Mensch, der dich liebt !* „Herr,
Gott der Heerschaaren, bekehre uns zu dir! Zeige uns
dein Angesicht und wir sind gerettet! Denn wohin das
Herz des Menschen sich wendet, überall wird es durch
den Schmerz gefesselt, wenn es nicht dir anhängt. Und
das, obgleich es der Schönheit nachgeht, wie sie
ausserhalb seiner selbst und ausserhalb deiner zu finden
ist. Diese Schönheit wäre nicht, wenn sie nicht deine
Hand geschaffen hätte. Sie entsteht nur, um zu vergehen.
Indem sie entsteht, beginnt sie zu sein, indem sie wächst,
vervollkommt sie sich, und hat sie dieses Ziel erreicht, so
verwelkt sie und kehrt wieder ins Nichts zurück. Ja,
Alles verwelkt. Alles stirbt hienieden Meine Seele
preise dich wegen all dieser Dinge, o mein Gott, der du
sie erschaffen hast. Aber sie hänge nicht an ihnen
mit den Banden einer fleischlichen Liebe!
O meine Seele, lass dich nicht von den Eitelkeiten
— 294 —
▼ erführen! .... In Gott wirst du eine unveränderliche
Ruhe finden, in der man den Gegenstand seiner Liebe
nicht verlieren kann, wenn man ihn nicht anders selbst
verlisst
O meine Seele, wenn dir die Leiber durch ihre
Schönheit gefallen, so seien sie dir ein Anlass, Gott
iu preisen und es erhebe sich deine Liebe auf diese
Weise zu dem, der sie geschaffen hat, damit du nicht;
wenn du dabei stehen bleibst, was sie Liebenswürdiges
haben, ihrem Schöpfer missfallest! .... Lasset uns Gott
lieben und nur ihn!" (Confessiones. IV. cap. 4, 5, 6, 7,
8, 9, 10, 11, 12.)
So äussert sich Augustin, nachdem er sich zum
Katholizismus bekehrt, nachdem er ein strenger
Ascet und Bischof geworden war, über diese „Freund-
schaft*. Die Sprache ist, wie Jeder sieht, ausserordent-
lich klar, für Denjenigen mindestens, der die Beschreibung
und die angeknüpften Betrachtungen unbefangen liest.
Anderswo in seinen Bekenntnissen heisst es von dem
nämlichen Lebensabschnitt: „Venam amicitiae coin-
quinabam sordibus concupiscentiae candoremque eius
obnubilabam tartarea libidine." Denn: „Amare et amari
dulce mihi erat magis, si etiam amantis corpore fruerer.*
Ob er dabei Freundschaft mit Jünglingen oder Mädchen
meint, ist an und für sich nicht ersichtlich. Doch dürfte
der strenge Ascct schwerlich vom „candor* der Freund-
schaft eines jungen Mannes mit jungen Mädchen gesprochen
haben. (Liber III. caput. I.) Auch das „amantis* im
2. Satz ist beachtenswert. Er dürfte sich wohl gescheut
haben, ,amati'* zu setzen. Das Passiv erwartet man doch.
Und vom Verkehr mit Weibern spricht Augustin immer
ganz offen.
Aus dem Leben eines Homosexuellen,
Von
Dr. phil. Max Kalte.
Ein eigenartiges Gefühl der Wehmut beschleicht
mich, wenn ich es in den nachfolgenden Zeilen unternehme,
in vergangene Tage meines Lebens zurücktauchend, vor
einem grösseren Publikum eine Anzahl von Bildern aus
demselben zu entrollen. Fast möcht' ich, indem ich da-
mit beginne, wieder davon abstehen ; denn was ich durch-
lebt und was ich hier schildern will, es ist so eigenartig
und so intim, dass ich mich scheue, es der Oeffentlich-
keit preiszugeben. Wird sie es, wird sie mich nicht
missverstehen? Und werden infolgedessen nicht neue
Schmerzen meine wunde Seele heimsuchen? — Und doch
— es gilt, indem ich mich selbst der Welt offenbare, eine
Lanze zu brechen für eine ganze Klasse im Grunde
unglücklicher, weil verkannter und verfolgter, Menschen-
kinder. Meinen Brüdern gilt mein Kampf; darum nehm'
ich ihn auf. Zeigen will ich euch allen, die ihr euch so sicher
uud frei und erhaben fühlt im Besitze einer „normal-
sexuellen Veranlagung 1 , dass es auch unter 'uns aüs-
gestossenen „Abnoftnsexuellen* dieselbe Grösse und Tiefe
des Empfindens, dieselbe Gewalt der Gefühle und dieselbe
Zartheit der Seele giebt, wie sie eure Dichter schildern,
eure, die so vielfach die Unsern sind, wie ein Shake-
— 296 —
speare, ein Grillparzer, ein Platen, oder die doch volles
Verständnis und Mitfühlen für uns besitzen, wie — der
Grö8ste unter allen — Goethe!*)
Es gilt ja noch immer — trotz Plato und der Alten
des römischen Reichs und trotz aller neueren und neuesten
Bestrebungen — es gilt noch immer: aufzuklären! So
lange ein Mensch eine Sache ihrem Wesen nach über-
haupt nicht kennt, kann er sie auch nicht beurteilen,
geschweige denn richtig und gerech t beurteilen. Wie
aber kennen und erkennen wir etwas? — Als Natur-
wissenschaftler antworte ich : auf dem Wege der Induktion,
durch Beobachtung, auf Grund deren wir Schlüsse machen,
Folgerungen ziehen, geistige Kombinationen schaffen. Die
Beobachtung aber geht vom einzelnen Falle aus. So
biete ich denn allen denen, die ehrlich und innerlich frei
genug sind, Dingen näher zu treten, die ihnen fremd oder
gar persönlich unsympathisch sind und von der — so oft-
mals wechselnden — Meinung der Welt verworfen werden :
ich biete ihnen einen Fall der Beobachtung, dessen Objekt
ich selber bin und der um so verbürgter ist, als ich nichts
besser kenne und beobachtet und kritisch sondiert habe
als — eben mich selbst.
Ich biete mich als Objekt der Beobachtung oder,
um den Mund voller zu nehmen: der Forschung dar,
bitte aber, unbefangen und ohne Vorurteil zu bedenken
und zu prüfen, was ich über mich sage. Dann wird —
weniger mir, als der Gesamtheit meiner Leidensgefährten
*) Man vergl. betreffs Goethe s seinen „Erlkönig" („Willst,
feiner Knabe, du mit mir gehn?" — „Ich lieb' dich, mich reizt
deine schöne Gestalt"), das Schenkenbuch im „West-östlichen
Divan - sowie seine Mitteilungen über seine (zweifellos homosexuelle)
Schwester in „Dichtung und Wahrneit", 4. Teil, 18. Buch, endlich
auch die Figur der Mignon im „Wilhelm Meister" und das Verhalten
des letzteren zu ihr, besonders im Anfange der Bekanntschaft.
— 297 —
in gewissem Grade gedient sein, jener gleichsam heimat-
losen Klasse der homosexuellen Menschen, der ich — leider
und Gott sei Dank — angehöre.
Leider — das wird aus der folgenden Darstellung
klar werden, indem sie die Kämpfe, Entsagungen und
scheusslichen Erlebnisse enthüllt, denen ich preisgegeben
war. Aber auch: Gott sei Dank; denn ich bekenne es
offen — und es wird mir frei ums Herz, wenn ich das
sagen darf: Wenn heutigen Tages jemand käme und mir
verspräche, mich frei zu machen von meiner homosexuellen
Anlage und Neigung und mir die Liebe zum Weibe ein-
zugeben (was ihm nach mehr als SOjähriger Erfahrung
meinerseits sicher niemals gelingen würde), so würde
ich ihm für seine Gesinnung danken, sein Anerbieten
aber unbedingt zurückweisen, weil — die eigenartigste,
hehrste, wunderbarste Liebe(mir)doch die homosexuelle ist —
Doch ich beginne, hinabzutauchen in die Flut ver-
gangener Tage.
Meine Kindheit seh' ich wieder; sehe mich als
kleinen, frischen und gesunden Knaben, der unter liebe-
voll sorgenden Elternhänden emporwuchs. Vater und
Mütterchen sind jetzt tot, seit Jahren schon; sie haben
nie erfahren, wie's uro mich bestellt war. Und doch war
es in sexueller Beziehung nie anders um mich bestellt als
heute. Ich habe mich n ienials, in meinem ganzen, 38jährigen
Leben nicht , geschlechtlich zum Weibe hingezogen gefühlt.
Ich hebe dies ausdrücklich — als eine Thatsache der
Erfahrung — hervor, gegenüber den Behauptungen
solcher, welche meinen, das Liebesverlangen sei in jüngeren
Individuen (bis zu 14 und 15, ja 17 und: 18 Jahren)
geschlechtlich indifferent. Das mag für manche Menschen
zutreffen, für alle sicherlich nicht. Mein eigenes Bei-
spiel spricht dagegen. Ich war nie halb, nie zweifelhaft.
Ich liebte nie etwas anderes als jüngere oder, ungefähr
gleichaltrige Mitglieder des eigenen — . männliche» —
— 298 —
Geschlechts; ich liebte sie, mit der ganzen Glut einer
innig empfindenden, tiefer veranlagten Seele. Das war
bereits so, als ich im Alter von ungefähr 3 Jahren in
die Schule ging. Dort war ein kleiner Knabe, etwa im
gleichen Alter wie ich, mit lieblichen Gesichtszügen und
von holder Figur; in reisendem, grauem Anzüge, mit
langen und sehr weiten Hosen (wegen deren er von mehreren
Mitschülern geneckt wurde), seh' ich ihn noch heute vor
mir. Ich erwärmte mich dermassen für ihn, dass ich
mich, wenn er, der leider nur ein mittelmässiger Schüler
war, vom Lehrer — mit dem Lineal auf die Hände —
Schläge bekommen sollte, zum Sterben wund und weh
im Herzen fühlte und am liebsten vorgestürzt wäre, um
den Lehrer zu bitten, mich statt „seiner 44 zu züchtigen.
Aber ich th a t es n i c h t, denn ich war ein folgsamer Schüler
und, wenn auch lebhaft, so doch in gewissem Grade
schüchtern. Demgemäss wagte ich auch nie, mich dem Kleinen
zu nähern, um mit ihm zu verkehren oder ihm gar meine
Empfindungen innigster, wonnigster Liebe zu offenbaren. —
Später verlor ich ihn aus dem Gesichtskreis. —
Andere Erscheinungen traten mir entgegen und
fesselten mich. So, als ich ungefähr 9 — 10 Jahre alt war,
ein munterer, hübscher Junge aus einer Oifisiersfamilie,
der um weniges jünger war als ich und in demselben
Hause wie ich wohnte. Zwar berauschte er mich nicht
so wie jener Ersterwähnte; aber ich hatte ihn von Herzen
gern, und noch heute ist mir eins in süsser Erinner-
ung, das mir an ihm besonders sympathisch war: der von
ihm ausgehende, ihn umschwebende holde Duft, den ich,
wenn ich ihn genauer charakterisieren soll, als chokoladen-
artig bezeichnen muss. Es gab damals noch keine
Jäger'sche Seelentheorie, und wenn sie schon vorhanden
gewesen wäre, hätte ich sie nicht gekannt; ich machte
mir auch keine Gedanken darüber, woher jener Duft
stammte und wie er zu erklären wäre, sondern lehnte
— 299 —
nur oft meinen Kopf an meines Spielgefährten Brust und
genoss halb nnbewusst und unwissend das Lebensagens
eines Menschen, der mir seelisch nahestand. Betonen
möchte ich dabei, dass in diesem wie in jenem ersten
Falle von eigentlich geschlechtlicher Empfindung oder
gar irgend welchem sexuellen Verkehr nicht die Rede
war. — Auch dieser zweite Freund (M. K. mit Namen)
entschwand mir nach einiger Zeit, und zwar auf eine
Weise, die mir, freilich erst lange nachher, die Ueber-
zeugung eingab, dass auch er (gleich mir) homosexuell
veranlagt war. Er wohnte, wie ich schon erwähnt habe,
im selben Hause wie ich, aber nicht bei seinen Eltern,
sondern bei einem Lehrer, bei dem er sich in Pension
befand. Eines Tages war sein Erzieher in grosser Auf-
regung und begab sich, wie ich ängstlich klopfenden
Herzens vom Fenster meiner Wohnung aus beobachtete,
in Begleitung meines kleinen Freundes zu Leuten, die
gleichfalls in demselben Hause wohnten und einen Sohn
besassen, der noch jünger war als M. K.; mit diesen
führte der Lehrer eine grosse Verhandlung, über deren
Inhalt ich nur dunkle Andeutungen vernahm; soviel aber
ging aus denselben, auch mir verständlich, hervor, dass
sich M. K. mit jenem Knaben sexuell eingelassen hatte.
Kurz darauf verliess mein Freund die Pension des Lehrers.
Ich sah ihn niemals wieder. Wohl aber traf ich mit
seinem Erzieher vor einigen Jahren auf der Reise zusammen.
Ich erkundigte mich bei ihm bald nach dem Schicksal
von M. K.; aber er wusste auch nichts von ihm, erwähnte
vielmehr nur, dass M. K. damals, als er von ihm ging,
einen „schweren sittlichen Fall" gethan habe.
Ich war 12'/* Jahre alt und Tertianer geworden, als
ich für einen Mitschüler von mir, E. V. mit Namen,
innige Sympathie zu empfinden begann. An ihn waren
die ersten Verse gerichtet, die ich im Alter von 14 1 / 2
Jahren machte — einfache und noch unbeholfene, aber
— 300 —
trotzdem Innigkeit atmende Liebesgedichte. — Meinem
Vi Jahr jüngeren Freunde schien die Zuneigung, die ich
ihm entgegenbrachte, zu gefallen; als ich ihn aber einst
fragte, ob er mich liebte, meine Liebe zu ihm er-
widern könnte, erhielt ich eine verneinende Antwort
Bald musste ich dann eine betrübende Lebenserfahrung
machen, die nämlich, dass die Menschen, wie es so viel-
fach der Fall ist, viel eher geneigt sind, sich auf niedrige
Dinge, die dem Augenblicksgenusse dienen, einzulassen
als auf ideales .Fühlen und Thun, das freilich Schwung
der Seele erfordert: E. V., der mich nicht lieben wollte
(und, ich erkenne es an: nicht lieben konnte, da er
anderer Natur war als ich), trat gleichwohl in einen ge-
wissen geschlechtlichen Verkenr mit mir, der sich aller-
dings auf blosse Berührung beschränkte. Mein Gefühl
der Zuneigung aber bewahrte ich ihm bis über die Schul-
zeit hinaus, als wir bereits längst wieder alle Vertrau-
lichkeiten aufgegeben hatten. Die Glut einstiger Tage
freilich lebte nicht mehr in mir, denn E. V. war aus
einem herzigen und zum Teil sinnigen Jungen ein junger
Mann von der üblichen Durchschnitts-Auffassung des
Lebens und ohne tieferes geistiges Streben geworden.
Aber trotzdem trug ich ihm noch einmal — ungefähr
19 Jahre alt — in einer Nachtstunde, als wir aus einem
Verein ehemaliger Schüler (der von uns vordem be-
suchten Schule) nach Hause gingen, meine Freundschaft
an und bat ihn um die seine; ja, ich offenbarte ihm —
von gereifterem Standpunkt aus als.einst — , dass ich ihn
über alles lieb hätte. Er lehnte ab; und ich konnte mich,
wenn mir das Herz auch schwer ward, nicht darüber be-
klagen.
„Von gereifterem Standpunkt aus," sagte ich. — In
der That: es war mir im Laufe der Jahre, im Laufe
meiner Entwicklung und der Erfahrungen, die ich aus
all 9 meiner Umgebung sammeln konnte, immer klarer zum
— 301 —
Bewusstsein gekommen, dass mein absoluter Mangel an
Neigung zum weiblichen Geschlecht, den ich von jeher
erkannt hatte, sowie mein inniges und oftmals stürmisches
Empfinden für gewisse jugendliche männliche Personen
nicht auf übermässige Keuschheit einerseits und ein stark
entwickeltes blosses Freundschaftsverlangen andererseits
zurückzuführen war, sondern dass der Grund für jene
Erscheinung in meiner ganzen Natur, meiner sexuellen
Veranlagung liegen musste. Ich f ü h 1 1 e eben physisch
und psychisch anders als, soviel mir bekannt war, alle
meine Freunde und Bekannten. Und schon damals hätte
ich, wie heute, bekennen müssen: Wenn die Heterosexuellen
unsere Neigung zum gleichen Geschlecht als unnatürlich
oder widernatürlich bezeichnen und die Aeusserung thun,
sie begriffen gar nicht, wie man als Mann überhaupt
einen Mann oder Jüngling lieben könne, lieben wie etwa
ein Romeo seine Julie, ein Faust sein Gretchen u. s. w., so
kann ich nicht anders als erwidern: „ich begreife es
nicht — aus meinem Innern, meinem Fühlen heraus
— wie ein Mann ein Weib lieben kann; ich sehe zwar,
dass dies geschieht, und nehme es somit, naturwissen-
schaftlich gebildet und naturwissenschaftlich denkend, als
eine Thatsache der Erfahrung hin, die ich nicht leugnen
kann, mache mir auch klar, dass es aus naturwissen-
schaftlichen Gründen notwendig ist, dass es einen Sinn
hat, der sich im Rahmen einer Betrachtung des Natur-
ganzen erkennen lässt — aber alles dies könnte mich
(so wenig wie irgend einen andern) dazu bestimmen, mich
nun meinerseits faktisch mit einem Weibe geschlechtlich
einzulassen; denn nicht aus wissenschaftlichen noch aus
religiösen*) Rücksichten wird der Geschlechtsakt zwischen
*) Etwa weil Gott im alten Testament befohlen habe: Seid
fruchtbar und mehret euch, was er — das Gebot w Ortlich genommen
: — gar nicht jalotig hafte w^gen des Triebes, den er dem Menschen
ins Innere gab. ' , .
— 302 —
den Menschen vollführt, sondern weil ein ihnen ein-
geborener Trieb sie dazu veranlasst, ja zwingt.
Diesen Trieb aber — in Bezug auf's andere Ge-
schlecht — hab' ich noch nie in mir gespürt ; und darum
ist der geschlechtliche Verkehr oder auch nur die ge-
schlechtlich beeinflüsste Zuneigung zwischen Mann und
Weib von meinem Empfinden aus allgemein, nichtnur
für mich, sogar etwas Unnatürliches, in demselben
Masse wenigstens, wie es für den Heterosexuellen die
gleichgeschlechtliche Liebe ist.*
Auch auf eine andere Vorhaltung, die den Homo-
sexuellen oftmals von den Heterosexuellen gemacht wird,
möchte ich hier in Kürze eingehen, da sie an einen im
Vorstehenden schon erwähnten Umstand anknüpft. Man
weist darauf hin, dass die Ehe oder genauer: der —
durch die Ehe sanktionierte — geschlechtliche Verkehr
zwischen Mann und Weib einen thatsächlichen Zweck
habe, da er der Erhaltung des Menschengeschlechts
diene, mögen die an dem Verkehr Beteiligten auch in
den wenigsten Fallen diesen Zweck unmittelbar vor Augen
haben. Beim ho m o sexuellen Verkehr fällt dieser Zweck
natürlich fort, nnd es findet nur das sinnliche Verlangen
seine Befriedigung. Damit würde der homosexuelle Ge-
schlechtsakt niedriger einzuschätzen sein als der hetero-
sexuelle.
Hierauf ist zu erwidern, dass, wenn man zunächst
den einzelnen Akt als solchen, nicht als den .blossen Teil
einer Gesamtheit des Geschehens und Verhaltens ins Auge
fasst, der heterosexuelle Akt aus dem Grunde weder
moralisch noch ästhetisch höher einzuschätzen ist als der
homosexuelle Akt, weil der genannte Zweck für
die grösste Anzahl aller heterosexuellen Akte
nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv
nicht in Betracht kommt, da zuliebe des Zweckes
Mann und Weib, knapp gerechnet, nur alle zehn Monate
— 803 —
«in mal den Geschlechtsakt zu vollziehen hätten. Alle
übrigen Male, insbesondere in den Fällen, wo Vorsichts-
maßregeln angewendet werden, um dem Kinder- „Segen"
vorzubeugen, ist auch zwischen Mann und Weib, in keinem
anderen Masse als beim .homosexuellen Verkehr, die
Sinnlichkeit das Bestimmende.
Sagt man aber : die Natur streut den Geschlechtstrieb
allgemein aus und schafft dadurch in verschwenderischer
Weise eine Fülle von Gelegenheit zur Schaffung von
Leben, während sie es doch nur vereinzelt zur wirklichen
Erzeugung lebensfähiger Keime kommen lässt, so steht den
Homosexuellen das Recht au, auch die Anerkennung der
Ansicht zu verlangen, dass die Natur so überreich ihre
treibenden Kräfte gespendet hat, dass sie selbst da sich
regen, wo-*- wie auch bei unfruchtbaren Hetero-
sexuellen — niemals auf die Erreichung des ange-
deuteten Zieles zu rechnen ist Ein anderes Ziel kann
aber wohl errungen werden, et» Ziel> das den homo-
sexuell Verkehrenden, wenn sie auf höherer sittlicher
Stufe stehen, ebenso gut vorschwebt wie den gemeinsam
lebenden Heterosexuellen unter der angegebenen Be-
dingung — • das Ziel, sich gegenseitig seelisch zu beglücken,
im. Kampfe des Lebens, spiele er sich nun auf materiellem
oder geistigem Gebiete ab, zu stützen und zu fördern,
einander zu helfen in Not, zu trösten im Leid, gemeinsam
zu fühlen, in derselben Sphäre des Empfindens zu atmen.
Dies Ziel ist für die Homosexuellen in gleicher Weise wie für
die Heterosexuellen erreichbar, wenn der Verkehr unter
jenen wie diesen kein äussetlieher, rein sinnlicher bleibt ; und
es wird andererseits, wenn letztere Bedingung nicht er-
füllt wird, für die Heterosexuellen ebensowohl wie für
die Homosexuellen in ewig weiter Ferne, ja vielleicht
verhüllt oder seitab liegen bleiben. Es kommt eben in
dieser Beziehung lediglich auf die Meuschau an, auf
die Menschen als sittliche Wesen, auf die Stärke und
— 30 t —
Feinheit ihres moralisches' Empfindens, auf die Fülle und
Tiefe ihres Gefühls, nicht auf ihre geschlechtliche Ar-
tung, die Zugehörigkeit zu dieser oder jener Klasse der
Sexualität. Wie zahlreiche, staatlich anerkannte und kirch-
lich geheiligte Ehen sind nicht derart zustande gekommen
und werden derart geführt, dass man sie nicht höher
schätzen kann als ein Konkubinat, ja manchmal das
sogar noch nicht!
Doch ich kehre zu dem Faden meiner Erzählung
zurück. — Ich war — wegen einiger Examina etwas
spät, nämlich im Alter von 24 Vi Jahren — Soldat ge-
worden. Ein halbes Jahr nach mir trat in unsere Kom-
pagnie, als Einjährig-Freiwilliger wie ich, ein junger
Mediziner ein, der, frisch aus der Provinz gekommen und
ausserdem leichtfertig veranlagt, vom Grossstadtleben
gewaltig angezogen wurde. Der Strudel desselben er-
fasste ihn. In Weiberkneipen wurde er sein Geld los,
und er kam in Not. Ich merkte das, wenn er mir auch
zunächst nichts offenbarte, bald; und da wir uns an ein-
ander geschlossen hatten, er in Freundschaft, ich in Liebe,
weil er ein hübscher, treuherzig scheinender Mensch war,
half ich ihm, fast über meine Kräfte hinaus. Noch heute,
wo er längst verheiratet ist, einen kleinen Sohn hat und
als praktischer Arzt und mehr noch, weil er eine „gute
Partie" gemacht hat, in günstigen finanziellen Verhält-
nissen lebt, schuldet er mir mehrere Hundert Mark; ans
Bezahlen freilich denkt er nicht, und ich bin zu stolz und
stand ihm zu nahe, als dass ich das Geld von ihm fordern
möchte. Dass er aber zu einem ordentlichen Menschen
geworden ist (sein Vater, den ich wie seine ganze Familie
kennen lernte, war schon entschlossen, ihn nach Amerika
zu schicken), hat er, wie ich glaube, zu einem kleinen
Teile auch mir zu verdanken. Aber ich förderte ihn
gern ; mein Herz jubelte bei jedem kleineren oder grösseren
Siege, den er über seinen Leichtsinn und seinen un-
— 305 —
ordentlichen Lebenswandel davontrug. Als er — in Geld-
not befindlich — eine ihm von Kameraden anvertraute
nicht unbeträchtliche Summe unterschlagen hatte, sagte
ich mich nicht, wie andere, von ihm los, sondern trat für
ihn ein und bewirkte es durch meine Vermittlung, dass er
weder aus einer Burschenschaft, deren Mitglied er war,
schimpflich ausgestoßen noch etwa von der Universität,
die er inzwischen (nach Ablauf seiner militärischen Dienst-
zeit) bezogen hatte, relegiert wurde; er konnte seine
Carrifere weiter verfolgen und that es mit grösserem Eifer
als bisher und in engem Anschluss an mich, der daran
arbeitete, ihn zu ernstem Streben zu ermuntern sowie
überhaupt sein Inneres zu vertiefen und ihm im Gegen-
satze zu seinem bisherigen sinnlosen Verhalten eine ver-
nünftige Lebensauffassung beizubringen. Mit seiner und
seines Vaters Uebereinstimmung verwaltete ich sein Geld
und zahlte ihm dasselbe bei beiderseitiger genauester
Buchführung seinen Bedürfnissen entsprechend aus. Zu
diesen Bedürfnissen gehörte nun aber auch der Verkehr
mit dem Weibe. Wir sprachen darüber offen und ernst
— er als angehender Mediziner, ich als Naturforscher,
der das Studium hinter sich hatte. Ich musste mich
wenn ich nicht unvernünftig handeln wollte, dazu be-
quemen, ihm gelegentlich zu diesem Zwecke 3 Mark ein-
zuhändigen. Mit welchen Gefühlen aber ich dies that,
kann ein heterosexuell Veranlagter nur dann verstehen,
wenn er sich vorstellt, er habe eine heiss und innig ge-
liebte Braut, die er einem Rou£ in die Arme legt, während
er selbst voll Entsagung sich zurückzieht, nachdem er
vorher noch mit einem Geldbetrage gewissermassen sich
losgekauft hat. Ich gedenke noch lebhaft und schmerz-
lich eines Abends, als mein Freund in traulichem Ge-
plauder bei mir und meinen Eltern (bei denen ich wohnte,
solange sie lebten) geweilt hatte und mich auf dem Heim-
weg, auf dem ich ihn ein Stück begleitete, um die be-
Jahrbuch II. 20
— 806 —
wusste Summe bat. Ich gab sie ihm, wurde aber, vorher
so froh bewegt und freundlich mit ihm sprechend, plötz-
lich still, und ein Gefühl unbeschreiblicher Wehmut ging
mir durchs Herz. Die Strassenecke, wo wir Abschied zu
nehmen pflegten, war erreicht; er stieg auf die Pferde-
bahn, und ich kehrte um. Noch einmal blickte ich ihm
nach, tiefe Trauer, wilde Zerrissenheit im Innern, aber
voll innigen Empfindens für ihn, den ich trotz allem
st lig liebte. Dann taumelte ich nach Hause, sank, in der
Wohnung angekommen, auf die Kniee und weinte. —
Nachdem mein Freund einen grossen Teil seines
Studiums hinter sich hatte, fiel ihm meine Beeinflussung,
der Zwang, den er einst freiwillig auf sich genommen
hatte, lästig. Er glaubte nun selber seinen Weg finden
zu können; unser Verhältnis wurde gelockert, und, als
er mit anderen Freunden und Bekannten, die eine der
seinen ähnlichere Lebensauffassung hatten, häufiger und
intimer verkehrte, kamen wir völlig auseinander, wenn
wir uns auch gegenseitig eine freundliche Gesinnung be-
wahrten.
Jahre waren vergangen, da lernte ich eine Familie
kennen, deren einer, jugendlicher Sohn mir durch sein
Aussehen und Verhalten den Eindruck eines femininen
Homosexuellen machte. Zwar sagte mir seine und seiner
Familie Art nicht völlig zu, auch genügte er meinen An-
forderungen im Punkte der Schönheit nicht, aber trotz-
dem zeigte ich mich, vom Gedanken an die Möglichkeit
einer endlichen Erfüllung meiner geheimsten Wünsche
und Liebesträume bewegt, erst freundlich, dann zärtlich
gegen ihn, und als ich es wagte, den ersten flüchtig-
scheuen Kuss auf seine Lippen zu drücken, und ihn dann
fragte, ob er mir böse sei deswegen, sprach er hold und
leise, auf meinem Schosse sitzend: „Nein". Ich begann
nun, mich in ihn zu verlieben. Wir küssten uns oft und
innig; in geschlechtlicher Hinsicht waren wir lange Zeit
— 307 —
zurückhaltend. Die Differenzen in der seelischen Ver-
anlagung, die ohne Zweifel zwischen ihm und mir vor-
handen waren, glaubte ich durch die Glut meiner Liebe
überwinden zu können und, wenn er mich nur wieder-
liebte, über diesen und jenen Mangel an ihm hinwegsehen
zu sollen. Wenn ich schon an G. St., den zuvor er-
wähnten Mediziner, eine Reihe von Gedichten verfasst
hatte, begann nun, wo ich nicht wie damals unglück-
lich liebte, das Saitenspiel des Herzens noch voller zu
erklingen. Eins der an ihn (K. V.) gerichteten Gedichte
(aus dem Mai 1804) setze ich hierher:
Du bist mein Lenz, der mir mit Blütenpracht,
Mit Sonnenlicht und süssem Vogelsang
Erstanden ist nach langer Wintersnacht
Und dessen Friedensreigen mir erklang.
Du bist mein Lenz; dein Auge ist die Sonne,
Die lachend durch das Grau des Himmels bricht,
Die lachend in mir zündet sel'ge Wonne
Und mich um kost als holdes Lebenslicht.
Du bist mein Lenz; die Rosenlippen blühen,
Sie öffnen sich, zum Kusse froh-bereit —
Wohlan! ich folge meines Herzens Glühen
Und still 1 an ihrem Dufte all' mein Leid.
Von deinen Armen lass' ich mich umschmeicheln,
Derweil' ich trinke deines Odems Kraft;
Mit meiner Hand will ich das Haar dir streicheln,
Dich herzen, Lieb', voll trauter Leidenschaft. —
Und wie in Busch und Feld, in Htih'n und Tiefen
Zur Frühlingszeit ein neuer Geist sich regt,
50 sei auch du, ob alle Geister schliefen,
Vom Geist der Liebe jubelnd froh-bewegt.
Aus deiner Seele soll der Lenz mir scheinen,
51 e spreche heiss zu mir in jedem Kuss;
Und unsre Herzen sollen sich vereinen,
AVenn lockend naht das Blütenkind Genuas. —
Leider sollte unsere Beziehung, die für mich so
20*
308 —
freundlich und licht begonnen hatte, nicht von langer
Dauer sein. Auf einer ca. dreiwöchentlichen Sommerreise,
die ich mit K. V. zusammen machte, wurde es mir bei
dem tagtäglichen Zusammensein und Umgang immer
klarer, dass er nicht zu mir passte. Seine Rechthaberei
und ein gewisser Eigensinn, die sich durch keine Nach-
sicht, durch keinen liebevollen Zuspruch besänftigen
Hessen, schnürten mir das erst so freudig offene Herz zu-
sammen und bewirkten, dass ich mich, durch ihn inner*
lieh abgestossen, leise in mich selbst zurückzog. Ich
zweifelte daran, dass er mich überhaupt je geliebt hatte,
geliebt, wie ich ihn liebte und wie es mein Herz von
ihm verlangte. Von der Reise heimgekehrt, wurde ich
sparsamer mit meinen Zärtlichkeiten, und wir kamen sel-
tener zusammen. Eine Trübung war in unser Verhältnis
gekommen, und obgleich er mir — spät genug freilich,
aber vielleicht, weil er selbst nicht eher völlige Klarheit
über sich besass — seine feminine Homosexualität offen-
barte, kam es zu einem endgiltigen, wenn auch freund-
lichen Auseinandergehen.
Ich will über die folgenden Ereignisse in meinem
Liebesleben schnell hinweggehen. Arge Enttäuschungen
wurden mir zu teil. Ich hatte mich in idealer Schwärmerei
der Hoffnung hingegeben, einen Menschen, der der (männ-
lichen) Prostitution verfallen war, durch die sieghafte
Macht der Liebe in reinere Sphären emporziehen zu
können. Die Liebe hätte dies in der That vermocht*
aber sie durfte keine einseitige, nur von mir heiss empfun-
dene sein; er, den es zu retten galt, hätte mich wieder
lieben, an mir hängen, nach mir sich sehnen, mir willig
folgen müssen. Nachdem ich ein halbes Jahr lang Geld
Zeit und die ganze Fülle meines Herzens dahingegeben
hatte, nachdem ich zwischen Hoffnung und Zweifel, Glück
und Schmerzen hin- und hergeworfen worden war, musste
ich die bittere Erfahrung machen, dass die Welle, die den
— 309 —
von mir so innig Geliebten emporgetragen hatte, ihn
wieder verschlang. Ich war innerlich gebrochen, und
oftmals, wenn ich mit einem Freunde, der über alles, was
mich betrifft, Bescheid weiss und, obgleich selbst hetero-
sexuell, doch tiefes Verständnis meinem Wesen entgegen-
bringt, zusammenweilte, überliess ich mich unter heissen
Thränen meinem Schmerz und fand, vom Freunde auch
in diesem Fall begriffen und getröstet, Linderung.
Mochte die Welt auch über Menschen meiner Art, mit
meiner seelischen und geschlechtlichen Veranlagung die
-Achseln zucken und zu allem eigenen Jammer noch das
Urteil der Verachtung fällen; hier war eine Seele, die
auch in mir den göttlichen Funken erkannte und das
Geschöpf Gottes auch dann achtete und mit treuer
Freundesliebe beschenkte, wenn es, ohne schlecht zu
sein, von der sonstigen Menschen-Norm abwich.
„Ohne schlecht zu sein!* — Es hatte ja eine Zeit
gegeben, wo ich mir eingebildet hatte, von Gott Verstössen
zu sein, da ich Neigungen in mir trug, die — so rein sie
auch mir selbst erschienen — doch von der grossen Masse
verworfen oder zum mindesten verspottet wurden. Es
war in jener Zeit hinzugekommen, dass mir, der ich mich
mangels der Erfahrung bei der Annäherung an einen
jungen Mann ungeschickt benommen hatte, wie ich un-
begründeter Weise fürchtete, Gefahr drohte. Diese Um-
stände gaben von einer Seite den Anstoss dazu, dass ich
mich mit meinem ganzen Herzen dem höchsten Helfer in
der Not: Gott wieder zuwandte, nachdem ich durch meine
naturwissenschaftlichen Studien aus einem einst gläubigen
Knaben ein materialistisch denkender Student geworden
war. Andererseits war es aber tieferes wissenschaftliches
Nachdenken selbst, vor allem die Beschäftigung mit der
Erkenntnistheorie und das Eindringen in die Geschichte
der Wissenschaften, in den Wechsel und die Umwälzung
der Anschauungen und Ideen, die sie darbietet, was mich
A
— 310 —
wieder zum Gottesglauben, ja sogar zur öffentlichen
Agitation für denselben bestimmte. —
Diese Wandlungen lagen hinter mir, als jener Schlag
mich traf. Und so fand ich denn noch anderen als nur
menschlichen Trost; die heilende Hand Gottes, der mich
— ich fühlte es — nicht verwarf, sondern vielleicht durch
Nacht zum Lichte führen wollte, legte sich auf mein zer-
rissenes Herz, und es begann zu genesen.
Völlig gesund, ja froh aber fühlte es sich erst> als
neue Liebe es erfüllte. Aus der Zeit und den Ereig-
nissen, die nun folgten, will ich nur zweierlei heraus-
greifen : . ein Gedieht und einen Brief, die besser als die
ausführlichste Darstellung zeigen werden, wie es um das
Herz eines, wie man vielfach so unschön und unrichtig
sagt, pervers Empfindenden bestellt sein kann.
Auf der Flucht.
(Phantasie an Hermann.)
Der Mond scheint hell, und es saust der Wind;
Lass uns jagen, süss' Lieb, geschwind, geschwind
Durch die Nacht — Ubers Feld — in die Weite!
Entfliehen lass uns der lauernden Welt,
Die mit Neid und Bosheit uns feindlich nmstellt
Und sich rüsten möchte zum Streite.
Ja, könnte ich kämpfen mit offnem Visier
Und frei aller Fesseln — ich bliebe hier
Und wollte im Kampfe mich messen.
So aber sind ungleich die Kräfte verteilt;
Drum lass uns von hinnen ziehn unverweilt
Und der Feinde, der Welt vergessen.
Die Stunde ist günstig und alles bereit —
Nur fort! eh' der Liebe That dich gereut —
Vergiss mir auch Vater und Brüder!
Du gehst ja mit mir, dem dein Leben gehört,
Der um dich in Wonne und Leid sich verzehrt —
Eine Heimat findest du wieder.
Drum fconitn, mein Liedling, und reich 1 mir die Hand!
Gen Osten ist fröhlich mein Auge gewandt;
Komm! sich', wie die Nebel dort brauen!
Sie hüllen uns ein, dass uns niemand sieht;
Und wenn ihr Schleier die Thäler flieht,
Wirst die Sonne der Freiheit du schauen.
Der Brief aber hatte folgenden Inhalt:
„Es ist fast ein Vierteljahr vergangen, seit wir auf
die freundlichste und innigste Art mit einander verkehren.
Wir haben uns mit jedem Tage des Zusammenseins und
bei jedem Austausch unserer Gedanken und Empfindungen
in unserer Eigenart mehr und mehr kennen gelernt; aber
ob wir" einander bis auf den tiefsten Grund der Seele
erkannt haben? ob wir neben übereinstimmenden Eigen-
schaften, die unsere Charaktere zeigen, und neben den
guten Anlagen, Neigungen und Regungen in uns auch
das Trennende und Unvollkommene gesehen haben? und
ob wir imstande sind, dies mit den Augen der Liebe
anzusehen ? der Liebe, die alles entschuldigt, alles duldet
und auch die Fehler des andern voll Milde, voll Mit-
gefühl, voll versöhnlichen und sich innig hingebenden
Sinnes umfasst? Sind wir diejenigen, die immer treu,
ergeben und aufopferungsfähig zu einander halten können,
auch dann, wenn trennende und drohende Gewalten sich
zwischen uns stellen? Sind wir von der Art, dass wir
beide — Du, mein H , und ich — eine Ehe
bilden können, die so ist wie die, von denen man sagt,
dass sie im Himmel geschlossen sind? Ist unsere Ehe
im Himmel geschlossen? Ist sie eine wahre Ehe, in
der die Liebe waltet, nichts als sie: die grosse, warme,
sonnige Liebe des Herzens?
„Du glaubst freilich an den Himmel nicht, glaubst
nicht an den, der selbst Geist und Liebe ist, aus dem wir
mit unserm Geist und unserm Lieben geschaffen sind.
Und doch frage ich Dich, wenn Du sein Dasein auch
nicht verstehen noch einsehen kannst: Fühlst Du
— 312 —
nicht den wunderbaren Hauch, der auftaucht in unserm
Innern und uns umfängt, als stamme er nicht aus uns
— so gross, so schön, so edel ist, was er wirkt; so gut
macht er unser Fühlen, unser Wollen, unser Sinnen und
unser Thun — und der dann doch wieder in uns wohnt,
als sei er da — in unserm Innern — ganz zu Hause?
„Fühlst Du diesen Hauch der Liebe nicht, der aus
ewiger Quelle steigt? — Und es ist mehr als ein Hauch :
es ist ein rauschender Strom, der uns kosend umspült,
wonnig durchwogt. — Ach, mehr als je fühP ich heute
mein Herz voll von diesem Strom, mehr als je fühl' ich,
dass er wahres Leben giebt. Mein Herz wird so weich
und so weit, so milde und so stark, dass ich vor aller
Welt es öffnen möchte und den Glanz, der darin aufge-
gangen ist, hinausströmen lassen möchte über alle Welt, dass
sie erwacht aus ihrer Selbstsucht, ans ihrem Neiden und
Hassen, aus ihrem Richten und Verfolgen, aus ihrem
kalten Geschäftssinn und ihrer Unversöhnlichkeit.
«Liebe, du herrliches Wunder wort, an dir richte ich
mich auf. Liebe, du starkes, wonnig-süsses Gefühl, in
dir will ich gesunden und gedeihen, in dir sollen alle
meine Schmerzen sich lösen, alle meine Wunden heilen.
Ich ströme dich hinaus, zaubrische Lebenskraft, ich giesse
dich aus über die Lande — aber mannichfache Aufnahme
wird dir zuteil gleich dem Samen, der auf mancherlei
Acker fällt Und es sucht meine Liebessehnsucht einen
Fleck im Weltenall, wo sie Nahrung findet, Nahrung an
einem, ach einem blühenden Menschenherzen nur, an
einem Herzen, das mich in all' meiner alltagsfremden
Schwärmerei versteht; das mitempfindet, was mich be-
wegt, und mir, was ich ihm biete, wiedergiebt H ,
H , was auch kommen mag: lass Dein Gefühl
zu mir — dies holde, innige, grosse Wesen, das niemand
sieht und das doch so beglückend und so lebenspendend
ist — lass es blühen und wachsen und hinüberströmen
— 313 —
zu mir, dass es mich unirauscht und durchströmt und ich
in ihm atme, in Ewigkeits-Ahnungen getaucht, die mehr
sind, als die Welt, die unsern Sinnen sich erschliesst, uns
bieten kann.
„Und wenn Du tausendmal aus Gründen des Denkens
nicht glauben kannst: wenn Du solche Liebe in Dir
trägst zu mir, wie ich zu Dir, und wenn Du diese Liebe
verstehst und sie Dich beseligt, dann trittst Du hinaus
über den Standpunkt, der mit der Woge, die wir Men-
schenleben nennen, abgeschlossen ist. Du greifst dann
ahnend hinüber mit Armen des Geistes aufs weite, weite
Meer und in den luftigen, sonnenscheindurchwogten Aether
und ein neues Reich umrängt Dich, und wir beide, eng
umschlossen, innig verknüpft, schwimmen und schweben
in ihm, und über uns leuchtet ein Angesicht, freundlich
und schön, hehr und milde, liebreich und gross — das
Angesicht dessen, der einst auf Erden wandelte und für
nichts anderes sterben musste — da die grobe, ver-
steinerte Alltagswelt ihn nicht verstand — als weil er
Liebe predigte und Liebe lebte. Mit Feuerzungen möchte
auch ich das alte Evangelium von der Liebe als neue
frohe Botschaft der versunkenen Welt (versunken in
Eigennutz und Härte), den Staaten und den Kirchen, den
Ständen und den Einzelnen, verkünden. Dazu aber
brauche ich selber Liebe, dazu brauche ich, dass das,
wovon ich reden will, nicht verkümmert in mir. Ich
hab's in mir, wenn man's auch draussen, wo ein rauher
Wind über hartes Erdreich weht, oft nicht verstehen
will. Verstehe mich Du, fühle und ahne! Nähre und
pflege mit vergebendem Sinn, mit liebreichem Herzen dies
Liebesgefühl! Es wird, wenn Du solches thust, Dich
zufrieden machen, Dir das ßewusstsein geben, das ein
Mensch hat, der eine gute That vollbringt. Halte zu
mir und bleibe mir treu! Ein Nackender bittet Dich;
ein Nackender, welcher friert, wenn Du ihn nicht ein-
— 314 —
hüllst, ihn, der Dich liebt, in wärmende Liebe. In Ge-
danken bei Dir — Dein . . .
Der, an den diese Zeilen gerichtet waren, verstand
mich nicht. Geistig und seelisch konnte er mir — auf
die Dauer — nicht genügen. Es kam hinzu, dass auch
sein Charakter Mängel aufwies — er zeigte sich unwahr
gegen mich und offenbarte zu wiederholten Malen einen
abstossenden Eigensinn — Mängel, die als weiteres
trennendes Moment sich zwischen uns drängten. Nach
zwei Jahren des Verkehrs gingen wir daher auseinander;
und dass die Schuld nicht an mir lag, geht u. a. vielleicht
daraus hervor, dass die eigene Familie meines Lieblings,
wie sie es schon vorher gethan hatte und später noch
nachdrücklicher that, sich gegen ihn erklärte. —
Ich war wieder verwaist. Und nach allen Enttäusch-
ungen, die ich erlebt hatte, verlangte mein Herz immer
inbrünstiger nach wahrer, selbstlos sich hingebender Liebe
eines edlen Menschen, der mich in meinem seelischen
Empfinden wie meinem geistigen Streben wahrhaft ver-
stand. Aber ehe ich solche Liebe fand, sollte ich eine
noch schlimmere Erfahrung machen als bisher. Ich fiel
einem Preller in die Hände, wie ich ihn noch nicht kennen
gelernt hatte und wie er abscheulicher und gefährlicher
kaum gedacht werden kann.
Bei Gelegenheit einer Festlichkeit in dem schon ein-
mal erwähnten Verein, bei der eine Theater- Aufl ührung
stattfand, lernte ich einen daselbst beschäftigten jungen
Friseurgehilfen kennen, mit dem ich eine Zusammenkunft
für den nächsten Tag verabredete. Ich räume ein, dass
das unrecht war, denn der junge Mann war nicht so
sympathisch, dass ich mich etwa vom Fleck weg in ihn
verliebt hätte; indessen: was thun andere, heterosexuelle
Männer? Knüpfen nicht auch sie oftmals Bekanntschaften
mit jungen Mädchen an, mit denen sie zu verkehren ge-
denken, ohne sie heiraten zu wollen? Es kam hinzu,
— 315 —
dass mein Inneres seit Monaten leer und verödet war
und daher schon Befriedigung empfand, statt der ersehnten
Liebe selbst ein geniessbares Surrogat derselben zu finden.
Es konnte ja auch sein, dass der junge Mann sich von
Charakter so erwies, dass eine grössere, seelische An-
näherung möglich wurde. Zum Schluss aber hebe ich her-
vor, dass die animierte Stimmung, in die mich der Fest-
abend versetzt hatte, nicht wenig dazu beitrug, dass ich
kühn wurde und meinem sonst ernsten und innerlichen
Wesen selber einen Streich spielte. — Er sollte mir schlecht
bekommen.
Als wir am nächsten Tage zusammen waren, erkannte
ich aus allen Aeusserungen meines Gefährten, dass er
nicht zu mir passte. Er war leichtsinnig und gewissen-
los, was u. a. aus seinem von ihm selbst erzählten Verhalten
gegenüber seinem Schneider hervorging. Wir verabredeten
zwar zunächst noch eine weitere Zusammenkunft, aber
ich schrieb ab. Nun suchte der Friseur meinen
Namen, Stand und Wohnung, die ich ihm nicht genannt
hatte, zu erforschen, was ihm auch bei dem Vorsitzenden
des oben erwähnten Vereins gelang.
Hiernach kam er in Begleitung eines anderen jungen
Mannes, den er, die Unwahrheit sagend, als seinen Bruder
vorstellte, in meine Wohnung und verlangte von mir, dass
ich ihn, da er stellungslos sei, unterstützte. Ich erwiderte,
dass ich das nicht könnte. Da berief er sich auf unser
Zusammensein mit dem Bemerken, so Hesse er sich nicht
abspeisen.
Weil in diesem Augenblick meine Aufwartefrau kam,
die Wohnung zu reinigen, war mir die weitere Verhand-
lung im Hause unangenehm, und unter dem Vorwande,
dass ich fort müsste, verliess ich mit den beiden Genann-
ten meine Wohnung und wanderte mit ihnen durch ver-
schiedene Strassen.
Ich fragte nun noch einmal nach dem Begehr des
— 316 —
Friseurs, und als ich unter Darlegung meiner Verhält-
nisse eine Unterstützung ablehnte, drohte er, mich ge-
sellschaftlich bloßzustellen und bei der Polizei anzuzeigen,
wenn ich seinem Wunsche nicht nachkäme. Ich verlangte
jetzt, dass der Begleiter des Friseurs, der bisher nicht
von unserer Seite gewichen war, sich behufs weiterer
Erörterungen entfernte, da ich mit ihm nichts zu thun
gehabt hätte und ihn überhaupt nicht kannte. Derselbe
blieb denn auch einige Male zurück, kam aber immer bald
wieder an uns heran. Der Friseur that dann einmal die
Aeusserung, dass er, wenn ich ihm kein Geld gäbe, auf
der Strasse „ein Theater machen* würde. Schliesslich
trennte sich auf meine wiederholte Aufforderung der Be-
gleiter des Friseurs endgiltig von uns, und nun bemerkte
ich letzterem gegenüber, dass er kein Recht hätte, Geld
von mir zu verlangen und dass sein Vorgehen Erpressimg
wäre. Er entgegnete, dass, wenn er auch bestraft würde,
ihm dies egal wäre; ich würde aber auch bestraft oder,
da ich einwarf, dass ich nichts Strafbares begangen hätte,
zum mindesten blamiert, und übrigens würde er die Sache
schon „schieben." Auf sein weiteres Drängen gab ich
ihm, um ihn los zu werden, 5 Mark. Er verlangte, dass
ich noch etwas zulegte, und folgte mir dabei, als ich
schnell weitergehen wollte, bis ich ihm nach einander
noch 1 Mark, 50 Pfennige und abermals iO Pfennige ein-
gehändigt hatte. Dann verliess er mich.
Mit welchen Empfindungen ich nun nach Hause ging,
lässt sich denken. Es war nicht der Verlust des Geldes,
der mich schmerzte, sondern das Bewusstsein, in die
Hände eines schamlosen und verworfenen Menschen ge-
raten zu sein und mit diesem Menschen, wenn auch nur
ein Mal, mich gemein gemacht zu haben (wir hatten
mutuelle Onanie getrieben). Trübe Ahnungen und Be-
fürchtungen durchwogten meine Seele, und wochenlang
ging ich gedrückt und scheu durch die Strassen, stets
— 317 —
fürchtend, dass ich ihm wieder begegnen würde. Uud
in der That Hess er sich nach nicht ganz zwei Monaten
wieder sehen. Diesmal kam er in Begleitung eines anderen
Gefährten, der mit beispielloser Dreistigkeit und Gemein-
heit auftrat. Seinem Dialekt nach war dieser ein Kölner,
ich will daher diese Bezeichnung wählen, um von ihm
zu reden. Als beide an meiner Wohnungsthür geklingelt
hatten und ich öffnete, drängten sie sich — der Kölner
voran — sogleich an mir vorbei hinein. Auf meine Frage
nach ihrem Begehr sagte der Friseur, er wolle Geld. Auf
meine Entgegnung, dass ich, wie ich ihm schon früher
erklärt hätte, nicht in der Lage dazu wäre, fiel mir der
Kölner ins Wort, indem er sagte: „Ach, das ist ja quatsch"
und eine gemeine Beschuldigung gegen mich erhob. Als
ich dieselbe ernst und ruhig zurückwies, behauptete der
Friseur, dass sie dennoch wahr wäre. Und nun stellte
mir der Kölner, der von da ab fast ausschliesslich das
Wort führte, vor, dass es für mich besser wäre, wenn
ich mich nicht ablehnend verhielte; der Friseur wolle
nach Köln, um dort Arbeit zu suchen; ich solle ihm das
Reisegeld geben, dann würde ich ihn los. Als ich mich
weigerte, drohte er, dass mich der Friseur anzeigen und
der öffentlichen Schande preisgeben würde.
Ich wies darauf hin, dass beide Erpressung gegen
mich auszuüben versuchten, worauf der Kölner dies zugab
mit dem Bemerken, dass freilich im Falle einer Anzeige
der Friseur ins Gefängnis kommen, ich aber die Blamage
haben würde. Ich sollte doch klug und vernünftig sein
und eine einmalige Zahlung leisten (das Reisegeld im
Betrage von 27,50 Mark), dann wollten sich beide schrift-
lich verpflichten, mich nicht wieder zu belästigen. Schliess-
lich ging ich, um beide loszuwerden, darauf ein. Die
erwähnte schriftliche Erklärung sollte ausgefertigt werden.
Da verlangte der Kölner statt der 27,50 Mark, damit
der Friseur auch zu leben hätte, 50 Mark. Auch darin
9
— 318 —
willigte ich ein. Gegen Entgegennahme der Erklärung,
die sich aber der Kölner zu unterschreiben weigerte,
zahlte ich die verlangte Summe. Nun aber forderte der
Kölner auch für sich 20 Mark, da er nicht umsonst mit-
gekommen sein wolle. Ich antwortete, dass ich ihn nicht
herbestellt hätte, worauf er diese Bemerkung als Quatsch
bezeichnete und Skandal zu machen drohte, wenn ich
das Geld nicht hergäbe. Ich bequemte mich, um einen
hässlichen Auftritt im Hause zu verhüten, auch zur Er-
füllung dieser Forderung. Als ich aber, das Portemonnaie
in der Hand, dem Kölner die 20 Mark hinreichte, wollte
er einen Blick in das Portemonnaie thuu, um zu sehen,
wieviel noch darin wäre, wobei er mir sein „Ehrenwort*
gab, nichts herausnehmen zu wollen. Ich weigerte mich
selbstverständlich, er aber griff danach, während ich es
festhielt. Zorn überkam mich, und ich rang mit dem
Entschlüsse, der ganzen schimpflichen und mich bis ins
Innerste erschütternden Situation durch Gewalt ein Ende
zu machen. Aber noch zögerte ich; die Furcht, mich
öffentlich blossgestellt zu sehen, hielt mich zurück. Schon
begann das Portemonnaie einzureissen, und auf die noch-
malige Versicheruiirg des Kölners, sich am Inhalt desselben
nicht zu vergreifen, der ich allerdings keinen Glauben
schenkte, liess ich los. Und nun entnahm der Kölner
dem Portemonnaie den ganzen Rest an grösserem Gelde,
im Betrage von 40 Mark. (Ich hatte mir am Mittag
desselben Tages 100 Mark von der Bank geholt, um da-
von zu leben; zu Hause lasse ich, da ich allein wohne,
gar kein Geld.) Ich liess auch dieses letzte geschehen.
Hierauf entfernten sich beide. Der Kölner versicherte
noch, dass sie nicht mehr wiederkommen und mich be-
lästigen wollten, während er andererseits drohte, dass ich
wenn ich nach „oben* „pfeifen" würde, „noch 'was er-
fahren* sollte.
Als sie fort waren, brach ich auf einem Stuhl zu-
— 319 —
sammen and weinte. Mit derartigen Menschen, so niedrig
und verworfen, rausste ich zu thun haben, den noch jetzt
wie in hoffnungsfroher Jugendzeit Ideale durchglühten,
dessen Brust von dem Streben nach dem Höchsten er-
füllt war, was den Geist befriedigen und das Herz be-
glücken kann, der sich berührt fühlte von dem
Hauch jener grossen Menschenliebe, die in Christus
einst rein und vollkommen verkörpert war. — Ich raffte
mich auf und eilte, das Innere von Verzweiflung zerrissen,
zu meinem — vorher schon erwähnten (heterosexuellen) —
Freunde, damit er . meinen Schmerz teilte und ich Be-
ruhigung fände. Von anderer Seite aber, der ich mich
später gleichfalls anvertraute, wurde mir der Hat, bei
abermaliger Bedrängung durch die beiden Preller die
Hilfe der Polizei und des Gerichts anzurufen, da ich
sonst ein dauerndes Opfer der Erpressung sein würde.
Dies that ich denn auch, als nach nicht ganz zwei
Monaten der Kölner, diesmal allein, mich abermals in
meiner Wohnung aufsuchte. Ich hatte, bevor ich auf sein
Klingeln die Thür öffnete, die Sicherheitskette vorgelegt.
Er aber setzte den Fuss in die Thürspalte, sodass es mir
nicht gelang, die Thür zu schliefen, als ich ihn erkannt
hatte. Indem er sich nun mit Gewalt gegen die Thür
warf, suchte er sie aufzusprengen, was ihm aber nicht
gelang, da ich von innen mich ebenfalls gegen sie legte.
Ich forderte ihn, auf grund des Hausrechtes, dreimal auf,
sich zurückzuziehen; er aber wich nicht, schlug sogar, als
ich ihn mit der Hand zurückzudrängen suchte, mit seinem
Spazierstock nach mir, wobei er mich auf die Backe traf,
und stiess die gemeinsten Beschuldigungen und wieder-
holte Drohungen aus. Als ich ihn mit dem Bemerken
warnte, die Polizei rufen zu wollen, erwiderte er, dass er
lieber verrecken als weichen wolle. Da entfernte ich
mich schnell von der Thür, holte einen mir zur Hand
liegenden Pflanzenstecher und fuhr mit diesem durch die
— 320 —
Thürspalte ihm unter das Gesicht. Er erschrak, sprang
zurück, und ich konnte die Thür schüessen. Weit ent-
fernt aber, sich nun fortzubegeben, warf er sich zu
wiederholten Malen gegen die Thür, so dass ich mich
gezwungen sah, ihr durch dauernden Gegendruck Halt
zu geben. Dann wiederum klingelte er, verlangte Ein-
lass, beschimpfte mich in gemeinen Ausdrücken u. dgl. m.
Schliesslich, als er sah, dass er keinerlei Erfolg hatte?
verlangte er 1 Mark von mir, um nach Hause fahren zu
können. Wenn ich ihm nicht zum mindesten diese gäbe,
würde er mir auflauern und mir körperlichen Schaden
sowie öffentliche Blamage zufügen. Um der mir,- wie
sich denken lässt, äusserst peinlichen Szene auf dem
Treppenflur ein Ende zu machen, warf ich die verlangte
Mark durch den in der Thür befindlichen Briefeinwurf,
und der Kölner ging davon.
Was blieb mir nun zu thun? — Sollte ich ernstliche
Schritte, wie sie mir angeraten worden waren, auch jetzt
noch unterlassen, um mich weiteren Verfolgungen preis-
gegeben zu sehen? Würde ich, von Geldverlusten abge-
sehen, das moralisch Niederschmetternde, das seelisch
Zerrüttende derselben aushalten können? — Oder sollte
ich Anzeige machen und mich einer peinvollen Gerichts-
verhandlung aussetzen? O könnten doch die glücklichen
Heterosexuellen einsehen, wollten sie wenigstens esglauben,
dass auch in der Seele eines homosexuell veranlagten
Menschen Schamhaftigkeit, Innerlichkeit und Edelsinn
existieren können! Möchten sie begreifen, wie mein
Inneres nach den geschilderten Ereignissen verödet aus-
sah und wie es aus tausend Wunden blutete. Ich lief zu
meinem Freunde, ich rief Gott um Hilfe an — kein Trost;
ich fragte mich, ob ich wirklich so verworfen wäre,
dass ich dies verdiente. Selbstmordgedanken keimten in
meinem Innern. Fort aus der Welt, die mich nicht ver-
stehen, meine Eigenart nicht anerkennen wollte! Aber
— 321 —
ich habe noch für einen Bruder zu sorgen — mich hielt
die Pflicht In der That : auch wir Homosexuellen haben
Pflichtgefühl ; auch in uns lebt die Liebe zu den Unsern.
Und was war, was ist überhaupt mein ganzes Verbrechen?
Gehört es nicht gerade ihrem, dem Lebenskreise der
Liebe an? Will ich den Menschen denn Böses zu-
fügen? Bewegt mich Habsucht, Neid und Bosheit,
treibt mich sittliche Verkommenheit, wenn ich sehn-
suchtsvoll meine Arme ausstrecke, um einen Menschen
liebend zu umfangen? Wie gerne möcht' ich mit all'
meinem Fühlen und Können, mit Sorge und Förderung
einem nahestehn und angehören, der mich ganz versteht
und der auch mir in voller Liebe sich ergiebt, in einer
Liebe, wie sie inniger und edler auch heterosexuelle
Dichter nicht schildern können! Und dass dieser eine
Mensch, der als Ideal meinem geistigen Auge vorschwebt
männlichen Geschlechts ist — was kann ich dafür?
Hat die Allmutter Natur, die tausend Mannichfaltigkeiten,
tausend Uebergänge schafft, die so reich und vielseitig
ist, dass sie all' unserer starren Systeme und Klassi-
fikationen spottet, hat sie mich nicht (und wie ich meine:
bewusst, denn der Geist Gottes lebt in ihr) in den
Kreis der Schöpfung gestellt, damit auch ich mich
ausleben und ein Glück gemessen kann, das niemandem
schadet?! Denn, wenn der andere, den ich liebe, ge-
artet i8t wie ich, wenn auch er nur durch eine Liebe
glücklich wird, die ein Angehöriger des gleichen Ge-
schlechts ihm entgegenbringt — warum will man um
trennen? warum störend zwischen uns treten .'
Ich nehme den Faden meiner Erzählung wieder auf,
Von meinen Selbstmordgedanken, von denen gepeinigt
ich Tage lang wie im wüsten, schmerzlichen Traume um-
herging, erlöst, fasste ich den Entschluß — nicht weil
ich Rache üben, sondern weil ich Notwehr
Gefahren gebrauchen wollte — meine hSU&t
Jahrbuch II.
- 322 —
nisse zur Anzeige zu bringen. — Der Friseur und der
Kölner wurden verhaftet, und nach längerer Untersuch-
ungshaft der beiden kam es zur Verhandlung, bei der die
Oeffentlichkeit ausgeschlossen wurde. Die Anklage lautete
auf Erpressung, Hausfriedensbruch, Bedrohung und Dieb-
stahl. Nachdem der Staatsanwalt gegen den Friseur 8
Monate, gegen den Kölner V/ 2 Jahre Gefängnis beantragt
hatte, zog sich der Gerichtshof zu einer eingehenden Be-
ratung zurück, deren Resultat ein Urteil war, das auf ein
erheblich höheres Strafmass lautete: Der Friseur erhielt
6 Monate, der Kölner 2 Jahre Gefängnis unter Nichtan-
rechnung der Untersuchungshaft. — -
Ich nehme von den vorstehend gezeichneten trüben
Bildern Abschied und wende mich zum Schlüsse wieder
einem erfreulichen zu. Es glückte mir, die Bekanntschaft
eines jungen Mannes zu machen, dessen Herzens- und
Verstandeseigenschaften mich bestimmten, in innigen Ver-
kehr mit ihm zu treten. Aber unter dem Eindrucke
alles dessen, was ich erlebt hatte, und nach all' den Er-
fahrungen, die mir zu teil geworden waren, konnte ich
nicht sogleich jugendfroh aufjubeln und schwärmerisch
mich ihm zu Füssen legen. So gab denn eins der ersten
Gedichte, das ich an ihn richtete, wehmutsvollen Fragen,
scheuen ~ Zweifeln Raum, denen gegenüber ich hoffen
möchte, dass jene stets zu bejahen, diese immerdar grund-
los seien. Ich setze das Gedicht zum Schlüsse hierher:
Gestanden hat dein süsser Mond
In Worten zart, in sel'gen Küssen,
Was bebend ich verlangt 1 zu wissen
In meiner Seele tiefstem Grund:
Du hast mich lieb! Du willst im Sonnenland
Gemeinsam mit mir wandeln Hand in Hand.
Und doch — ist eine Frage mir geblieben:
Wirst dn mich immer, immer also lieben V
Wenn nun ein andrer, jugendschön,
Sich drängt in deines Lebens Kreise,
— 323 —
Wenn in gewinnenderer Weise
Er sich dir naht mit heissem Fleh'n
Und fern dann meiner Angen Strahlen sind
Und meiner Stimme Klang verweht der Wind:
Ist dir anch dann mein Bild ins Herz geschrieben?
Wirst dn anoh dann mich unverbrüchlich lieben ?
Und wenn sich eine äuss're Macht,
Der fremd ist unser tiefstes Wesen,
Ereifert, dich von mir zu lösen,
Und deine Seele hüllt in Nacht;
Wenn uns der Trennung bittrer Schmerz dann droht
Und dunkel Uber uns sich neigt der Tod,
Wenn deiner Hoffnung Kraft fast aufgerieben:
Willst du voll Treu' mich standhaft weiter lieben?
Nimm an, es weicht von mir das Glück,
Und Not und Sorge mich umgeben —
Zur Qual wird mancher Tag im Leben
Und trüb des Herzens Zukunftsblick;
Ich aber hab', seh' ich dein Auge offen,
Noch seFgen Trost, noch himmlisch süsses Hoffen —
Wird mir alsdann, wenn nichts mir sonst geblieben,
Noch voll zuteil dein innig trautes Lieben?
Und stehe ich im Kampf der Welt
Mit Vorurteilen und Gebresten,
Befehdet rings von sichren Festen,
Einsam ich selbst auf ödem Feld,
Den Sehnsuchtsblick gelenkt zur HimmelshÖh',
Das Herz bewegt vom tiefsten Erdenweh'
Und, ach, vielleicht von Ort zu Ort getrieben:
Kannst du, vertrauend, dann, auch dann mich lieben?
21*
Ein Fall von Effemination mit Fetischismus.
Mitgeteilt von Lehrer J. 6. F.
Mit Abbildung.
„Es gehört gewiss ein hoher Grad von Roheit und
niedriger Gesinnung dazu" — sagt Otto de Joux in seinem
Buche ,Die Enterbten des Liebesglückes" — „ein Indi-
viduum wegen einer körperlichen Anomalie, einen Un-
glücklichen wegen eines auffälligen, unharmonischen Ge-
brechens zu verspotten.* Kein vernünftiger Mensch wird
das thun. Bei seelisch Abnormen ist diese Schonung
keineswegs allgemein. So merkwürdig es ist, dass bei
den vielen gemachten Entdeckungen, Forschungen und
Fortschritten in der Wissenschaft man bis vor gar nicht
langer Zeit keine genauere Kenntnis über das Wesen des
„ dritten Geschlechts" hatte, ebenso erfreulich ist es aber
auch, dass die Wissenschaft sich jetzt nicht mehr weigern
kann, von den sexuellen Zwischenstufen Kenntnis zu
nehmen, dass sich edeldenkende Männer zusamraengethan
haben, dafür zu sorgen, dass durch Aufhebung von ge-
setzlichen Bestimmungen diesen Bedauernswerten ein
besseres Dasein ermöglicht werde. Das noch fast uner-
schlossene Gebiet der psychosexuellen Anomalien bedarf
freilich zum grossen Teil noch der Aufklärung und Er-
forschung, was aber besonders erschwert wird, da wohl
die meisten psychosexualen Hermaphroditen, die sich
— 325 —
selbst, was ihren Charakter anbetrifft, für eine geistige
Missgeburt halten, über ihren Zustand zu täuschen wissen
und selten aus ihrer Reserve treten. Es soll heute nicht
meine Aufgabe sein, allgemeine Mitteilungen über die
Seelenzwitter zu machen, sondern ich habe die Absicht,
das Bild eines mir nahestehenden Urnings zu zeichnen,
welcher zu der Gruppe der ausgeprägtesten Effeminierten
gehört
Wenn Westphal die Bezeichnung konträre Sexual-
empfindung eingeführt hat, so will er damit sagen, „dass
es sich hierbei nicht immer gleichzeitig um den Ge-
schlechtstrieb als solchen handelt, der eine verkehrte
Richtung gewinnt, sondern dass es sich um eine Empfin-
dung handelt, dem ganzen Wesen nach dem eignen Ge-
schlechte entfremdet zu sein." Es ist in der That auf-
fallend, wie mächtig sich bei manchen Homosexualen das
weibische Benehmen zeigt. Wie die Neigung, das Weibische
anzunehmen und besonders weibliche Toilette zu tragen,
den eigentlichen Geschlechtstrieb oft übertrifft, soll nach-
stehender Fall, der mir genau bekannt ist, illustrieren.
Es handelt sich um einen Mann, der wie Süsskind Blank
und Elise Edwards die Neigung hat, sich so oft er kann,
als Weib zu verkleiden und sich nur in weiblicher
Toilette wohl fühlt. Dieser Urning ist 41 Jahre alt.
Er hat noch eine ältere Schwester und einen jüngeren
Bruder. Die Eltern, sowie Geschwister, sind durchaus
normal. Es kann nicht mehr festgestellt werden, ob sich
in der frühesten Jugend schon Erscheinungen von Homo-
sexualität bemerkbar machten. Da er als Knabe öfters
krank war, so wurde bei ihm in der Erziehung viel
Nachsicht geübt. Mit dem 5. Jahre begann sein Schul-
besuch. Infolge guter Begabung waren die Fortschritte
erfreulich. Im Alter von etwa 12 Jahren verspürte er
in sich den starken Drang, Mädchenkleider anzuziehen.
Sobald die Eltern und Geschwister, welche sich mit Acker-
— 326 —
bau beschäftigten, zu Felde waren — er wusste es stets
so einzurichten, dass ihm die Beaufsichtigung des Hauses
übertragen wurde — verschloss er alle Hausthüren, ging
in die Kammer zum Kleiderschrank und zog das schönste
Kleid der Schwester an. Entzückt betrachtete er sich
dann lange Zeit im Spiegel und wünschte, doch auch ein
Mädchen geworden zu sein, damit er immer solche schöne
Kleider tragen könne. Sein ganzes Bestreben war, weibisch
zu erscheinen und seine Leidenschaft, in Frauenkleidern
und mit zusammengeschnürter Taille einherzugehen, war
sehr gross. Für Mädchenspiele hat er sich scheinbar
nicht interessiert. Bei Knabenspielen, die oft in Wild-
heit und Zügellosigkeit ausarteten, trat er gewöhnlich
zurück und war lieber Zuschauer als Mitspielender. Be-
stellungen auszurichten nach benachbarten Ortschaften,
that er nicht gern; am liebsten war ihm der Aufenthalt
im Hause. Abgesehen vom Kochen, zeigte er keine be-
sondere Neigung für weibliche Beschäftigungen. Da der
Gesundheitszustand sich bedeutend gebessert hatte, so
bestimmten ihn die Eltern, welche sehr religiös waren,
für den Lehrerberuf. Er war hierin auch nicht abgeneigt
und bekam deshalb zunächst Privatstunden. Wenn er in
der Geschichtsstunde hörte, dass einst Euklid, dessen
Vaterstadt mit Athen in Streit geriet, sich in Weiber-
kleidung abends heimlich zu Sokrates schlich, so regten
ihn solche Stellen gewaltig auf, sowie Mitteilungen über
den Dienst des Herkules bei Omphale und darüber, wie
Achilles eine Zeit lang als Mädchen unter Mädchen lebte.
Wiederholt hat er solche Stellen im Geschichtsbuche
wieder aufgesucht und gelesen. Er machte in seiner
Präparandenzeit so gute Fortschritte, dass er noch vor
dem 17. Jahre in das Seminar zu H. aufgenommen werden
konnte. Da die Arbeit in einer solchen Anstalt so gross
und mannigfaltig ist, so fand er kaum Zeit, seine Ge-
danken auf andere Dinge zu lenken. Das Internatleben
— 327 —
war ihm höchst unangenehm, er hätte lieber allein ge-
wohnt; Einsamkeit war ihm das liebste. Nach Beendi-
gung des Studiums und nach bestandenem Examen wurde
er Lehrer in O. Im Zeugnis hatte er im Betragen:
„Sehr gut". Nach einem halben Jahre wurde er auf
seinen Wunsch nach E. versetzt. Hier traten seine
Neigungen, welche bislang scheinbar geruht hatten, mit
grosser Stärke wieder auf. In dem Hause eines Land-
schaftsrats, in welchem er Privatstunden gab, sah er auf
dem Tische eine Modenzeitung und darin ein Damen-
kostüm abgebildet, das ihn so gewaltig erregte, dass er
sich bei einer Buchhandlung die „grosse Modenwelt" be-
stellte und sich nachher manche Stunde hierin vertiefte.
Die „Preussische Lehrerzeitung* gab damals als Beilage
„Die Moden für unsere Damen" heraus. Alle Nummern
wurden von ihm sorgfältig gesammelt und eingebunden.
Modejournale zu studieren ist seine liebste Beschäftigung.
Lose Blätter dieser Zeitungen, die dann und wann auf
der Strasse liegen, werden aufgehoben und aufbewahrt.
Ein Modenbild aus dem Kataloge von Rudolf Herzog
in Berlin, enthaltend Abbildungen von Damenkleidern,
das er im Strassenschmutze fand, wurde von ihm sauber
abgewaschen, wieder getrocknet und seiner Sammlung
einverleibt. Dasselbe geschah mit einer Nummer der
„Deutschen Zeitung" (München), welche zwei Bilder,
„ Herbst toiletten für Damen", brachte. Von dem Brust-
bilde seiner Photographie hat unser Urning den Kopf
abgetrennt und verdeckt damit die Damenköpfe in den
Modenzeitungen, so dass er sich dann für den Träger
oder für die Trägerin der hübschen Damentoiletten an-
sieht. Vergnügen macht es ihm auch, aus illustrierten
Journalen die Köpfe von Jünglingen und Männern heraus-
zuschneiden und dieselben auf Damenbilder zu kleben,
so dass es scheint, als wären es Männer in Damentracht;
sein ganzer Sinn ist also auf das Weibischmachen
— 328 —
gerichtet. Alle möglichen Zeitungsnummern, in denen
von als Damen verkleideten Männern berichtet ist, hat
er seit vielen Jahren gesammelt und thut es noch bis
auf den* heutigen Tag. Ich will hier eine Auslese von
den von ihm gesammelten Zeitungsberichten, teils wört-
lich, teils kurz zusammengefasst, wiedergeben.
Bericht in der Preuss. Lehrerzeitung v. 11. Juli 1879:
Eine seltsame Dame. Vor dem Polizei-Richter erschien
am 9. d. M. in feinem schwarzen Scbleppkleide, dunkelem
wollenen Umschlagtuch, mit kokett auf den Kopf ge-
stülptem schwarzen Strohhütchen, sehr sauberen weissen
Unterkleidern mit Kanten und in untadeligen Lackstiefel-
ohen eine Dame, die schon seit Wochen den Tiergarten
dadurch unsicher machte, dass sie sich in schamloser
Weise Herren aufdrängte, ßei Feststellung ihres Nationales
ergab sich, dass sie der 31jährige Kellner P. sei. . . .
Berl. Morgenzeitung vom 26. März 1892. Es wird
hierin von der Urningshochzeit des Amerikaners Withney
berichtet (vergl. Moll, Das kontr. Sexualgefühl, S. 192).
Preuss. Lehrerzeitung vom 1. Juni 1883.* Es wird
mitgeteilt, dass in Berlin die Sittenpolizei 4799 Männer
in ihren Listen führt, welche im Verdacht stehen, sich
in Weiberrollen zu gefallen oder die thatsächlich schon
in weiblichen Kostümen ergriffen worden sind.
Preuss. Lehrerzeitung vom 28. Juni 1879. Die Ver-
haftung einer höchst elegant gekleideten Dame erregte
am 25. d. M. vormittags nicht geringes Aufsehen, zumal
die Verhaftete, welche dicht verschleiert war, auch noch
durch ihre aussergewöhnliche Grösse die allgemeine Auf-
merksamkeit auf sich lenkte. Diese Dame, welche eine
schwere seidene Robe mit langer Schleppe, feinem Hut
mit weissem Schleier, eleganten Sonnenschirm usw. mit
vielem Chic zu tragen wusste, entpuppte sich auf der
nächsten Polizeiwache als der Kellner ... In der ele-
— 329 —
ganten Toilette wurde die falsche Dame später nach dem
Molkenmarkt befördert.
Pr. Lehrerztg. v. 2. Juni 1883. In Arnstadt (in
Thüringen) starb am Freitag die bisherige Einsammlerin
für das dortige Jakobsstift, eine 69jährige Person. Erst
durch den Tod stellte sich heraus, dass dieselbe von Kind-
heit an als Mann in Frauenkleidern gelebt hat. Musste
dies Geheimnis bei dem Tod der Verstorbenen wohl ein-
mal zu Tage treten, so wird doch voraussichtlich das
andere über die Beweggründe, welche die Angehörigen
der Heimgegangenen zu diesem von der Geburt derselben
an datierten Betrüge bestimmten, wohl für immer in
mystisches Dunkel gehüllt bleiben.
Berliner Abendpost v. 23. Juli 1890. Es werden
hierin Mitteilungen gemacht über die ungarische Tri bade
Gräfin Sandor-Vay, deren Bruder der Vater in
Frauenkleidern aufwachsen Hess.
Berl. Morgenztg, v. 7. Nov. 1891. Es wird über eine
Hamburger Köchin berichtet, die sich im Krankenhause
als Mann entpuppte und seit Kindheit weibliche Kleidung
getragen hat.
Pr. Lehrerztg. v. 24. Nov. 1893. Es wird hierin mit-
geteilt, dass die Vorsteherin des Kinderheims in Kopen-
hagen sich als Mann erwiesen hat.
Berl. Morgenztg. v. 27. Mai 1891. Gegenüber
dem Hause Waterloo-Ufer 17 wurde aus dem
Landwehrkanal ein Mann in Frauenkleidern
aufgefischt.
Berl. Morgenztg. v. 15. April 1892. Zwei „Damen"
wurden gestern in der Nähe des Potsdamer Bahnhofes in
Lichterfelde von einem Kriminalbeamten beobachtet. Als
der Letztere sich der einen, welche in den hinter dem
Bahnhofe befindlichen Anlagen einen Herrn ansprach,
näherte, ergriff dieselbe die Flucht, wurde aber fest-
genommen und in das Amtsgefängnis zu Steglitz gebracht.
— 360 —
Dort entpuppte sich die Dame als ein in Berlin wohnen-
der Handelsmann. Nach seiner Aussage war das andere
Frauenzimmer ebenfalls ein Mann und zwar der Kellner
M. Beide sind auch in Berlin schon wiederholt in Frauen-
kleidern abgefasst worden.
Berl. Morgenztg. v. 4. Mai 1892. Durch die Polizei
geschlossen wurde am Montag um die Mittagszeit das
Schanklokal von Wiebusch, Schützenstr. 55, „der kleine
Salvator" genannt. Es verkehrten dort zumeist der Pro-
stitution ergebene Männer, von denen viele Frauenkleider
zu tragen pflegten.
Beiblatt der Berl. Morgenztg. v. 17. Dez. 1893. Mr.
James Robbins, Kommandeur der Militärstation in Coopers
Mills, Missouri, trägt in seiner eigenen Behausung nur
weibliche Bekleidung, und setzt er seinen ganzen Stolz
darin, dass seine Kleider bis in das geringste Detail
genau der letzten Mode entsprechend und makellos sind.
Bock und Taille müssen auf das Perfekteste sitzen und
trägt der würdige Kommandeur sogar einen Damenhut!
Keine der Frauen in ganz Coopers Mills, sogar die der
andern Offiziere, haben eine solche Auswahl an Kleidern,
wie er sie besitzt; alle seine Kleider sind vom feinsten
Material. Er kauft nur das Beste. Seine weisse Wäsche
ist vom feinsten Leinen, mit Plissdes, Einsätzen und feinen
Spitzen besetzt.
Berl. Morgenztg. v. 28. Febr. 1896: In einem Dorfe
Niederbayerns starb dieser Tage eine 83jährige Person,
die von Jugend auf als Frauensperson galt, als solche
auch gekleidet war und diente. Wie die Donauzeitung
nun mitteilt, entpuppte sich die Person jetzt nach dem
Tode als Mann.
Berl. Morgenztg. v. 24. Oktober 1897. Die Ver-
haftung einer elegant gekleideten Dame erregte in der
Nähe des Bahnhofes Brandenburg nicht geringes Auf-
sehen. Zur Wache gebracht, entpuppte sich die mit
— 331 —
Plüschkleid, seidener Pelerine, Federhut und Schleier be-
kleidete Dame als ein etwa 22 jähriger Mann, der sich
als der Handelsmann J. K. vorstellte.
Berl. Morgenztg. v. 22. Januar 1898. Ein Mann in
Frauenkleidern ist in der Nacht zum Donnerstag zwischen
12 und 1 Uhr in der Nähe des Lehrter Bahnhofes ab-
gefasst worden. Einem patrouillierenden Schutzmann fiel
die Person namentlich durch ihre Bewegungen auf; er
sagte ihr seinen Verdacht auf den Kopf zu und führte
sie trotz hartnäckigen Leugnens ab. Die Untersuchung
ergab, dass der Beamte Recht hatte.
Hiermit mag es genug sein.
Die Sammlung derartiger Berichte unseres Urnings
ist sehr umfangreich. Ich will hierbei noch auf
eins hinweisen. Unser Seelenhermaphrodit trug sich
längere Zeit mit der Absicht herum, nach Missouri zu
dem Kommandeur James Robbins, von dem die Berliner
Morgenzeitung vom 17. Dezember 1893 berichtet, und
welcher jedenfalls auch ein Urning sein muss, zu reisen,
um bei demselben in irgend ein Dienstverhältnis zu treten,
und um dann auch in Damenkleidern einherzugehen, was
jener hoffentlich mit grösster Freude gestattet haben
würde.
Anfang der 80er Jahre trat unser Urning zu der
Tochter eines Nachbars, namens Luise B., in nähere Be-
ziehung. Es bildete sich zwischen beiden ein „Liebes-
verhältnis 44 , das einzige, welches er bislang gehabt hat.
Vielleicht hatte seine Neigung zu diesem Mädchen darin
grösstenteils ihren Grund, dass die Nachbarin ihm zur
Vervollkommnung seiner Damenkleidung behilflich war.
Schon öfters bei den Zusammenkünften hatte er ihr seinen
Wunsch, dass er gerade so wie sie gekleidet sein möge,
ausgesprochen, was sie anfangs als Scherz auffasste; auch
hatte er ihren Hut wiederholt aufgesetzt und ihren Kleider-
rock angezogen.
— 332 —
Wir wollen ihn jetzt selbst erzählen lassen:
„Im Herbst 1883 liess ich mir in einem Berliner
Damenkleider-Atelier ein brannrotes Kaschmirkleid an-
fertigen, zu etwa 45 Mk. Als ich dasselbe zum erstenmal
anzog, hatte ich ein himmlisches Gefühl. Meiner Luise
machte ich nach einiger Zeit Mitteilung von meinem
neuen Besitz, welche aber ungläubig aufgenommen wurde.
Darauf beschloss ich, mich ihr im Damenkleide zu präsen-
tieren, und hatte ich dazu in einem benachbarten Gehölze
ein Rendezvous bestellt. Der Gedanke an diesen Gang
im Frauenkleide regte mich den Tag ungemein auf, und
konnte ich den Abend, an dem es recht dunkel wurde,
kaum erwarten. Zur bestimmten Zeit schlich ich mich
als Mädchen zu dem verabredeten Ort und dachte, was
Luise wohl sagen wird, wenn sie dich in diesem Kostüm
trifft. Durch bekannte flötenartige Töne hatten wir uns
bei der grossen Dunkelheit bald gefunden und schon
zweimal einen Waldweg auf und ab promeniert, als sie
stehen blieb, mich genau befühlte und dann verwundert
rief: Was hast Du an? Mein Gott, hast Du ein Kleid
an? Ein Streichholz wurde angezündet, worauf sie mich
dann noch bewunderte. Im abgeschlossenen Zimmer habe
ich dasselbe Kleid unzählige Mal angehabt. Beim Mittags-
schlafe hatte ich es fast immer an; hing es auch wohl
an die Wand, so dass ich mich des Morgens beim Er-
wachen an dem Anblick ergötzen konnte. Vom Versand-
geschäft Mey & Edlich-Leipzig liess ich mir einen
Unterrock, eine Schürze und Rüschen kommen, welch*
letztere ich selbst annähte. Luise schenkte mir nach und
nach ein Damenbeinkleid, ein Paar Damenstrümpfe, ein
wollenes, blaues Tuch und eine Damenmütze. Da Luise
mich öfters auf meinem Zimmer besuchte, so legte ich
diese Sachen, wenn mir ihre Ankunft gewiss war, stets
an; bin auch mehrmals des Abends mit ihr in Damen-
kleidern spazieren gegangen. Bei Geburtstagen beschenkten
— 333 —
wir uns reichlich. Ich schenkte ihr fast immer ein Kleid
und Schmucksachen. Falls sie sich vorher nach meinen
Wünschen erkundigte, so bat ich immer um Damen-
kleidungsstücke. Von einem Versandgeschäft in Wien
liess ich mir ein grosses Umschlagtuch senden. Am
15. Februar 1885 reisten wir beiden, Luise und ich, nach
Osnabrück zum Photographen, woselbst ich mich in dem
mitgenommenen Damenkleide in 4 verschiedenen Stellungen
photographieren liess. Luise war mir bei meiner Meta-
morphose behilflich. Ihr gehäkeltes, wollenes Tuch legte
sie mir um die Schulter, und zum Schluss setzte sie mir
ihren Hut auf. Der Photograph sprach seine Verwun-
derung darüber aus, dass ich mich ja wie eine wirkliche
Dame in den Kleidern bewege, welches Kompliment ich
sehr gerne hörte. Während meiner Aufnahme war Luise
in meinen Herrenanzug geschlüpft und liess sich als
Herr photographieren. Nach etwa einem halben Jahre
kam Luise nacheinander in H., L. und J. in Kondition.
Es wurde aber ein reger Briefverkehr unterhalten, wobei
ich denn auch jedesmal irgend eine Mitteilung von meiner
Neigung erwähnte. Wenn ich einen Brief schrieb, so
war ich immer vorher erst in mein Damenkostüm ge-
schlüpft, und beschrieb dann auch, wie ich die einzelnen
Kleidungsstücke eins nach dem andern angelegt hatte
und jetzt als vollständig gekleidete Dame am Schreibtisch
sässe und mit entzückendem Gefühl meine Gedanken zu
Papier brächte. Bei der Unterschrift meiner Briefe be-
diente ich mich gewöhnlich des weiblichen Vornamens
Luise; z. B.: Mit herzlichem Grusse verbleibe ich Deine
Luise.
Bekam ich von ihr Briefe, so wurden dieselben erst
dann gelesen, wenn ich wieder im Mädchenkleide steckte.
Mein Genuss war gross, wenn sie in den Briefen, was sie
oft that, etwas von meiner Neigung schrieb und mir in
dieser Beziehung ihren Beifall zollte. So schrieb sie mir
— 334 -
einst, dass ich sie doch mal besuchen möchte und be-
merkte: „Wenn es Dir keine Umstände macht, so bitte
ich Dich sehr, Deine Damengarderobe mitzubringen. Ich
möchte Dich zu gern mal wieder darin sehen. Ja schade
ist es, das wir nicht von einer Grösse sind, Du könntest
dann gut von meinen Kleidern welche anziehen, und
würden wir dann als ein Schwesternpaar einhergehen." Ein
andermal schrieb sie: „Dein Kleid sitzt Dir, wie ange-
gossen. Wenn Du Dir noch ein anderes machen zu lassen
gedenkst, so nimmst Du gerade so eins, wie meins, und
stelle ich Dir zu dem Zwecke mein Kleid zur Verfügung.
Du willst auch gern wissen, wie ich über Deine Vorliebe
zu Frauenkleidern denke. Ja was soll ich darüber sagen ;
bleib' Du aber nur dabei." Von Lüneburg aus sandte sie
mir zum Geschenk ein Korsett; doch habe ich mir später
noch ein zweites, eleganteres dazu gekauft. Als sie später
in H. war, fragte sie einst kurz vor Weihnachten brieflich
an, ob sie den Weihnachtsmann zu mir schicken sollte
mit einem Unterrock; das regte mich, da es mir sehr
willkommen war, gewaltig auf, und kurze Zeit darauf er-
hielt ich ein Packet, in welchem ein gestreifter Unterrock,
eine Tändelschürze und eine Küchenschürze enthalten
waren. Schon früher hatte sie mir geschrieben, wie ich
die Damenkleider anzulegen hätte: „Die Röcke knöpfst
oder bindest Du entweder unter oder über das Korsett,
gerade wie es Dir am bequemsten sitzt. Schade, dass
ich nicht herüber kommen kann; wie gern würde ich Dir
alles zeigen. Im Jahre 1886 wurde ich nach einem etwa
4 Kilometer entfernten Orte versetzt Da Luise auch
bald wieder zu Haus kam, so fanden unsere Zusammen-
künfte wieder statt. Waren die Tage kurz, so dass es
früh dunkel wurde, so trafen wir uns im Felde, des
Sommers im nahen Gehölze. Nicht selten kam ich im
Damenanzuge, so dass Luise ausrief: «Schon wieder im
Kostüm? Ich ahnte es, dass Du so kommen würdest"
— 335 —
Einst schrieb sie mir auch: „Sieh zu, liebes Herz, ob es
Dir nicht möglich ist, im Kleide heute Abend zu er-
scheinen." Als ich als Mädchen sie eines Abends wieder
nach Hause begleitet hatte, schrieb sie mir kurz darauf:
„Hoffentlich bist Du gut wieder zu Haus gekommen.
Noch immer denke ich daran, wie stolz Du in den Frauen-
klcsdern einhergehen und Dich wie ein richtiges Frauen-
zimmer darin bewegen konntest. Ich finde auch, dass Du,
wenn Du nicht ganz so gross wärst, wohl immer ein solches
Kleid tragen könntest * Falls es des Abends noch zu
belebt auf der Strasse war, habe ich wiederholt die Kleidei
zusammengepackt, unter den Arm genommen und mich
erst im freien Felde in eine Dame verwandelt. Nicht
selten habe ich auch als Dame des Abends allein meine
Spaziergänge im Felde gemacht, wobei ich mich dann
wohl auf einen im Acker stehenden Pflug setzte, mich
von oben bis unten befühlte und an der faltigen und
weichen Gewandung ergötzte.
Von Luise, welche wusste, wie sehr sie mich dadurch
erfreute, erhielt ich nach und nach ein „Cul", ein rotes
Kleid mit schwarzem PlUschbesatz, eine Jacke, einen
Spitzenkragen, eine Damenperrücke, einen resedafarbenen
Damenhut mit weissem Schleier, einen schwarzen Schleier
und ein wundervolles rotes, geblümtes Kleid mit rotem
Sammeteinsatz und mit rotem seidenen Band garniert
(vergl. Abbildung). An dem letzten Kleidungsstücke hat
sie selbst unter Leitung der Schneiderin mit gearbeitet,
und zwar ist das Kleid ganz nach meinen eigenen An-
gaben gemacht. Die meisten Sachen habe ich bezahlt.
Einiges wollte Luise absolut bezahlen. Rot ist meine
Lieblingsfarbe. Gar oft schliesse ich des Tages die Haus-
thüren zu, um dann die Kleidungsstücke eins nach dem
andern anzulegen. Habe ich dann das rote Kleid an und
zuletzt den Hut mit heruntergelassenem Schleier aufge-
setzt und eine weisse Batistschürze mit Spitzen vorgebunden,
— 336 —
Photographie eines Urnings.
(vgl. Seite 335)
— 337 —
80 trete ich vor den Spiegel und betrachte mich mit Ent-
zücken. Ein so seliges Gefühl, himmlisches möchte ich
es nennen, kommt dann über mich, wie ich es nicht zu
beschreiben vermag und was mir auch kein Mensch nach-
fühlen kann. Ich schwelge in Seligkeit und wünsche
nichts mehr auf der Welt. Mit Bedauern, nicht ein
Mädchen zu sein, und in dieser Tracht auf der Strasse
mich zeigen zu dürfen, lege ich die Sachen dann wieder
ab. Für meine Damengarderobe habe ich extra einen
Kleiderschrank. Wie manches Mal bin ich doch des
Abends, wenn alle Leute hier schon zur Ruhe waren, in
die Frauenkleider geschlüpft und habe bis Mitternacht
darin gesessen oder an Sommerabenden spät im Garten
spaziert! Lese ich mitunter mal in den Zeitungen, wie
Körperhermaphroditen ursprünglich nicht zu dem richtigen
Geschlecht, zu dem sie gehörten, gerechnet sind, so dass
sie später ihre Tracht wechseln mussten, so wünsche ich,
dass man sich auch in mir geirrt hätte und ich jetzt für
ein Frauenzimmer erklärt würde; wie wollte ich mich
doch schnell in meine neue Lage und Tracht fügen.
Wie wollte ich mich freuen, wenn die Behörde z. B. er-
klärte: Der N. N. wird hiermit aufgefordert, da sich
herausgestellt hat, dass er weiblichen Geschlechts ist, von
jetzt an Damenkleider anzulegen und sich fortan der
weiblichen Kleidung zu bedienen.
Vor einigen Jahren kaufte ich mir einen photo-
graphischen Apparat. Vor das Objektiv machte ich ein
Fallbret, welches ich mittelst eines Bindfadens beliebig
auf- und niederlassen und so mich selbst photographieren
kann. Dies geschieht in der Schulklasse. Vor das Wand-
tafelgestell wird mit der Kehrseite nach vorne eine Wand-
karte gehängt, so dass ich dadurch den erforderlichen
Hintergrund bekomme. Und was wird gemacht? Damen-
bilder undj abermals Damenbilder! Alle möglichen Stell-
ungen, sitzend, stehend, von vorne, von seitwärts u. s. w.
Jahrbuch IJ 22
— 338 —
wurden fixiert Meine o Kleider und die andern Sachen
genügen mir nicht mehr. Luise lieh mir von ihren Sachen
ein grünes, carirtes und ein graues Kleid, dazu ihren Hub
ihr rotgestreiftes Schultertuch, sowie ihre Ohrringe und
Brosche. Da mir die Taillen zu klein waren, so zog ich
nur die Röcke an, setzte den Hut auf, schmückte mich
mit Ohrringen und Brosche und nahm das Tuch um
meinen Oberkörper. So wurde ich in Luisens Hülle von
mir selbst photographiert. Bei unsern Zusammenkünften
nahm ich die Bilder dann wohl mit, um sie zu zeigen.
Vor l 1 /* Jahre hatte unser Verkehr ein Ende, weil Luise
auswanderte. Ich habe dies nur insofern bedauert, dass
ich nun nicht mehr Jemand hatte, die meine Neigung
kannte und die mir mit Anschaffung von Damenkleidungs-
stücken behilflich war. Die Frauenzimmer reizten mich
ja an und für sich durchaus nicht, sondern nur ihre
Hülle. Sei es bei Festlichkeiten als Konzerten, Bällen,
Volksfesten oder komme ich in eine Stadt, so ist mein
Sinn nur auf schöne Damenkleider gerichtet, die ich un-
aufhörlich betrachte und manche Trägerin beneide, weil
ich es ihr nicht gleich thun kann; ich suche auch wohl
die Kleider zu berühren. Die grösseren Damen vergleiche
ich im nahen Vorbeigehen wohl mit meiner Grösse und
denke, ob mir ihre Kleider auch wohl passen würden.
Vor Schaufenstern mit .Damenkleiderstoffen bleibe ich
gewöhnlich lange stehen ; noch mehr ziehen mich fertige
Damensachen, als Kostüme, Jackets, Unterröcke, Schürzen
u. 8. w., an. Beim Beschauen ausgestellter fertiger Damen-
hüte habe ich ein unbeschreibliches Gefühl, und wäre es
Hochgenuss für mich, wenn ich diesen oder jenen Hut
mal aufsetzen könnte. In W., wo ich Anfang dieses
Monats (Oktober 1899) mit mehreren Kollegen zur Pro-
vinziallehrerversammlung war, regte mich in einem Schau-
fenster mit Damenhüten ein grauer Hut mit Federn ge-
waltig auf. Jedesmal, wenn wir an dem Laden vorbei*
- 339 —
kamen, blieb ich einige Schritte zurück, um mich an dem
Anblick einige Augenblicke zu erfreuen. Falls ich allein
gewesen wäre, so hätte ich mir denselben gekauft. Vorigen
Sommer kaufte ich mir in O. einen Schleier und mehrere
Kleiderrüschen. Auf einer Reise in die Rheinprovinz
sah ich in C. in einem Schaufenster einen prächtigen
Unterrock liegen, den ich auch gekauft hätte, wenn er
mir nicht zu klein gewesen wäre. Am Tage vorher war
ich in R. und fand auf der Strasse ein Blatt aus einer
Modenzeitung, welches das Bild von einem wundervollen
Damenkostüm brachte; natürlich ist das Blatt meiner
Sammlung einverleibt. Ausserdem besitze ich eine ganze
Kollektion von Damenkleiderstoffen in allen Farben. Als
ich eine Zeitlang eine Wirtschafterin zur Führung des
Haushalts hatte, zog ich mir sehr oft, sobald sie auf einige
Stunden nicht zu Hause war, deren schönste Kleider an
und photographierte mich in denselben.
Mein Drang zu Frauenkleidern ist mitunter nicht
mehr zu ertragen und scheint immer grösser zu werden.
Im Sommer 1898 habe ich mir noch folgende Sachen
angeschafft. Ein grünes Kleid mit grünem Sammeteinsatz,
ein schwarzes Kleid mit schwarzer Perlstickerei, ein
braunes Kleid, ein blaues Kleid mit gelben Brusteinsatz
und gelber Schleife am Gürtel und ein graues Kleid mit
rotem Tuch- und Sammeteinsatz; ausser diesen Strassen-
kleidern noch ein braunes, meliertes Hauskleid, ein helles
mit rotem Sammetkragen und ein carirtes mit grünem
Sammetkragen, ferner ein Damenjacket von schwarzem
Krimmer, einen Schulterkragen, zwei Unterröcke und einen
Hut Meine ganze Damengarderobe umfasst jetzt:
11 Kleider 4 Unterröcke, 2 Jackets, 1 Schulterkragen,
4 Schürzen 2 Umschlagtücher, 2 Hüte, 1 Paar Strümpfe,
1 Mütze, 4 Schleier, 2 Paar Ohrringe, 2 Korsetts,
1 Damenperrücke, 3 Broschen, 1 Halskette und
1 Medaillon.
22*
— 340 —
Meine nächste Sorge war stets die, mich in den neu
angeschaffenen Sachen zu photographieren. Alle mög-
lichen Ankleidungen wurden nun ersonnen und zunächst
auf dem Papier vermerkt Da hiess es z. B. Aufnahme
im roten, blauen, grünen Kleide, von vorne, von der Seite,
sitzend, stehend; schwarzes Kleid mit Schärpe, rotes Kleid
mit Jacket oder mit Schulterkragen, mit Hut und Schleier
iL s. w. Ich habe auf diese Weise eine grosse Sammlung
von Bildern bekommen, die mich als Dame in den ver-
schiedensten Anzügen darstellen. Auch kaufte ich mir
einen Kasten mit 24 verschiedenen photographischen Ei-
weis-Lasurfarben. Mit diesen Farben koloriere ich die
Bilder dann, so dass ich mich in Kostümen mit natür-
lichen Farben sehe. Mein Album, welches ich mir für
diese Bilder extra anschaffte, enthält über 200 Porträts.
Ich vergleiche dann wohl, ob mir ein rotes, blaues, grünes
oder schwarzes Kleid am besten steht
In einem andern grossen Buche habe ich Damen-
ko8tümbilder eingeklebt, die ich namentlich aus Katalogen
über Damenkonfektion geschnitten habe und die ich,
gleich wie die photographischen Bilder, mit den schönsten
Farben koloriere. Ein von mir gekauftes Buch: »Chic,
oder Ratgeber für Damen in allen Toilettenangelegen-
heiten mit besonderer Berücksichtigung der Farbenwahl",
kommt mir bei dieser mir so reizenden Beschäftigung zu
Hilfe. In gleicher Weise, wie vorhin angegeben, ver-
wende ich die Farben in einem kürzlich erworbenen Jahr-
gange der „grossen Modenwelt *. Diese Arbeit gewährt
mir ein allerliebstes Vergnügen, so dass ich dann ganz
mit mir zufrieden bin.
Habe ich die Damentracht angelegt, so bekomme ich
starke Erektion, die erst dann verschwindet, wenn ich durch
Masturbieren Ejakulation veranlasste. Onanie habeich etwa
von meinem 25. Jahre an getrieben. Mit der Ejakulation
lässt auch der Drang nach den Frauenkleidern etwas
— 841 —
nach, so dass ich dieselben gewöhnlich dann nicht so un-
gern wieder ablege. Dieser Zustand dauert aber nur kurze
Zeit, worauf dann die alte Neigung wieder auftritt Es
geht mir mit der Manneskleidung wie der ungarischen
Tribade Sandor Vay es mit den Weiberkleidern ging;
ich habe eine unaussprechliche Indiosynkrasie dagegen.
Am liebsten verkehre ich in Frauenkleidern mit Damen.
Gehe ich über eine schmutzige Stelle der Strasse, so denke
ich: Wenn Du jetzt ein Damenkleid anhättest, so müsstest
Du dasselbe aufheben und habe wiederholt die Bewegung
mit der Hand gemacht, wie Damen es an solchen Stellen
zu thun pflegen.*
Soweit die Autobiographie unsers Urnings, der in
dem Punkte seiner Toilettenkünste ziemlich offen ist.
Er wurde das erst, als ich ihm verriet, dass mir sein Zu-
stand wohl bekannt sei und dass er nicht allein auf der
Welt solche weibliche Eigentümlichkeiten besässe. Ueber
letztere Mitteilung war er sichtlich erfreut, worauf ich
ihm einige Aufklärung über Homosexualität insonderheit
von der Effemination, gab. Als ich ihm gelegentlich das
Bekenntnis eines Urnings über seine Neigung zu weib-
licher Kleidung vorlas, wie es auf Seite 161 in „Moll,
konträre Sexualempfindung" angegeben ist mit den Worten:
„Ich fühle mich in den weiblichen Kleidern so wohl und
so glücklich, so ganz ä mon aise, wie sonst nie; ich würde,
könnte ich solche immer tragen, auf Geschlechtsgenuss
immer verzichten u. s. w. Ä , da wurde er ganz erregt, weil
das beschriebene Gefühl ganz mit dem seinigen überein-
stimme, und hat er mir hierauf alles, was in diesem Be-
richte angegeben ist, selbst mitgeteilt Unser Urning hat
seinen Schnurrbart — einen Vollbart trägt er überhaupt
nicht — wiederholt abrasieren lassen, ihn doch aber wieder
stehen lassen, weil seine Freunde ihn dann den Kaplan
nannten. Er trägt denselben jedoch äusserst kurz, wie
ein Jüngling, bei dem sich der erste Flaum auf der Ober-
— 342 —
lippe zeigt. Depilatorien hat er häufig angewandt, ja ein-
mal so stark, dass die behandelte Gesichtspartie wund
wurde und er einige Zeit Vollbart, welcher jedoch nicht
stark wurde, wachsen lassen musste. Die Kopfhaare hat
er stets in der Mitte gescheitelt In seiner Kleidung ist
er nachlässig und keineswegs elegant, wohl aus dem
.Grunde, weil ihm die Manneskleidung nicht zusagt. Seine
Fertigkeit in weiblichen Handarbeiten ist massig, doch
hat er eine nicht zu verachtende Stick- und Häckelarbeit
fertig gemacht. In Zubereitung der Speisen ist er ge-
schickt Kaffee ist sein Lieblingsgetränk, wohingegen er
alle Spirituosen meidet Süssigkeiten, als Kuchen, Torten,
Pudding u. s. w. isst er sehr gern. Wie er es schon
immer gethan hat, so kauft er sich auch noch jetzt Bon-
bons, so dass seine Bekannten ihn oft neckisch fragen,
ob er wieder am Bollchenlutschen wäre. Seine Stimme
besitzt nicht die männliche Tiefe; er singt einen schönen
Tenor. Pfeifen kann er gerade so gut, als normalfühlende
Männer.
Unser Seelenandrogyne ist keineswegs intellektuell
schwach; ich möchte ihn fast geistig und körperlich kräftig
nennen. Wenn sein Gedächtnis ihm auch nicht mehr so
treu ist, als in früheren Jahren, so erinnert er sich doch
noch genau seiner Kindheit Memorierstoffe aus seiner
Schulzeit sind ihm grösstenteils noch gegenwärtig. Zwar
sind seine geistigen Kräfte nicht gleichmässig ausgebildet,
was wohl in der anormalen Beschaffenheit begründet sein
mag. Für Mathematik z. B. hat er sich nie besonders
begeistert. Für Dichtkunst besitzt er Interesse, hat, wie
er selbst gesteht, auch schon Gedichte gemacht, die er
jedoch nicht zeigen noch hören lassen will. In Damen-
gesellschaft ist er gerne gesehen, und es ist fast auffällig,
wie gern die Damen sich mit ihm in ein Gespräch ein-
lassen. Für Geflügel- und Blumenzucht hat er grosse
Vorliebe. Früher war er selbst Geflügelzüchter und war
— 343 —
sein Name unter den Fachgenossen gut bekannt. Bei
Geflügelausstellungen hat er. mehrmals als Preisrichter
fungiert Er selbst hat auch für ausgestelltes Geflügel
wiederholt Prämien bekommen. Vier Diplome hat er
eingerahmt in seinem Zimmer hängen. Praktisches
Geschick ist ihm in hohem Maasse eigen. Gerät-
schaften zur Vogelzucht, als z. B. Vogelkäfige hat
er sich selbst angefertigt Eine Taschenuhr kann er,
nachdem er sie vorher angesehen, auseinandernehmen und
richtig wieder zusammensetzen. Auch in der Anfertigung
von Lehrmitteln für die Schule ist er geschickt So bat
er z. B. eine kleine elektromagnetische Maschine ange-
fertigt, welche sehr gut geht Leitungsdrähte hierzu hat
er selbst besponnen, obwohl man solche ja billig kaufen
kann. Ordnungsliebe und Pünktlichkeit sind ihm nicht
abzusprechen.
Unser Urning neigt leicht zum Zorn. Eine ihm zu-
gefügte Beleidigung vergisst er nicht Ein Geheimnis
darf man ihm nicht anvertrauen, da er es nicht für sich
behalten kann. Er hat mitunter Anfälle von Schwermut;
ist verstimmt, unlustig und missmutig; fängt leicht an zu
weinen. Auch bei geringen Gemütsaffekten, beim Lesen
einer edlen That oder eines Zugs rührender Liebe treten
ihm sogleich Thränen in die Augen.
Es zeigt sich auch hierin sein fast ausschliesslich
weibliches Fühlen, sowie sein ganzes Benehmen ein süss-
liches genannt werden kann.
Er ist mit seinem Zustande im Allgemeinen nicht
unzufrieden; er bedauert nur, dass er seiner Neigung ent-
sprechend nicht ausserhalb der Wohnung auftreten kann.
Sein grösster Wunsch ist nach seiner eigenen Aussage
der, wenn er in eleganten Damenkleidern als Gesell-
schafterin bei einer einzelnen Dame sein und sich mit
dieser über Damentoiletten unterhalten und mit Anfertigung
derselben beschäftigen könnte.
— 344 —
Es ist in der That auffallend, wie mächtig sich bei
manchen Homosexuellen das weibische Benehmen zeigt
und sie trotz der vollständig ausgebildeten Genitalien
dennoch ihr feminines Wesen nicht unterdrücken können.
Ich habe, versucht, das Bild dieses ausgeprägtesten
Effeminierten zu zeichnen, glaube auch, dass es derartige
Fälle, wie hier mitgeteilt, mehr giebt, als man annimmt.
Da die mit den psychosexuellen Anomalien Behafteten aus
gewissen Gründen eine grosse Zurückhaltung über ihren
Zustand beobachten, so ist es nicht möglich, eine auch nur
der Wahrscheinlichkeit nahe kommende Statistik aufstellen
zu können. Auch dem hier geschilderten Lehrer ist es
gelungen, seine so ausgesprochene Veranlagung zu ver-
bergen. Nur der erwähnten Luise, seiner Wirtschafterin
und dem Schreiber dieser Zeilen hat er Mitteilungen ge-
macht Selbst seine Eltern wissen nichts davon.
Der bekannte Orientreisende Otto E. Ehlers, welcher
in seinem Reisewerke: „Im Sattel durch Indo-Cbina* auch
von Konträrsexuellen der Laosstaaten berichtet, sagt> dass
gerade im Orient sehr häufig Konträrsexuelle anzutreffen
sind, „und dies wohl nur deswegen, weil man dort wenig
oder gar kein Hehl aus dieser Beanlagung macht, während
in den „Kulturstaaten", Deutschland obenan, die armen
Unglücklichen zu stetigem Versteckspiel verurteilt sind,
denn die Bethätigung ihrer Empfindungen wird als Ver-
brechen mit öffentlicher Verachtung und schweren Ge-
fänguisstrafen gesühnt. Früher legte man Irrsinnige in
Ketten und heute — versucht man krankhafte Natur-
triebe im Gefängnisse zu bessern.
O saneta simplicitas!"
Die Bibliographie der Homosexualität
für das Jahr 1899,
sowie Nachtrag zu der Bibliographie des ersten Jahrbuchs
von
Dr. jor. Numa Praetorius.
Einleitung.
Die im ersten Jahrbuch von philologischer Seite zum
ersten Male aufgestellte, verdienstvolle Bibliographie der
Homosexualität konnte bei der ungeheueren Masse des
Materials und den grossen Schwierigkeiten eines ersten
Versuchs unmöglich auf eine Besprechung der einzelnen
Werke sich einlassen.
Da die folgende Bibliographie nur die während des
Jahres 1899 erschienenen,*) sowie die in der vorjährigen
Bibliographie übersehenen, dem Verfasser bekannt ge-
wordenen Schriften aus früheren Jahren umfasst, war ein
Eiligehen auf den Inhalt durchführbar und angezeigt.
Die Schriften des Jahres 1899 sollen genau besprochen,
diejenigen aus früherer Zeit, soweit möglich, wenigstens
kurz charakterisiert werden.**)
Die gewählte Einteilung namentlich in Schriften von
Medizinern und Nicht-Medizinern mag vielleicht gewissen
Bedenken unterliegen und wäre wohl bei einer ab-
schliessenden Gesamtbibliographie nicht angezeigt. Für
den Zweck dieser Teilbibliographie schien sie jedoch am
sichersten eine feste Klassifizierung zu ermöglichen.
*) Einige erst seit Beginn des Jahres 1900 erschienene Schriften
sind auch schon besprochen.
**) Verfasser bittet alle Personen, den möglichst genanen In-
halt aller ihnen bekannten Schriften oder Stellen über Homosexualität,
die weder in dieser noch in der vorjährigen Bibliographie erwähnt
sind, Herrn Dr. Hirschfeld oder dem Verleger Herrn Spohr gefälligst
mitzuteilen, damit die Bibliographie in den nächsten Jahrbüche n
fortgeführt und vervollständigt werden kann.
Inhaltsangabe.
I. Abschnitt.
Die Schriften des Jahres 1899.
Kapitel 1: Wissenschaftliches.
§ 1: Schriften der Mediziner.
Fuchs : „Therapie der anomalen vita sexualis bei Männern
mit spezieller Berücksichtigung der Suggestivbehand-
lung.* (Stuttgart: Enke.)
Kautzner: „ Homosexualität" in Heft 3 Archiv für
Kriminalanthropologie von Gross. Bd. II.
Moll: „Die konträre Sexualempfindung 11 , 3. Aufl.
(Fischers Medizin. Buchhandlung, Berlin 1899).
Holl: „Die widernatürliche Unzucht im Strafgesetzbuch
in der „Gesellschaft" von Courad und Jacobowski.
I. Aprilheft 1899.
Näcke: „Kritisches zum Kapitel der normalen und patho-
logischen Sexualität* im Archiv für Psychiatrie und
Neurologie. Heft 2, Bd. 32.
Neugebauer: „50 Missehen wegen Homosexualität der
Gatten und einige Ehescheidungen wegen „Erreur
de sexe* im Zentralblatt für Gynäkologie (Heraus-
geber Fritsche) Nr. 8, G. Mai 1899.
Schaefer: „Die forensische Bedeutung der konträren
Sexualempfindung* in der Vierteljahrsschrift für ge-
richtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen.
Dritte Folge Heft 2, Bd. 7, 2. Heft.
Scholta: „Zur Frage der konträren Sexualempfindungen*
in der „Neuen Gesundheits warte* Nr. 9 und 10.
— 347 —
Schrenk-Notzing: „Beiträge zur forensischen Beurteilung
von Sittlichkeitsvergehen mit besonderer Berück-
sichtigung der Pathogenese peychosexueller Anomalien *
im Archiv für Kriminalanthropologie von Gross.
Hefte 1 und 2, Bd. I.
Sehrenk-Notzing: „Zur suggestiven Behandlung der kon-
trären Geschlechtsempfindung" im Zentralblatt für
Nervenheilkundc und Psychiatrie von Sommer und
Kurella. Mai- und Juliheft 1899, Nr. 112 und 114.
Wollenberg: „Ueber die Grenzen der strafrechtlichen
Zurechnungsfähigkeit bei psychischen Krankheits-
zuständen". Vortrag, mitgeteilt im Neurologischen
Zentralblatt von Mendel 1. Mai 1899, Nr. 9.
§ 2: Schriften der Nicht-Mediziner.
(Juristen, Ethiker, Philosophen etc.)
Anonym (ein höherer Richter): „Eros und das Reichs-
gericht". (Verlag: Spohr, Leipzig.)
Anonym: „Die homosexuelle Frage vom Standpunkt der
Humanität und Gerechtigkeit aus betrachtet". (In
Belgien als Manuskript gedruckt.)
Anonym: Laster oder Unglück? oder Besteht
der§ 175 des deutschen Reichsstrafgesetz-
buches zu Recht? Eine Gewissensfrage an das
deutsche Volk von einem Freunde der Wahrheit.
(Verlag: Spohr, Leipzig.)
Anonym: Soll § 175 R. Str.-G.-B. bestehen bleiben?
(Leipzig, Druck von Emil Freter.)
Anonym: Widerlegung der Gegen petition zwecks
Aufrechterhaltung des § 175 Str.-G.-B.
Asmus, Martha: „Homosexuell" in „Magazin für Literatur
des In- und Auslandes", 2. Dezember 1899.
Fuld, Ludwig: „Welche Mittel sind zur Repression der Er-
pressung anzuempfehlen". (Als Manuskript gedruckt.)
— 348 —
Gaulke, Johannes: „Das homosexuelle Problem" in Magazin
für Literatur des In- und Auslandes, 14. Oktober 1899.
Gerling, Reinhold: Die verkehrte Geschlechtsempfindung
und das dritte Geschlecht. (Verlag: Wilh. Möller,
Berlin 1900.)
Gross, Hans: Besprechung von Molls konträrer Sexnal-
empfindung in Archiv für Kriminalanthropologie von
Gross, Heft 2, Bd. IL
Gross, Hans:. Besprechung des L Jahrbuchs im gleichen
Archiv, Heft 4, Bd. H.
Günther, Reinhold: „Kulturgeschichte der Liebe*. (Ver-
lag: Carl Düncker, Berlin 1900.)
Jentsch, Karl: „Sexualethik, Sexualjustiz und Sexual-
polizei*. (Verlag: „Die Zeit", Wien 1900:)
von Kupffer, Elisar: „Die ethisch-politische Bedeutung
der Lieblingsminne * in der Zeitschrift von Brand
„Der Eigene*, 1. und 2. Oktoberheft 1899, Nr. 7.
Studie über die Sakalaven auf Madagaskar in „Annales
d' hygifene et de m6decine coloniale". (Letzte Nummer
des Jahrgangs 1899 oder erste des Jahrgangs 1900.)
Thal, Wilhelm: „Der Roman eines Konträr-Sexuellen*
mit einer Einleitung von Raffalowieh, Marc-Andr£:
„Der Uranismus*. (Verlag: Spohr, Leipzig.)
von Wächter, Theodor: „Ein Problem der Ethik*, „Die
Liebe als körperlich -seelische Kraftübertragung".
(Verlag: Spohr, Leipzig.)
— 349 -
Kapitel 2: Belletristisches und Varia*)
Brand, Adolph: „Der Eigene", Zeitschrift (Berlin-Neu-
rahnsdorf) sämtliche Nummern,
de Gourmont, Remy: „Le Souge d'une Femme*, Roman
im „Mercure de France", Oktober- und November-
heft 1899.
d'Herdy, Luis: .Monsieur Antinous et Madame Sappho*,
Roman (Verlag: Girard, Paris).
d'Herdy, Luis: „L^Homme-Sirtne", Roman (Verlag:
Girard, Paris).
Pierron, Sander: „Le mauvais chemin du bonneur",
Novelle in „Mercure de France*, Juliheft 1899.
von Platen, Graf August: Tagebücher, Bd. II. Heraus-
geber Laubmann und Scheffler (Verlag: Cotta,
Stuttgart).
Rebell , Hugues : „La Bataille pour un Mort* seines
Romaines: Novelle in „Mercure de France*, November-
heft 1899.
Rebell, Hugues: „La Cftlineuse", Roman (Verlag: Revue
blanche, Paris 1900).
U. Abschnitt.
Vor dem Jahre 1899 erschienene, in der
vorjährigen Bibliographie nichterwähnteSchriften.
Kapitel 1: Wissenschaftliches.
§ 1: Schriften der Mediziner.
§ 2: Schriften der Nicht-Mediziner.
Kapitel 2: Belletristisches.
*) Varia bezieht sich auf Platens Tagebücher, die nicht zur
Belletristik zu zählen sind, ebenso wenig aber unter Kapitel 1 § 1
aufgenommen werden konnten.
I. Abschnitt
Die Schriften des Jahres 1899.
Kapitel 1: Wissenschaftliches.
§ 1: Schriften der Mediziner.
1) Dr. Fuchs: Arzt am Sanatorium Purkersdorf (Wien)
— offenbar Schüler von Kraffib-Ebing — veröffentlicht
„Therapie der anomalen vita sexualis bei
Männern mit spezieller Berücksichtigung der
Suggestivbehandlung* (Stuttgart^ Enke, 1899) —
die einzige im Jahre 1899 in Buchform erschienene rein
medizinische für die Homosexualität bedeutsame Schrift.
Das Buch beschäftigt sich, wie der Titel besagt^ nicht
ausschliesslich mit der konträren Sexualempfindung.
In der Einleitung verlangt Fuchs für die Sexual-
Perversen, welche strafbare Handlungen begehen (er
meint wohl andere Delikte als die des § 175) Internierung
in besondere Anstalten zwecks Behandlung und Heilung.
Der Beginn des «allgemeinen Teiles" enthält einige all-
gemeine Bemerkungen über sexuelle Perversionen, aus
welchen besonders das Anerkenntnis von Fuchs hervor-
zuheben ist, dass konträre Sexualempfindung meist ererbt
sei, sowie dass oft ein anomaler Körperbau bei Urningen
vorkomme. Er sagt wörtlich: „Kann man auch z. B. bei
den psychischen Anomalien der Androgenen über Erbe
oder Erwerbung streiten, so kann man dies doch nicht
— 351 —
bei dem Körperbau' dieser „konträren xai egoxrjv." Es
beweisen solche Phänomene ferner, dass die konträre
Sexaalempfindung als psychische Qualität keine Bildung
darstellt, welche ausserhalb des Planes und der
Möglichkeit der schaffenden Natur liegen
würde."
Kapitel 1 behandelt dann die Therapie der Mastur-
bation, Kapitel 2 die bei abnorm gesteigerter Anspruchs-
fähigkeit des Ejakulationszentrums. Die Regelung der
Lebensweise, des Essens, Trinkens, der Arbeit u. s. w.,
sowie die Anordnung von Wasserprozeduren und Medi-
kamenten werden genau besprochen.
In Kapitel 3 folgen Angaben über die hypnotische
Methode und ihre Anwendung, ferner über die nach ge-
lungenem Heilverfahren einzuschlagenden Massnahmen
(Verehelichung, Regelung des Gesohlechtsverkehres).
Im zweiten Teil giebt Fuchs 30 Krankengeschichten von
Patienten, die hypnotisiert wurden. Darunter befinden
sich 4 Fälle psychischer Hermaphrodisie und 12 von
konträrer Sexualempfindung, wovon 1 bezw. 3 zugleich
mit Sadismus kompliziert.
Darunter sollen gebessert worden sein: 2 Fälle
psychischer Hermaphrodisie und 5 von angeborener kon-
trärer Sexualempfindung, geheilt: 2 Fälle psychischer
Hermaphrodisie, 2 von angeborener und 1 von erworbener
konträrer Sexualempfindung. Die 4 übrigen Fälle, sämt-
lich angeborener konträrer Sexualempfindung, seien un-
geheilt geblieben.
2) Dr. Kautzner (Graz): „Homosexualität" inHeft
3 des 2. Bandes des „Archivs für Kriminalanthropologie"
von Gross, welches unter Andern namentlich auch den
Fragen der Homosexualität gewidmet sein soll.
Zunächst ein Bericht über den Fall eines öffentlich
in flagranti bei Begehung homosexueller Handlungen mit
einem Arbeiter ertappten Landarztes. An die Angaben
über das angebliche Vorleben des Angeklagten schliesst
sich ein Gutachten über dessen Geisteszustand, in welchem
Kautzner sich auch ganz allgemein über die Homosexualität
ausspricht. Nach Kautzner sei der Gerichtsarzt am besten
in der Lage, über die Homosexualität sich zu äussern, da
er meist gesunde Homosexuelle zu untersuchen habe.
Kaptzner neigt der Auffassung Gramers zu (vgl.
Berliner Klinische Wochenschrift 1897, Nr. 43 und 44),
wonach die Homosexualität keine pathologische Erschei-
nung, sondern meist ein Laster sei. Viele Homosexuelle
seien es erst geworden durch Verführung.
In der Verführung junger, scheuer, unerfahrener
Burschen, deren Triebe in falsche Bahnen gelenkt würden,
läge die Gefahr der Straflosigkeit homosexueller Hand-
lungen. Allerdings dürfe es der Gerechtigkeit entsprechen,
nur Verführung Minderjähriger und solche Handlungen,
die mit Gewalt oder öffentlich begangen seien, zu be-
strafen.
Nach Ausscheiden der wahren Geisteskranken, der
typischen Degenerierten und der ausgesprochenen Wüst-
lingen fände sich eine Klasse Homosexueller mit gewissen
gemeinsamen Eigentümlichkeiten, so dass Manches für
die biogenetische Auffassung der Homosexualität zu
sprechen scheine.
Jedoch sei auch bei dieser Klasse anzunehmen, dass
Erziehung, Umgang, Verführung, äussere und innere
Umstände erst die Anomalie hervorgebracht hätten.
Die Homosexualität sei weder angeboren noch
organisch bedingt noch auch unbezähmbar.
Ebenso gut als viele Normale ihre Triebe unter-
drücken müssten, ebenso gut sei dies von den Urningen
zu verlangen. Sie sollten sich von ihren Trieben eman-
zipieren.
Auch in den Spezialfall des Angeklagten spräche
nichts für eine Unwiderstehlichkeit des Triebes.
— 333 —
Das Gutachten geht ganz oberflächlich über die Ent-
stehungsursachen der Homosexualität und ihre organischen
Bedingungen hinweg und ermangelt jedes tieferen Ein-
dringens und Erfassens des Problems.
3) Dr. Moll, Albert: Die konträre Sexualempfind-
ung. (Berlin 1899). Fischers Medizinische Buchhandlung.
8. teilweise umgearbeitete und vermehrte Auflage.
Da es sich nicht um ein neues Werk handelt, so ist
eine eingehende Inhaltsangabe dieses im Jahre 1891
zum ersten Male veröffentlichten, mustergiltigen Buches
hier nicht am Platz. Bei der hohen Bedeutung dieses
als das wichtigste Ereignis des Jahres 1899 in der Litera-
tur über die Homosexualität zu betrachtenden Werkes
und seiner wesentlichen Umarbeitung und Vergrösserung
(1. Aufl. 266 S. 3. Aufl. 583 S.), darf aber eine wenigstens
allgemeine Besprechung dieses Buches an dieser Stelle
nicht fehlen.
Molls „konträre Sexualempfindung" bildet immer
noch und gerade in der neuen Gestaltung den Gipfel-
punkt des Studiums der Homosexualität und stellt eine
völlige Encyclopädie Alles dessen dar, was bis zum Spät-
jahr 1898 über das betreffende Gebiet geschrieben und
erforscht worden ist. (Seit der Drucklegung von Moll's
Buch ist allerdings wiederum manches Interessante er-
schienen, was Moll nicht mehr verwerten konnte.)
Moll hat wohl die gesammte wissenschaftliche Literatur
vollständig berücksichtigt und ein erstaunliches Quellen-
material gesammelt; (nur die belletristische Literatur ist
— dem Charakter des Werkes gemäss — ein wenig spär-
lich vertreten.)
Die reiche, persönliche Erfahrung Molls befähigt
ihn, nicht nur wie kein Anderer das gesamte bunte
Material in selbständiger Weise zu verarbeiten und Alles
in das richtige Licht zu stellen, sondern überhaupt das
Jahrbuch n. 23
Problem der Homosexualität seiner definitiven wissen-
schaftlichen Losung entgegen zu führen.
Medizinisches, Juristisches, Psychologisches, Soziales,
Geschichtliches, Alles ist mit gleicher Sorgfalt und gleichem
Verständnis besprochen. Wenn auch der medizinische
Standpunkt selbstverständlich etwas schärfer hervortritt,
herrscht doch überall eine geradezu bewunderungswürdige,
manchem anderen Gelehrten anzuempfehlende Objektivi-
tät des Urteils, welche die verschiedensten Seiten einer
Frage nach allen Richtungen hin erörtert und das ge-
samte Für und Wider der schwierigen Materie in echt
wissenschaftlichem Geiste prüft.
Wie die 2. Auflage, so enthält auch die 3. Auflage
Autobiographien, — und zwar ziemlich zahlreiche — die
in der 1. Auflage fehlten.
Die Ergebnisse der „Libido sexualis" von Moll,
werden verwertet: Die Einteilung des Geschlechtstriebes
in Detumescenz- und Kontrektationstrieb; das Eingeboren-
sein der normalen und anormalen Reaktionsfähigkeit
Die Theorie von der in der bisexuellen Anlage des Foetus
zu erblickenden Ursache der Homosexualität, wird für
wahrscheinlich gehalten.*)
Das Kapitel über die psychische Hermaphrodisie ist
— seinem häufigen Vorkommen in der Wirklichkeit ent-
sprechend — vermehrt; ganz bedeutend erweitert ist der
Abschnitt über die Homosexualität beim Weibe. (1. Aufl.
19 S. 3. Aufl. 81 S.)
Erheblichen Zuwachs haben die Erörterungen über
die Homosexualität in der Geschichte erfahren; ferner
sind eine weit grössere Anzahl historischer Urninge, teil-
*) Seither bat insbesondere auch Dr. Hirschfeld in dem 1. Jähr-
lich: in seiner Objektiven Diagnose der Homosexualität diese Auf»
r aasung entwickelt, die Hirschfeld übrigens schon 1896 in seiner unter
dem Pseudonym Dr. Ramien im Verlag Spohr erschienenen Schrift
.Sflppho nnd Socrates - vertreten hatte.
— 355 —
weise ziemlich eingehend besprochen, so namentlich
Friedrich der Grosse, auch einige sehr interessante poet-
ische Citate finden sich vor so z. B. aus Göthes Faust
und west-östlichem Divan, aus Piron u. s. w. Bei der
Prüfung der Homosexualität gewisser grosser Männer
geht Moll in seiner Objektivität fast zu weit und legt
sich fast allzu grosse Zurückhaltung in seinen Schlüssen
auf, so z. B. kann bei Platen seit Erscheinen seines un-
gekürzten Tagebuches (wovon Moll allerdings vielleicht
nur die Einleitung von Scheffler im Jahre 1898 kannte)
kein Zweifel über seine Homosexualität mehr bestehen.
Dem Werke Molls ist noch ein Anhang beigefügt :
Ein von den Sittlichkeitsvereinen eingefordertes Gut-
achten „über den Wert der Keuschheit für den Mann,"
ein Muster gesunden Blickes und praktischen Sinnes^
welches eine Reihe dem modernen Bewusstsein ent-
sprechenden, von Selbsttäuschung, Lüge und Heuchelei
freien, echt mororalische Anschauungen enthält. Wenn
trotzdem die Sittlichkeitsvereine sich geweigert haben,
dies Gutachten ohne Aenderungen zu veröffentlichen, so
haben sie auch hier wiederum, ebenso wie in der Frage
der Homosexualität*) nur ihren voreingenommenen, das
Licht der Wissenschaft scheuenden Geist bewiesen.
4) Dp. Moll, (Berlin): Die widernatürliche Un-
zucht im Strafgesetzbuch. Unter diesem Titel
bringt Moll in der Halbmonatszeitschrift »Die Gesell-
schaft* von Conrad und Jacobowski I. Aprilheft 1899
einen gemeinverständlichen, für den gebildeten Laien ge-
schriebenen Aufsatz.
Von der Wandelbarkeit der Sitten und Gesetzen je
nach Zeiten und Orten ausgehend weisst Moll zunächst
*) Z. vergl. die Gegenpetition ; ferner in dem wissenschaftlichen
Fachorgan der deutschen Sittlichkeitsvereine Römer in Heft 1,
Ho ff mann in Heft 4 (Berlin 1892) mit ihrem die vorgefasste
Meinung verratenden, unwissenschaftlichen Ton.
— 356 —
auf die Anschauungen der alten Griechen über gleich-
geschlechtliche Liebe hin, welche gerade diese Liebe in
jeder nur denkbaren Weise gepriesen hätten.
Nach kurzer Erläuterung des Wesens der konträren
Sexualempfindung als eines wirklichen auf den Mann statt
auf das Weib gerichteten Triebes und Besprechung der
bestehenden Gesetzgebungen über widernatürliche Un-
zucht, wird Aufhebung oder wenigstens Abänderung des
§ 175 für wünschenswert gehalten.
Die Frage nach der Entstehung des homosexuellen
Empfindens wird gestreift und eine eingeborene Dis-
position in einer Reihe von Fällen als erwiesen angenommen.
Entartungszeichen kämen öfters bei Homosexuellen vor,
bei Manchen sei dagegen keinerlei Krankheitesymptom
zu finden; trotzdem sei die konträre Sexualempfindung
schon an und für sich als etwas Krankhaftes zu betrachten.
Die angeblichen Gründe für Beibehaltung des § 175
werden sodann widerlegt und namentlich das absolut Un-
logische des Paragraphen betont; die Züchtung des Er-
pressertums in Folge des § 175 wird hervorgehoben.
§175 sei aufzuheben oder aber man müsse auch alle
andern unnatürliche Befriedigungsakte, namentlich die
zwischen Mann und Weib, bestrafen.
5) Dr. Näcke, (Hubertusburg): „Kritisches zum
Kapitel der normalen und pathologischen
Sexualität* in dem Archiv für Psychiatrie und
Neurologie, Bd. 32, Heft 2. Bedeutsamer Aufsatz.
Mit Recht stellt Näcke an die Spitze seiner Aus-
führungen die Forderung, dass vor Allem die Entstehung
des normalen Geschlechtstriebes studiert werden müsse
und weisst auf die Untersuchungen Molls in dieser
Richtung hin, dessen Einteilung in Detumescens- und
Contrectationstrieb er billigt Nach eingehenden Aus-
lassungen über die hier nicht näher interessierenden
Pollutionen, Onanie und die selten vorkommenden Fälle von
— 357 —
Tagträumen und Narcismus wendet sich Näcke zur Homo-
sexualität.
Hoches*) Auffassung von der Häufigkeit gleich-
geschlechtlicher Akte in Pensionaten wird als stark über-
trieben bezeichnet
Im Gegensatz zu Hoche erkennt Näcke die Wichtig-
keit der wahren Homosexualität an.
Ihre Entstehung auf der Grundlage der bisexuellen
Anlage hält Näcke für durchaus möglich.
Die zweifellos vorhandene ursprüngliche physiologische
Bisexualität mache auch ein psychisches bisexuelles Zen-
trum wahrscheinlich. Durch Vererbung oder Störung in
der Fötalentwicklung könne die bisexuelle Anlage be-
stehen bleiben oder nur die dem eigenen Geschlecht ent-
sprechende zur Entwicklung kommen.
Vererbt sei aber stets (wie dies auch Moll betont)
nur die homo- oder heterosexuelle Reaktionsfähigkeit,
nicht der anatomisch- physiologische Vorgang.
Die Homosexualität könne aber auch, wie Schrenk-
Notzingund F£r£ für alle Fälle annehmen, auf psychischem
Weg entstehen in Folge Association, diese Entstehungsart
setze aber auch, wie dies Schrenk-Notzing selbst zugäbe,
krankhafte Disposition voraus; deshalb sei der Unter-
schied zwischen der Theorie der angeborenen Reaktions-
fähigkeit und der anomalen Association nicht sehr
bedeutend.
Neben der frühzeitigen Homosexualität gäbe es eine
später eintretende, die meist Laster sei.
Zur Erforschung der wahren Natur der Sexualität
und der Entstehung der Homosexualität sei die sicherste
Diagonostik aus dem Traumleben zu ziehen.
*) Z. vgl. Hoche: Zur Frage der forensischen Beurteilung
sexueller Vergehen in Mendels Neurologischem Zentralblatt 15. Jan.
1896 und die anonyme Entgegnung von D. M. (Numa Prätorius in
Friedreichs Blättern für gerichtliche Medizin. 1896. Heft VI.)
— 358 —
Bezüglich des Verhältnisses der Degeneration zur
Homosexualität äussert sich Näcke mit Vorsicht
Unter den Homosexuellen seien wirklich Degenerierte
im gewöhnlichen Sinne des Wortes nur Wenige zu finden.
Bei Denjenigen aber, die infolge krankhafter Disposition
frühzeitig eine primär zwingende Association in der Rich-
tung des eigenen Geschlechts erwürben, dürften auch
sonstige Stigmata anzutreffen sein. Aber es gäbe auch
Viele, welche die ursprüngliche Schwäche des Geistes und
des Körpers überwunden hätten und bei denen nur noch
der anomale Trieb übrig geblieben sei.
In der anatomisch bedingten Homosexualität sei
jedenfalls nur eine Variation des Geschlechtstriebes zu er-
blicken, Annahme von Atavismus müsse abgelehnt werden.
Zum Schluss wird auf die Homosexualität in Griechen-
land hingewiesen und als zweifelhaft hingestellt, ob sie
mehr erworben oder mehr angeboren, ob sie häufiger als
heute gewesen ist; endlich wird die Aufwendung des
§175 unter allen Umständen gefordert: teleologische,
teologische, ästetische Rücksichten seien nicht massgebend.
Homo- und Heterosexualität seien gleich zu
behandeln.
Diese Inhaltsangabe dürfte die Bedeutung des Auf-
satzes erkennen lassen. Die anatomische Basis und das
Angeborensein der Homosexualität, die geringe Bedeutung
zwischen Associationstheorie und Theorie des Angeboren-
seine, die häufige Ueberschätzung der Degeneration bei der
Homosexualität, die Homosexualität oft nur eine Variation
des Geschlechtstriebs, endlich die Forderung der gleichen
Behandlung der Hetero- und Homosexualität sind Sätze,
welche von einen so kritischen und vorsichtigen Psychiater
wie Näcke aufgestellt, auch auf die meist mit dem Studium
der Homosexualität wenig vertrauten Gegtier Eindruck
machen und zu einer allgemeinen richtigen Würdigung
der Homosexualität beitragen dürften.
— 359 —
6) Dr. Neugebauer (Warschau) bringt unter der
Ueberschrift: „50 Missehen wegen Homosexualität
der Gatten und einige Ehescheidungen wegen
„Erreur de sexe" in dem Zentralblatt für Gy-
näkologie (herausgegeben von Fritsch,. Bonn) Nr. 18,
6. Mai 1899, eine Casuistik von 50 Fällen physischen
Zwittertums, darunter 46 männlichen, 3 weiblichen Schein*
zwittertums. Es handelt sich in allen Fällen nicht, wie der
Titel besagt, um eigentliche Homosexualität d. h. um das
auf das eigene Geschlecht gerichtete Geschlechtsgefiihl
bei völlig einseitig entwickelten Geschlechtsorganen, son-
dern um zweifelhafte physische Geschlechtsorgane.
Doch zeigt die Casuistik deutlich, wie in der Natur
eine Kette allmäliger Uebergänge des Physischen zum
Psychischen und umgekehrt existiert
7) Dp. Schaefer (Longerich) „Die forensische Be-
deutung der konträren Sexualempfindung* in
der Ä Vi eteljahr schrift für gerichtliche Medizin
und öffentliches Sanitätswesen* von Schmidt-
mann und Strassmann (Berlin: Hirschwald) dritte Folge
7 Bd. 2. Heft 1S99 2. Heft.
Auch Schaefer geht von der Petition aus; er be-
kämpft zunächst die von Cramer in der Berliner klinischen
Wochenschrift 1899 Nr. 43 und 44 niedergelegte Auf-
fassung als ob die konträre Sexualempfindung meist auf
Laster zurückzuführen sei. Schaefer teilt bezüglich der
Entstehung der Homosexualität zwar nicht den Stand-
punkt der Petition, wonach dieselbe mit der bisexuellen
Embryonalanlage zusammenhänge; er nimmt blos eine
reizbare Schwäche des Zentrums an und eine früh in -
Thätigkeit tretende Erregung, zu welcher frühzeitig Ein-
drücke von Personen des gleichen Geschlechts hinzu-
kämen, vorher existire nur eine degenerative Weichheit
des Gehirns und eine krankhafte Erregbarkeit.
Trotzdem betont aber Schaefer, dass ein weit schärferer
— 360 —
Unterschied, als Cramer es thäte, zwischen Laster und
vorübergehender Neigung einer- und zwischen dauerndem,
tiefeingewurzeltem, auf krankhafter Anlage ruhendem
Trieb andererseits zu machen sei.
Nach Schaefer bildet wirkliche konträre Sexual-
empfindung einen Strafausschliessungsgrund. Die echte
Homosexualität sei eine pathologische Abweichung und
wirke mit grosser Kraft bestimmend und Widerstände
überwindend auf die Willensäusserung; auch wenn sie als
alleiniges Symptom nachweisbar sei, müsse ihr die Kraft
zugeschrieben werden, die freie vWiUensbestimmung auf-
zuheben. Wegen der Schwierigkeiten, die Frage der Zu-
rechnungsfähigkeit der Urninge in foro zu entscheiden,
empfiehlt auch Schaefer die Aufhebung des § 175.
Der Auffassung von Schaefer, dass die Homosexualität
Unzurechnungsfähigkeit bedinge, können wir nicht bei-
treten. Sie würde dazu führen, auch Heterosexuelle für
Handlungen, die aus dem Geschlechtstrieb entspringen, als
unverantwortlich zu betrachten. Zur Straflosigkeit sollte
viel eher die Erwägung drängen, dass der Homosexuelle
gar keine widernatürliche Unzucht begeht, und dass
der Gesetzgeber die konträre Sexualempfindung gar nicht
kannte und deshalb auch gar nicht treffen wollte. Eine
solche Auslegung lassen aber die Juristen nicht zu; da-
her ist nur Eins am Platze: Aufhebung des § 175.
8) Schölt*: „Zur Frage der konträren Sexual-
empfindungen* in der „Neuen Gesundheitswarte 11
Nr. 9 und 10 (1. und 15. August 1899) giebt ungefähr
den vor etwa 30 Jahren landläufigen Standpunkt wieder.
Homosexualität sei fast stets gleichbedeutend mit
Laster, Folgen des Weibermangels oder der Onanie, nur
selten angeborene Anlage und dann nichts als Degeneration.
Der letzten Kategorie wegen dürfe man die Strafe
nicht aufheben, bei vorhandener Unzurechnungsfähigkeit
trete ja Straflosigkeit ein.
— 861 —
Der eigentliche Grund für die Begehung homosexueller
Handlungen sei 'Willenschwäche. Erzeugung von Willens-
stärke sei das beste Vorbeugungs- und Heilmittel.
Man müsse fortfahren, homosexuelle Handlungen als
entehrend zu betrachten.
Die in dem Aufsatz niedergelegte, von keiner tieferen
Kenntnis der Wirklichkeit getrübte Auffassung bedarf
keiner Widerlegung. Der Geist und Ton des Artikels
charakterisiert sich am besten dadurch, dass der Ver-
fasser einmal sogar von der homosexuellen Schw
spricht
9) Dr.vonSchrenk-Notzing: .Beiträge zur foren-
sischen Beurteilung von Sittlichkeitsvergehen
mit besonderer Berücksichtigung der Patho-
genese psychosexueller Anomalien" in den Heften
1 und 2 des „Archivs für Kriminalanthropologie* von
Gross, Bd. L
In Kapitel I bespricht der bekannte Münchner Arzt
und Verfasser der „Suggestionstherapie bei krankhaften
Erscheinungen des Geschlechtssinnes mit besonderer Be-
rücksichtigung der konträren Sexualempfindung" die straf-
rechtliche Beurteilung sexueller Delikte. Von der Petition
ausgehend bekämpft er die Auffassung derselben über
die Entstehung der konträren Sexualempfindung aus der
Embryonalanlage.
Die Reformbedürftigkeit des § 175 erkennt er jedoch
aus andern Gründen an.
Im Gegensatz zu Cramer und Hoche fasst Schrenk-
Notzing die konträre Sexualempfindung als eine meist
krankhafte Erscheinung auf.
Das Missverhältnis zwischen Bestrafung, zwischen
herbeigeführter Schande und Familienunglück einer- und
der That andererseits, die Schwierigkeiten in der Hand-
habung des § 175, die widerspruchsvolle Rechtsprechung
werden als Gründe für die Abänderung des Gesetzes
— 362 —
angeführt. Freisprechung habe allerdings jetzt schon auf
Grund § LI des St.-G.-B.. manchmal einzutreten, bei einer
zur Aufhebung der Willensfreiheit führenden Heftigkeit
des Triebes, regelmässig sei aber nur verminderte Zu-
rechnungsfähigkeit anzunehmen.
Im Kapitel II folgen Ausführungen über die Patho-
genese perverser Richtung des Geschlechtstriebes. Die
bekannte Theorie Schrenk-Notzing's über die Entstehung
der konträren Sexualempfindung wird entwickelt
Konträre Sexualempfindung sei stets blos erworben.
Angeboren sei öfters bei erblich Belasteten nur eine
psycho- und neuropathische Disposition; pathogene, occa-
sionelle Einflüsse führten bei solchen Personen leicht zu
krankhaften Trieben. Die erste geschlechtliche Erregung
werde zufällig unter lustbetonenden Sinneseindrücken in
Verbindung mit einem Mann gebracht. Die Ideenver-
knüpfung wurzele sich ein und bringe konträre Sexual-
empfindung hervor, ebenso wie im Falle anderartig sich
aufdrängender Ideenassociation Sadismus, Fetischismus etc.
entstehen könne. Affekte, gesteigerte Vorstellungsthätig-
keit, lebhafte Organempfindungen u. s. w., ferner Eigen-
tümlichkeiten des Charakters, ein ungünstiges Milieu,
Lektüre, Spiel u. s. w. begünstigten solche ungewohnten
Ideenverknüpfungen.
Die Auffassung Krafft-Ebings und Moll's von dem
Angeborensein der konträren Sexualempfindung sei nicht
etwas undenkbares, aber solange nicht zu teilen, als
eine Erklärung durch den Einfluss occasioneller Momente
und des Milieus hinreiche.
Die Schlüsse dieser Autoren ans dem frühzeitigen
Erwachen sexueller Dränge auf das Angeborensein seien
ungerechtfertigt, da eine quantitative Störung, die auch
bei Heterosexuellen vorkomme, für die qualitative nichts
beweise.
Sodann bringt Schrenk-Notzing 6 Geschichten von
— 363 —
Patienten, wovon 3 Homosexuelle betreffend, die mit dem
Strafgesetzbuch in Konflikt gerieten; die bei Gericht er-
statteten Gutachten und der gerichtliche Verlauf der Sache
werden mitgeteilt In einem Nachtrag empfiehlt Schrenk-?
Notzing die Errichtung besonderer Detentionsanstalten
für vermindert Zurechnungsfähige.
Die Theorie von Schrenk-Notzing über die Entstehung
der konträren Sexualempfindung können wir nicht billigen.
Wenn der Trieb zum Manne nicht angeboren ist, so ist
nicht einzusehen, warum der Trieb zum Weibe es sein
sollte. Ebenso gut kann man annehmen, dass der Trieb
zum Weib entsteht, wenn bei der ersten geschlechtlichen
Erregung das Weib zufällig in Verbindung mit dem
Wollustgeftihl gebracht wird. Dass in der Kegel der
Trieb sich auf das Weib richtet, würde sich daraus er-
klären, dass Alles: Moral, Sitte, allgemeine Anschauung,
Umgebung, Beispiel auf das Weib hinweist und nur das
Weib als Gegenstand geschlechtlichen Sehnens aufdrängt.
Solange man diese Konsequenz nicht zieht, hat man
auch kein Recht auf solche Erwerbungsart die Homo-
sexualität zurückzuführen.
Der Einwand, bei Annahme des Angeborenseins der
Homosexualität müsse dasselbe auch bezüglich der übrigen
sexuellen Anomalien mit gleichem Rechte gelten, wider-
legt sich dadurch, dass Homosexualität und Hetero-
sexualität bei der beiden, gemeinsamen bisexuellen Em-
bryonalanlage gleich zu behandeln sind, nicht aber
Homosexualität und sonstige von der Homosexualität wie
von der Heterosexualität gleich verschiedene Anomalien,
wesshalb aus der Entstehung und Natur der Homo-
sexualität nicht ohne Weiteres Schlüsse auf die sonstigen
Anomalien zu ziehen sind.
10; Schrenk-Notzing:: „Zur suggestiven Behand-
lung der konträren Geschlechtsempfindung 11 im
Zentralblatt für „Nervenheilkunde und Psy-
— 864 —
c h i at r i e" von Sommer und Kurella, Mai- und Juliheft 1899,
Nr. 112 und 114. Schrenk- Notzing entwickelt abermals
seinen Standpunkt über die Entstehung der konträren
Sexualempfindung im Anschluss an eine Polemik gegen
Bechterew. Letzterer hatte geäussert, dass ihm zum
ersten Male die Heilung der konträren Sexualempfindung
durch Hypnose gelungen sei. Hierauf Antwort von
Schrenk-Notzing, dass Heilungen Konträrer längst be-
kannt seien. Auf Erwiderung von Bechterew replizierte
Schrenk-Notzing noch einmal. Die Polemik geht darauf
hinaus und interessiert hier nur insoweit, dass, während
Bechterew eine angeborene Homosexualität anerkennt und
bei degenerativer Form, die ererbt sei, die Möglichkeit
einer wirklichen Heilung leugnet, Schrenk-Notzing be-
streitet, dass der Nachweis für das Ererbtsein der kon-
trären Sexualempfindung erbracht sei, die angeborenen
Fälle für erworbene erklärt und eine Möglichkeit der
Heilung auch eingewurzelter und schwerer Fälle für
nicht prinzipiell ausgeschlossen hält.
11) Dr. Wollenberg; „Ueber die Grenzen der
strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit bei psy-
chischen Krankheitszuständen". Vortrag, gehalten
auf der Jahresversammlung des Vereins der deutschen
Irrenärzte in Halle a. d. S. ,am 21. und 22. April 1899.
Der Inhalt des Vortrages ist im „Neurologischen
Zentralblatt" von Mendel 1. Mai 1899 Nr. 9 mitgeteilt
Echte Homosexualität sei stets das Zeichen einer
krankhaften Veranlagung, die sich auch in andern Ano-
malien, namentlich in Degenerationszeichen ausdrücke, sie
verdiene daher in forensischer Beziehung eine mildere
Beurteilung. Die Anzahl der echten Homosexuellen
werde sehr überschätzt, die Perversität trete oft bei Nor*
malen unter dem Einfluss bestimmter Verhältnisse in
Alumnaten, Gefängnissen etc. ein, meist sei sie jedoch das
HnrWndukt eines lasterhaften Geschlechtslebens.
— 365 —
Mit letzterem Satz tischt Wollenberg das Märchen
von dem vorangegangenen Wüstlingsleben als Ursache
der Homosexualität wieder auf, von welchem schon vor
Jahren Moll in seiner , konträren Sexualempfindung" ge-
sagt hat, es fände in sachverständigen Kreisen keinen
Glauben mehr.
§ 2: Schriften der Nicht-Mediziner.
(Juristen, Ethiker, Philosophen etc.)
1) Anonym: ist auf juristischem Gebiet in dem rührigen
Verlag von Max Spohr die Schrift eines höheren
Richters: „Eros und das Reichsgericht" (86 S.)
erschienen.
Zu Anfang wird ausgeführt, dass der Urning, der
durch gegenseitige Onanie oder coitus inter femora sich
befriedige, als normaler Urning, sog. Erote zu bezeichnen
sei und dem den normalen coitus mit dem Weib aus-
übenden Heterosexuellen entspräche. Von diesem nor-
malen Homo- und Heterosexuellen seien zu unterscheiden,
der Päderast oder Sodomiter, welcher durch coitus in
anum oder Onanie per os sich befriedige und ebenso
häufig unter den Heterosexuellen wie unter den Homo-
sexuellen vorkäme. Der heterosexuelle Päderast, der
solche Praktiken mit dem Weibe vornähme, sei nicht
anders zu beurteilen, wie der homosexuelle Päderast.
Sodann wird betont, dass die medizinischen Werke
meist ein falsches Bild des Urnings darböten, da die
Aerzte nur den kranken, nicht aber den gesunden Homo-
sexuellen kennten.
Der gesunde und sittenreine Erote existire ebenso
gut als der sittenreine Heterosexuelle.
Vom religiösen Standpunkt aus seien Homo- und
Heterosexuellen, die ihre Sinnlichkeit befriedigten, gleich
straffällig. Der Staat dagegen mache einen Unterschied,
— 366 —
indem er ungerechtfertigterweise nicht beide Kategorien
straflos lasse, sondern nur die Homosexuellen bestrafe.
Im Teil III werden dann die bezüglich § 175 ge-
fällten neun Entscheidungen des Reichsgerichts mit
ki irischen Bemerkungen wiedergegeben: Das Widerspruchs-
volle und Unrichtige in dieser Rechtsprechung wird
hervorgehoben.
Coitus inter femora sei strafbar, obwohl die ge-
schichtliche Entwicklung nur auf Strafbarkeit des coitus
in anum hindeute. Andererseits sei gegenseitige Onanie
straflos, obgleich das von der Entscheidung Bd. VI S. 211
als zum Thatbestand für genügend erachtete Merkmal des
Reibens des Gliedes am Körper des Andern vorliege.
Ferner sei Onanie per os als beischlaf ähnliche Hand-
lung bezeichnet, obschon von einer beischlafähnlichen
Handlung sicherlich keine Rede sein könne. Endlich
wird auf den Widerspruch der Entscheidung vom 20.
IX. 1880 und derjenigen vom 8. I. 1898 hingewiesen,
wonach die frühere Entscheidung Stossbewegungen mft
dem entblössten Glied gegen den bekleideten Körper
des Andern für straflos, die spätere eine derartige
zweifellos nur einen straflosen Versuch darstellende Hand-
lung für strafbar erklärt habe.
Im Schlusskapitel wird dann unter kurzen historischen
und juristischen Ausführungen bis zur definitiven Auf-
hebung des § 175 Beschränkung der Bestrafung auf coitus
in anum und in os verlangt und diesbezügliche Anwei-
sungen der Ministerien an die Staatsanwälte anempfohlen.
Die Schrift war notwendig und bringt klar und deut-
lich das Unhaltbare der Theorie des Reichsgerichts zum
Bewusstsein. Die scharfe Unterscheidung zwischen Erot
und Päderast möchten wir jedoch nicht gutheissen. Beim
Urning lässt sich einmal von einer dem normalen coitus
entsprechenden Befriedigung nicht reden. Die meisten
Urninge lieben die aktive oder passive Paedicatio nicht,
— 307 —
für Manchen aber bildet sie die ihm adäquate Befrie-
digungsart. Desshalb sind diese letzteren Urninge aber
moralisch und juristisch nicht anders zu beurteilen wie
die ersteren, wenn der Akt in gegenseitiger Einwilligung
mit Erwachsenen vorgenommen wird. Durch die Be-
schränkung der Bestrafung auf immissio in anum und in
os würde nur ein Teil der Urninge straflos bleiben; aber
auch dieser Teil würde immer noch der Gefahr gericht-
licher Untersuchung und somit schon der Vernichtung
der sozialen Existenz ausgesetzt sein, da ja beim ge-
ringsten Verdacht eines homosexuellen Verkehrs Ver-
folgung eintritt, damit festgestellt werde, welche Art
Handlung ausgeübt worden ist.
Die Gefährlichkeit der Unterscheidung besteht aber
namentlich darin, dass auf Grund derselben die gesetz-
gebenden Faktoren dazu gelangen könnten, nicht etwa,
wie der Verfasser der Schrift es prinzipiell anstrebe
eine Aufhebung des § 175 zu begehren und nur bis zu
dessen Aufhebung eine Einschränkung zu machen, sondern
den § 175 definitiv aufrecht zu erhalten und gerade unter
Benutzung der gemachten Einschränkung die Aufrecht-
erhaltung zu rechtfertigen.
2) Anonym: (in Belgien als Manuskript gedruckte
kleine Schrift, nur 14 Seiten): «Die homosexuelle
Frage vom Standpunkt der Humanität und Ge-
rechtigkeit aus betrachtet", die auch anonym an
Behörden und Vereine Deutschlands versandt worden ist,
und ebenfalls Abänderung des deutschen Gesetzes verlangt
Sie geht vom Hexenwahn aus, der in Zusammenhang
mit der Homosexualität gebracht wird. Die Verfolgungen
der Hexen seien zum grössten Teil Verfolgungen Homo-
sexueller gewesen, welche den »bösen Blick" d. h. den
urnischen Liebesblick gehabt hätten. Ebenso wie die
Wissenschaft die Anschauungen über den sog. „bösen
Blick • beseitigt habe, ebenso müsse der Gesetzgeber seinen
— 308 —
Standpunkt, „die Homosexualität sei ein Laster" aufgeben.
Nur das Erpressertum würde durch das Strafgesetz gegen
die Urninge gezüchtigt.
Die Wissenschaft habe bewiesen, dass Homosexualität
meist angeboren sei. Die Homosexuellen zerfielen in sog.
Uebermännliche, zu denen viele Helden, Dichter, Staats-
männer gehört hätten und gehörten, und in Effeminierte,
deren Charakter und Aeussere an das Weib erinnere.
Eine Erwerbung der konträren Sexualempfindung sei
auch möglich; deshalb sei die Jugend zu schützen. Ver-
fasser schlägt als Altersgrenze 27—30 Jahre vor! Im
übrigen sei § 175 völlig veraltet und abänderungsdürftig.
Jede Art geschlechtlicher Befriedigung zwischen erwach-
senen Männern solle straflos sein, die paedicatio an Jüng-
lingen an und für sich möge man mit Geldstrafe und im
Falle von Gesundheitsschädigung mit Gefängnis bestrafen.
Als Beweis für die Berechtigung und Natürlichkeit
der Homosexualität werden Ausführungen über die
glühenden Freundschaften und die urnischen Liebes-
gefühle berühmter Männer gemacht.
An dieser Schrift, welche manche gute Bemerkung
enthält, ist zu bemängeln, dass die Altersgrenze viel zu
hoch angesetzt wird. Mit 27 Jahren ist ein Mann längst
völlig geschlechtsreif und im Stande, die Bedeutung des
Geschlechtsverkehrs zu würdigen. Ein Mann in den
Zwanzigern braucht doch sicherlich nicht mehr gegen sich
selbst geschützt zu werden.
3) Anonym: Laster oder Unglück? oder: Be-
steht der § 175 des deutschen Reichs-Strafge-
setzbuches zu Recht? Eine Gewissensfrage an das
deutsche Volk von einem Freunde der Wahrheit. (Ver-
lag Spohr, 1899. (115 S.)
Neun Kapitel.
Kapitel 1: Angebliche Ursachen der ver-
kehrten Geschlechtsem p findung. Die Auffassung
- 369 —
als ob Maogel an weiblichem Verkehr oder Uebersättigung
am Weibergenuss die konträre Geschlechtsempfindung
erzeuge, wird widerlegt, insbesondere auch die Meinung
als irrig bezeichnet, die. in der Onanie die . Ursache der
Homosexualität erblicke.
Die Bedeutung des ersten Geschlechtstraumes für
die Beurteilung der Natur des Triebes wird betont.
Kapitel 2: Die verkehrte Geschlechtsempfind-
ung ist angeboren. Sie habe ihren Grund in der
hermaphrodistischen Uranlage des Menschen; der Urning
sei daher kein Verbrecher, sondern ein Unglücklicher;
sein Trieb gehöre, wie der normale, zu den. edlen
Trieben, daher nicht gefährlicher für die Gesellschaft
wie die normale Liebe. Bezugnahme auf Autoren Moll,
Krafll-Ebing, Hirschfeld u. 8. w.
Kapitel 3: Einblick in das urnische Seelen-
leben. Schilderung der Seelenqualen des Urnings in
Mitten der ihn umgebenden Verständnislosigkeit der Ge-
sellschaft. Sein Trieb erzeuge eine Anzahl Konflikte,
einen religiösen, einen moralischen und einen sozialen.
Kapitel 4: Der religiöse Konflikt. Die antiken
Religionen mit Ausnahme des Judentums hätten die
Urningsliebe nicht verdammt Im neuen - Testament
habe erst Paulus ausdrücklich diese Liebe verurteilt. Er
habe aber Laster, keine angeborene Naturanlage im Auge
gehabt. Die Bibel habe die konträre Sexualempfindung
gar nicht gekannt Eine Stelle scheine für die Be-
rechtigung der Urningsliebe zu sprechen: die Klagen
Davids an Jonathan.
Die grösste Sünde sei nach Jesu die Lieblosigkeit:
trotzdem habe das Mittelalter die Urningsliebe mit Hass
und Grausamkeit verfolgt.
Die Philosophie habe trotz Piatos Verherrlichung
der Freundesliebe den gleichen Standpunkt wie die Reli-
gion eingenommen.
Jahrbuch II. 24
— 370 —
Kapitel 5: Der moralische Konflikt Zwei all-
gemein verbreitete Vorurteile werden bekämpft: Urnings-
liebe bedeute nicht Päderastie im landläufigen Sinne, <t h.
Missbrauch von Knaben und Verführung Unerwachsener.
Päderastie in diesem Sinne sei ebenso selten als der
Missbrauch kleiner Mädchen seitens Normaler. Ebenso
bestehe die Befriedigung der meisten Urninge nicht in
der Fädikation, sondern in der Umarmung von Angesicht
zu Angesicht Die Pädikation komme 'beim Normalen
am Weibe verübt, häufiger vor als beim Urning.
Gemüts» und Gefühlsleben seien bei vielen Urningen
edler als bei Normalen. Der urnische Liebesakt sei
nicht unsittlicher als der normale; der Urning nicht un-
sittlicher als der Normale.
Kapitel 6: Der soziale Konflikt. Die Unge-
rechtigkeit und Unhaltbarkeit des die Urningsliebe be-
treffenden Gesetzes wird nachgewiesen. Wirkliche Ver-
letzung von Naturgesetzen, wie z. B. Trunksucht bleibe
straflos, während eine Naturanlage bestraft werde. Das
Volksbewusstsein sei nicht massgebend; übrigens sei
Vielen aus dem Volk eine Bestrafung von Handlungen
Erwachsener in gegenseitigem Einverständnis unbegreif-
lich. Rechte Dritter würden nicht verletzt, dagegen das
Erpressertum gezüchtet
Kapitel 7: Befürchtungen und Hoffnungen.
Die Befürchtungen, die man aus der Aufhebung der
Strafen hege, seien unbegründet. Gesundheitsschädigung
des Urnings nicht Folge der Bethätigung seines Triebes,
sondern der aus seiner jetzigen Lage entstehenden Nerven-
zerrüttung.
Keine Erniedrigung der Manneswürde des Geliebten
durch den urnischen Geschlechtsverkehr, jedenfalls sei
die Würde des Mannes nicht schutzbedürftiger als die
des Weibes. Keine Gefährdung des Familienbestandes
oder des Staatswohles. Bezugnahme auf Griechenland
— 371 —
und Rom. Umgekehrt, Familie gefährdet durch die
skandalösen Prozesse. Der Urning sei auch nicht für
die Heirat bestimmt. Die Freigabe der Urningsliebe
werde eine Beruhigung für das Familienleben, eine Förde-
rung für die Kunst und eine fruchtbare, edle Entwick-
lung der urnischen Zuneigung bedeuten.
Kapitel 8: Historische Umschau. Erwähnung
einer Anzahl historischer Urninge, zum Beweis der Natür-
lichkeit und Berechtigung der Urningsliebe: Phidias,
Plato, Sokrates u.s. w., Hafis; einige Päpste, Michelangelo,
englische Könige, Winkelmann, Johannes von Müller,
Iffland, Grillparzer.
Kapitel 9: Ergebnisse und Folgerungen. —
Die Petition. Der Urning folge nicht seinem Willen,
sondern einer Naturmacht. Der Gesetzgeber müsse be-
achten, was die Wissenschaft festgestellt habe: Die Frei-
gabe der Urningsliebe ein Gebot der Gerechtigkeit.
Die Petition nebst den Unterschriften, sowie die
Reichstagsverhandlungen sind am Schlüsse abgedruckt
Die klar und im guten Sinne des Wortes populär ge-
schriebene und trotzdem gründliche und ernsthaft gehaltene
Schrift bringt zwar nichts Neues für den Kenner der
Homosexualität, dürfte aber gerade ihrem Zweck ent-
sprechend sehr gut geeignet sein, weiteren Kreisen die
Frage der Urningsliebe näher zu bringen, die Ungerechtig-
keit des Strafgesetzes darzuthun und überhaupt im ge-
bildeten Mittelstand aufklärend zu wirken.
4) Anonym: „Wide riegung der Gegenpetition
zwecks Aufrechterhaltung des § 175 Str.-G.-B.
Ende des Jahres 1898 war von den Sittlichkeitsvereinen
gegen die Petition betreffend Beseitigung des § 175 eine
Gegenpetition zwecks Aufrechterhaltung dieses Paragraphen
dem Reichstag eingereicht worden. Unter den Unter-
zeichnern — an Zahl ungefähr denjenigen der Petition
gleich — befinden sich nur wenig bekannte Namen —
SM*
— 372 —
im Gegensatz zur Petition — , sie setzen sich zusammen
hauptsächlich aus Geistlichen und Handwerkern — auch
ein Gymnasiast hat unterschrieben ! — Diesen kompetenten
Beurteilern entsprechen auch die von ihnen angeführten,
auf der bisherigen Unkenntnis basierenden Gründe, welche
nur die herrschenden Vorurteile in der Frage der Homosexua-
lität wiedergeben. Gegen diese Gegenpetition ist nun im
Jahre 1899 wieder eine eingehende, treffende, der Gegen-
petition durch ihre Ausführlichkeit eigentlich allzu viel
Ehre erweisende Widerlegung erschienen, welche Satz
für Satz die Unhaltbarkeit der Aufstellungen der Gegner
nachzuweisen sucht.
Im Namen der Sittlichkeit dürfe man nicht die Be-
strafung der Homosexualität verlangen: eine absolute
Sittlichkeit gäbe es nicht; die Bethätigung des einge-
pflanzten homosexuellen Triebes sei für den Urning nicht
unsittlich. Das Wohl des Volkes könnten die Gegen-
petenten nicht bezwecken, da Tausende aus dem Volk
— die Urninge — durch § 175 schwer litten. Verführ-
ung Homosexueller sei nicht zu befürchten, jedenfalls
ginge der Verkehr Erwachsener in gegenseitiger Ein-
willigung den Staat nichts an. Die Meinung, es handle
sich bei den Homosexuellen um Lüstlinge, die aus Ueber-
sättigung am weiblichem Verkehr unreife Knaben ver-
führten, sei längst von der Wissenschaft widerlegt und
völlig irrig. Auch das Volksbewusstsein empfinde die
Befriedigung des Urnings nicht als strafbare Handlung.
Die Homosexualität: kein Zeichen des sittlichen Verfalls
eines Volkes: Hinweis auf die grossen weltberühmten ur-
nischen Genies. Aus der Natürlichkeit des homosexuellen
Triebes folge die Berechtigung zu seiner Befriedigung.
Mit diesem Triebe verfolge die Natur vielleicht spezielle
Zwecke, z. B. um dem Urning die Möglichkeit zu gewähren,
frei von Rücksichten auf Familie und Nachkommen
Leiter und Führer des Volkes zu werden. Die Folgen
— 378 —
des § 175, Verzweiflung, Selbstmord, Irrsinn, seien Grund
genug für die Aufhebung des Paragraphen, da die Straf-
androhung ungerecht und unverschuldet. § 175 sei auch
eine besonders sozial schädliche Quelle des Erpressertums.
§ 51 kein genügender Schutz für den Urning, da
die Homosexualität keine Geisteskrankheit darstelle, jeden-
falls sei das Irrenhaus ebensowenige als das Gefängnis
der Platz des Homosexuellen.
Keine Verletzung von Rechten Dritter.
Die Unfruchtbarkeit des Verkehrs kein Strafgrund,
sonst miissten hunderte anderweitiger Akte strafbar sein.
Die Behauptung der Gesundheitsschädlichkeit des
gleichgeschlechtlichen Verkehrs sei längst widerlegt,
schädlich dagegen der erzwungene Verkehr mit dem Weib.
Skandalöse Untersuchungen hätten keine Hebung der
Sittlichkeit zur Folge; die Seltenheit der Anzeige und
Bestrafung der zahlreich vorkommenden homosexuellen
Akte trügen nicht zur Vermehrung der staatlichen Autorität
bei. Nach den bei Gesetzen der Vererbung zu befürchten,
das? Homosexuelle wieder Homosexuelle zeugten, daher
Verbot des Verkehrs mit dem Weib für den Urning
eher angezeigt, als der von den Gegenpetenten erstrebte
Zwang zu diesem Verkehr. Bei der von den Gegen-
petenten den Urningen in christlicher (?) Weise gestellten
Alternative, ihrem Triebe zu entsagen oder auszuwandern,
fraglich, ob nicht der Staat in Folge Auswanderung
mancher bedeutender Männer mehr verliere als er durch
Aufrechterhaltung des § 175 gewinne. Dieser Paragraph
Schuld, dass nur wenige Urninge sich dem Arzt anzu-
vertrauen wagten. Das Christentum habe nur das Laster
verurteilt, die Homosexualität aber gar nicht gekannt;
seinem Geist widerspräche die Bestrafung der natürlichen
homosexuellen Liebe. Der Kampf zu Gunsten der Urninge
keine Propaganda für die Homosexualität, sondern Wahrung
— 374 —
der Rechte einer bisher verkannten und ungerecht ver-
folgten Menschenklasse.
5) Anonym. Soll der § 1 75 des B. Str.-G.-B. be-
stehen bleiben? (Leipzig: Druck von Freter 1899.)
Eine kleine in etwas erregtem Tone geschriebene Bro-
schüre (nur 15 Seiten) mit geistreichelnden Ausfällen, die
zur Begründung der angeregten Gedanken nicht aus-
reichen.
Die Ursache der Verdammung der Urningsliebe sei
nicht im Christentum als solchen, sondern in dem ent-
arteten Christentum der römischen Kirche zu suchen.
Die römische Kirche habe die Männer und durch
die Männer die Welt beherrschen wollen und zu diesem
Zweck das Weib als Mittel auserkoren. Daher der
Frauenkultus uud die Unterjochung des Mannes durch
die Frau im Mittelalter und der Neuzeit.
Während heute die Männer sich gegenseitig nur mit
Hass und Neid begegneten, herrsche ein Dirnen- und
Maitressenwesen der schlimmsten Sorte, welches die
Kultur vergifte.
Bei den Griechen habe die Männerliebe die höchste
ethische und ästhetische Kultur ermöglicht
Man beseitige § 175, gebe die Frau der Familie und
dem Mann zurück, entreisse ihr die erworbene schädliche
Machtstellung, und der nationale Körper würde gesunden.
G) Asmus, Martha, veröffentlicht in der Zeitschrift
„Magazin für Literatur des In- und Auslandes 14
vom 2. Dezember 1899 einen kurzen Aufsatz Unter dem
Titel: „Homosexuell 4 *. Verfasserin billigt durchaus
die Bestrebungen zwecks Aufhebung § 175, sie bemängelt
aber die von Hirschfeld in seiner „objektiven Diagnose
der Homosexualität 44 im I. Jahrbuch aufgestellten Merk-
male zwischen Mann und Weib.
Nur die 3 Klassen physischer Merkmale bildeten
prinzipielle Geschlechtsunterschiede, dagegen nicht die
— 375 -
geistigen Merkmale. Entwickeltere Verstandsthätigkeit
finde sich ebenso gut beim Weibe wie gemütvollere und
gefühlvollere Anlagen beim Manne.
Auch die Liebe zum eigenen Gesohlecht dürfe nicht
als Geschlechtsmerkmal aufgefasst werden, denn viele
jungen Mädchen z. B. würden mehr oder weniger vorüber-
gehend bei Mangel an normalem Geschlechtsverkehr oder
bei besonderer Anziehungskraft gewisser Frauen sich zum
eigenen Geschlecht hingezogen fühlen und mit Frauen
auch geschlechtlich verkehren, ohne homosexuell zu sein.
Diese Einwände scheinen uns nicht gerechtfertigt.
Die Verschiedenheit des Geistes und des Gemüts, auf
alle Fälle aber die geschlechtliche Anziehung durch das
entgegengesetzte Geschlecht stellt zweifellos im Durch-
schnitt — und gerade nur vom Durchschnitt will ja
Hirschfeld sprechen — Unterscheidungsmerkmal der beiden
Geschlechter dar, womit Ausnahmen und sogar zahl-
reiche Ausnahmen nicht ausgeschlossen sind.
7) Dr. Fuld, Ludwig, Rechtsanwalt zu Mainz erörtert
in einem für den 1900 stattfindenden internationalen
Gefängniskongress zu Brüssel bestimmten — wohl nur
als Manuskript gedruckten — Vorbericht die Frage:
„Welche Mittel zur Repression der Erpressung
anzuempfehlen wären und ob ein spezielles
Prozessverfahren bei Verfolgung dieses Deliktes
angezeigt erscheint. 11 Fuld sieht in dem Bestehen
des § 175 eine Hauptquelle des Erpressertums und in
seiner Aufhebung ein wirksames Mittel zur Vermeidung
der Chantage. Er führt das Beispiel eines homosexuellen
Bankkassierers an, der vor einigen Jahren in Frankfurt
240000 Mark aus der Kasse der Bank entwendete, um
seine Erpresser zu befriedigen. Fuld hebt mit Recht
hervor, dass sich ein regelrechter Erwerbszweig und Er-
presserbanden gebildet haben, um die Homosexuellen
auszubeuten. Er schlägt spezielle polizeiliche Ueber-
— 376 —
wachung der als Erpresser berüchtigten Personen vor,
sowie Veröffentlichung ihres Namens und Standes.
Die Behauptungen Fulds beruhen auf -Wahrheit. In
Deutschland bestehen Erpresser- und männliche Prosti-
tuiertenbanden namentlich in Berlin, Köln, Frankfurt,
München. Viele wechseln öfters zwischen diesen Städten
ab; im Sommer ist Wiesbaden und während der Renn-
woche Baden-Baden von ihnen besucht.
Uebrigens giebt es solche Erpresser der Homosexu-
ellen auch in Frankreich und Belgien, obgleich sie dort,
dank der günstigeren Gesetzgebung weniger gefährlich
sind. Nichtsdestoweniger erzählte ein Genosse eines
solchen Erpressers dem Verfasser, (Numa Praetorius) dass
•sein Bekannter 8000 Frcs. während der Ostender Saison
-„gemacht" habe!
8) Gaulke, Johannes, (zu Berlin). „Das homo-
sexuelle Problem" in dem „Magazin für Litera-
tur des In- und Auslandes* vom 14. Oktober 1899.
Gaulke berichtet über das I. Jahrbuch, giebt kurz
dessen Inhalt wieder, und bespricht besonders Hirschfelds
Aufsatz und denjenigen von Frey über Platen. Gaulke
bezeichnet es als eine Kulturaufgabe jedes Deutschen an
der Beseitigung des § 175 mitzuwirken.
9) Gerling, Rein h.: Die verkehrte Grfcschlechts-
empfindung und das dritte Geschlecht. (Berlin:
Verlag Wilhelm Möller, 1900.) 53 S.
Zunächst wird die Wichtigkeit und Notwendigkeit
einer allgemeineren Kenntnis der Homosexualität hervor-
gehoben namentb'ch im Hinblick auf die Gefahr der Ver-
erbung. Viele Homosexuelle heirateten in völliger Un-
klarheit über ihre Natur, die spätere Entdeckung ihrer
Homosexualität habe oft namenloses Unglück zur Folge.
Die Homosexualität sei kein Verbrechen, sondern ein
— vielleicht nur scheinbarer — Missgriff der Natur.
Sodann werden die Auffassungen, welche die Ursache
— 377 —
der Homosexualität in dem Ueberdruss an weiblichem
Verkehr öder im Mangel an solchem erblicken, zurück-
gewiesen, ebenso aber auch diejenige, welche die
Homosexualität auf Degeneration zurückführen, oder
welche sie als eine Erscheinung der Neurasthenie deuten.
Viele Urninge seien allerdings neurasthenisch, aber die
Neurasthenie sei nicht Ursache, sondern Folge der durch
die Seelenkämpfe und die qualvolle Lage der Urninge
hervorgerufenen Nervenerschütterungen (Hinweis auf
Hirschfelds Schrift: „Sappho und Sokrates").
Kraflt-Ebings Einteilung der Homosexuellen in die
vier Klassen: in Psychische Hermaphroditen, eigentliche
Homosexuelle, Effeminierte, Androgyne wird für richtig
gehalten; diese Einteilung beweise aber gerade, dass es
sich nicht um Neurasthenie handele, sondern um Abarten,
um Zwischenstufen zwischen Mann und Frau.
Dass Homosexualität mit der Degeneration nichts
gemein habe, werde durch die Geschichte und die zahl-
reich geistig bedeutenden Urninge bewiesen : Eine grosse
Anzahl historischer Urninge werden angeführt aus dem
Altertum, dem Mittelalter und der Neuzeit. Gerling
rechnet zu den Homosexuellen insbesondere auch
Kobespierre, Byron, Beethoven, Wagner (psychischer Herma-
phrodit) und Nietzsche; gar manches, was er über diese
Männer berichtet, legt die Vermutung ihres homosexuellen
Empfindens nahe.
Die Theorie Schopenhauers und Hartmanns, wonach
die Natur durch die Homosexualität die Erzeugung un-
tauglicher oder allzu zahlreicher Nachkommen zu ver-
hindern bezwecke, hält Gerling für unrichtig ; wahrschein-
licher sei die Annahme, dass die Natur die Urninge
nicht zur Fortpflanzung bestimmt habe, weil sie von ihnen,
denen sie meist geistige Fähigkeiten über den Durch-
schnitt verliehen habe, die Schaffung „höherer Werte*
erwarte.
— 378 —
Es folgen Erörterungen über die verschiedenen ge-
schlechtlichen Anomalien des Fetischismus, Sadismu susw.,
welche alle krankhaft, teilweise vielleicht verbrecherisch
seien im Gegensatz zur Homosexualität, und die ebenso
gut bei der Heterosexualität wie bei der Homosexualität
vorkämen.
Nach Erwähnung der weiblichen Homosexualität be-
spricht Gerling die Entstehung der konträren Sexual-
empfindung: Bei dem bedeutsamen Einfluss des Seelen-
lebens auf die körperlichen Funktionen könne wohl der
sehnliche Wunsch der Mutter während der Schwanger-
schaft z. B. nach einem Mädchen dem Fötus die
psychischen weiblichen Eigenschaften und so auch das
geschlechtliche Fühlen des Weibes aufdrücken, selbst
wenn der Embryo sich physisch zum männlichen Ge-
schlecht ausbilde.
Die Homosexualität sei höchstens durch frühzeitige
Erziehung zu bekämpfen, nicht aber durch ein ganz und
gar ungerechtfertigtes und ungerechtes Gesetz.
Hypnose könne wohl nützen und den Trieb mildern,
dauerhafte wirkliche Heilungen seien aber zu bezweifeln.
Die Lage der Urninge sei heutzutage dank der
herrschenden Unkenntnis und der Vorurteile eine meist
sehr unglückliche : Aufklärung sei daher dringend geboten.
Die Broschüre Gerlings, welche keine wissenschaft-
liche Abhandlung, sondern eine für weitere mit der
Frage der Homosexualität nicht vertraute Kreise be-
stimmte, aufklärende Schrift sein will, eignet sich gut
zu diesem Zweck durch ihre klare Darstellung sowie
namentlich durch die geschickte Verwendung der Notizen
über historische Urninge, sowie die das Gefühlsleben der
Homosexuelle veranschaulichenden poetischen Fragmente.
Dass die Lichtseiten des Homosexuellen im All-
gemeinen in der Schrift ein wenig allzu sehr betont
werden, schadet nichts.
— 379 —
10) Gross, Hans (früher Richter zu Graz, jetzt Pro-
fessor in Czernowitz,) macht in dem 2. Heft seines Archivs
für Kriminalanthropologie. Bd. II, gelegentlich der
Besprechung der 3. Auflage der „konträren Sexuakmpfind-
ung" von Moll einige teilweise eigenartige Bemerkungen
über die Beurteilung der Homosexualität
Er führt als einen für die Straflosigkeit homosexu-
eller Handlungen maasgebenden Hauptgrund an : die sehr
häufige Begehung solcher Akte und die trotzdem nur
selten erfolgende Entdeckung und Bestrafung.
Sodann betont er, dass noch nicht festgestellt sei, ob
der Geschlechtstrieb im jugendlichen Alter nicht über-
haupt unbestimmt sei und erst durch Kultureinflüsse,
Umgebung, Charakterentwickelung usw. eine bestimmte
Sichtung erhalte. Träfe dies aber zu, so sei derjenige,
welcher homosexuell werde, verantwortlich und strafbar.
Demgegenüber ist zu erwidern einmal, dass zweifel-
los schon feststeht, dass ein Teil der Homosexuellen von
Jugend auf (sei es nun, dass der Trieb angeboren oder
in früher Kindheit erworben ist, was für dessen Be-
urteilung sich gleich bleibt) mit konträrer Sexualempfind-
ung behaftet ist, zweitens, dass der, dessen Trieb in der
Pubertätszeit indifferent sich in der Richtung der Homo-
sexualität entwickelte, für Handlungen, die aus diesen
Trieb fliessen, nicht verantwortlicher ist, als der Hetero-
sexuelle für seine Triebrichtung, drittens dass die Frage
der Straflosigkeit der Homosexualität sich noch nach
andern Momenten als dem in der Psyche des Urnings
liegenden beurteilt.
Allerdings will Gross gerade den häufig für die
Straflosigkeit angeführten Grund „irgend ein Schaden
werde nicht angerichtet* 1 nicht gelten lassen, weil sonst
auch andere Thäter, z. B. der, welcher mit einem völlig
verdorbenen, aber noch nicht 14 Jahre alten Mädchen ge-
schlechtlich verkehrt habe, Straflosigkeit verlangen könnte.
— 380 —
Diese letztere Schlussfolgerung von Gross ist un-
richtig; denn während der Schutz der Jugend die Auf-
stellung einer festen Altersgrenze erheischt, wobei einzelne
nicht schutzbedürftige Ausnahmefälle nicht berücksigtigt
werden können, besteht weder ein Bedürfniss, die Homo-
sexuellen gegen sich selbst zu schützen noch überhaupt
irgend ein vernünftiger Grund, sie zu strafen.
11) Gross: erwähnt in der Bibliographie des 4. Heftes,
Band II. seiner Zeitschrift für Kriminalanthropo-
logie das Jahrbuch, aber mit sehr geringer Sympathie.
Bei einem sonst so ruhig denkenden, geistvollen
Forscher wie dem Verfasser des „Lehrbuchs des Unter-
suchungsrichters u wundert man sich doppelt, eine so
wenig objektive Beurteilung und fast feindselige Stellung-
nahme gegenüber dem Jahrbuch zu finden.
Gross bemerkt: „Es mag ja sein, dass man einst zu
dieser Auffassung der Sache (d. h. Straflosigkeit des
gleichgeschlechtlichen Verkehrs) kommen wird, da werden
aber eingehende, medizinische, strafpolitische, juristische
und psychologische Studien und Erwägungen maasgebend
sein. Das fortwährende Gequicke dieser Leute, man solle
sie in ihrem widrigen Treiben ungestraft lassen, das wird
uns nicht beeinflussen/ Gerade das Jahrbuch bezweckt
ja, dos Studium der Homosexualität zu fördern und schon
das erste hat auch thatsächlich die Homosexualität auf
den verschiedensten Gebieten ins Auge gefasst.
Gross fährt allerdings fort: «Das Jahrbuch brächte
wenig Neues". Das was es aber Neues bringt, verschweigt
er. Die zweifellos neue Anregungen enthaltende „objektive
Diagnose" und den juristischen Aufsatz mit der Zu-
sammenstellung der Strafgesetze und aller bisher mass-
gebenden strafpolitischen Erwägungen führt er lediglich
an, dagegen bezeichnet er die Arbeiten von Frey »als
sattsam bekannte Geschichten aus dem Leben des zum
Ueberdruss zitierten Graf Platen und Winckelmann".
— 381 —
Dieser Ausspruch ist zweifellos unrichtig; denn der I. Band
von Platens Tagebuch ist erst kürzlich (im Jahr 1898)
vollständig erschienen und Freys Aufsatz ist der erste,
welcher ohne die üblichen Vertuschungen und mehr oder
weniger absichtlichen Verdunkelungen der Thatsachen
eine psychologische Analyse der Liebesgefühle Platens
und eine unverfälschte Inhaltsangabe der homosexuellen
Stellen des Tagebuchs gebracht hat Gerade Tagebücher,
wie die Platens, bilden die wertvollsten psychologischen
Studien.
12) Günther, Reinhold: Kulturgeschichte der
Liebe (Verlag Carl Düncker, Berlin 1900): Dieses
populär geschriebene Buch von geringem wissenschaft-
lichem Wert, welches eine Kulturgeschichte der Liebe
sein will, übergeht trotzdem einfach die Homosexualität.
Nur in einer Anmerkung S. 8 wird erwähnt, dass „der
Befriedigung pervers-sexueller Genüsse in den Gross-
städten eine männliche Prostitution zur Verfügung steht*
und dass „diese Päderasten eine grössere Gefahr als die
Freudenmädchen bilden".
S. 70 wird in einer Anmerkung der Sapphismus be-
rührt, geschichtliche und litterarische Notizen werden an-
geführt mit der Behauptung, der gleichgeschlechtliche
Verkehr zwischen Weibern sei häufiger als derjenige
zwischen Männern.
Endlich werden gegen Schluss des Buches (S. 317 flgd.)
längere Ausführungen des englischen Schriftstellers Lecky
über die griechischen Zustände mit den üblichen — von
Günther allerdings nicht gebilligten — Entrüstungs-
ausbrüchen über die griechische mannmännliche Liebe
wiedergegeben.
13) Jentsch, Karl, hat einen in der Zeitschrift von
Bahr „Die Zeit" veröffentlichten Artikel über „Sexual-
ethik, Sexualjustiz und Sexualpolizei" in er-
weiterter Form als selbständige Broschüre herausgegeben;
— 382 —
in einem Anhang behandelt er nunmehr auch: „Die
homosexuelle Leidenschaft 11 . (S. 74—95) (Verlag
„Die Zeit" Wien 1900).
Der Erklärungsversuch Schopenhauers befriedigt
Jentsch nicht; derselbe sei nur teilweise richtig: Bei
Schwächlingen, Greisen und insbesondere Jünglingen werde
der Trieb zwar öfter auf das eigene Geschlecht abgelenkt,
aber nicht in Folge eines Naturzwecks, sondern in Folge
besonderer Umstände. Ursache seien : Unmöglichkeit
natürlicher Befriedigung, Begierde nach Abwechslung und
bei Jünglingen Irreleitung des Triebes, indem zärtliche
Freundschafben bei erwachendem Trieb und Unkenntnis
des Sexuallebens zu gleichgeschlechtlichen Handlungen
führten.
Die Homosexualität sei aber auch bei Musterbildern
völliger Männlichkeit festgestellt worden.
Auch bei diesen sei die andere Erklärung, die bio-
logische von der Embryonalanlage ausgehenden nicht zu-
treffend. Diese Erklärung möge bei solchen Männern,
die als Weib fühlten und bärtige Männer liebten, richtig
sein. Dies sei aber unnatürlich und lächerlich, eine Per-
versität.
Dagegen sei die zärtliche Zuneigung von Männern
zu schönen Knaben und Jünglingen nicht pervers. Die
Natur des Schönen und Zarten sei es, Zärtlichkeit zu
erregen.
Mit dem Gedankenaustausch, der Zärtlichkeit und
dem Sexualsystem stünden die ästhetischen Empfindungen
in Wechselwirkung. Das Ungewöhnliche, nicht Wider-
natürliche bestünde darin, dass in einigen Männern
die ästhetische Empfindung stärker sei als der Geschlechts-
trieb, bei den Griechen sei dies in der Regel der Fall
gewesen.
Was natürlich sei, sei aber nicht stets erlaubt. Er-
laubt sei nur, was nicht schade. Heute aber sei es für
— 383 —
den Knaben und Jüngling schädlich, zum Gegenstand
sinnlicher Liebe gemacht zu werden.
In Hellas habe die ideale Seite überwogen — einer
ähnlichen idealen Seite begegne man auch in dem Ver-
hältnis zwischen Jesus und Johannes — , mit dieser Liebe
habe das sog. griechische Laster nichts gemein.
Die Verhältnisse Hellas seien heute nicht mehr vor-
handen. In Griechenland habe die homosexuelle Liebe
zwei Aufgaben erfüllt: Plastik und Pädagogik geschaffen.
Heute fehle die eine Seite für die sittliche Berech-
tigung der homosexuellen Liebesverhältnisse: die Gegen-
seitigkeit der Empfindung. In Hellas sei bei der haupt-
sächlich in Leibesübungen und geistreichen Plaudereien
mit erwachsenen Männern bestehenden Beschäftigung des
Jünglings der Knabe als passiver Liebhaber denkbar ge-
wesen. Heute in der modernen Welt falle das Jünglings-
alter überhaupt aus; der Knabe, fast schon das Kind
werde sofort zum jungen Mann; ein weibliches Stadium
mache der Jüngling nicht mehr durch, schon auf der
Schule strebe er danach, möglichst bald Mann zu werden.
Sodann unterscheide sich auch das Erziehungs- und
Unterrichtswesen gründlich von dem altgriechischen. In
Hellas sei jeder erwachsene Mann in jahrelangem Umgang
mit Jünglingen zur Bildung von Gesinnung und Charakter
in gewissem Sinne zu ihrem Erzieher berufen gewesen I
Heute sei der Zweck des Jünglings: Abiturienten und
Staatsexamen. Berufslehrer hätten eine grosse Anzahl von
Schülern zusammen zu unterrichten. Zwischen diesen
und dem Lehrer sei ein intimeres oder gar Liebesverhält-
nis undenkbar.
Auch das moderne nicht mehr auf Waffenbrüder-
schaften beruhende Kriegswesen biete keinen Boden für
homosexuelle Verhältnisse. Endlich würden heute die
Frauen, die für die moderne Geselligkeit das Element
— 384 —
der Schönheit und Anmut lieferten, niemals Knaben und
Jünglinge als Konkurrenten dulden.
Desshalb würde die Aufhebung des § 175 auch den
„Edel päd erasten" wenig nützen, und nicht hindern, dass
der Gegenstand ihrer Liebe lächerlich, verächtlich oder
wenigstens in der Gesellschaft unmöglich gemacht würde,
dies könnten aber aufrichtig liebende Homosexuelle nicht
wollen.
Gegen eine gelegentliche Aufhebung des § 175 bei
der allgemeinen Aenderung des Strafgesetzbuches hat
Jentsch nichts einzuwenden.
Jentsch's Ausführungen sind, wie Alles, was er
schreibt, geistreich und zeugen von selbständigem Denken,
aber man hätte doch bei einem Manne, der schon in den
verschiedensten Fragen das Richtige getroffen und wie
Wenige scharfblickend und erfahren sich gezeigt hat, der
gerade in den dem Anhang vorhergehenden Aufsätzen
über die Sexualität im Allgemeinen und die Sexualmoral
vielleicht das Beste, was wir kennen, gesagt hat, erwartet,
dass er die Homosexualität weniger missverstehe. Jentsch
hat offenbar einen tieferen Einblick in dieses Gebiet nicht
bekommen und auch die Literatur nur wenig studiert
(gesteht er doch selbst zu, dass er nicht einmal Kraflft-
Ebing gelesen hat.)
Die Erklärung der Homosexualität aus einem Ueber-
handnehmen der ästhetischen Empfindungen über den
Geschlechtstrieb ist falsch. Die Homosexualität ffiesst
aus dem anstatt auf das Weib auf den Mann gerichteten
Geschlechtstrieb, wobei die Aesthetik keine Bolle spielt
Jentsch identifiziert sodann die Homosexualität mit Liebe
zu unbärtigen Jünglingen und Knaben, zu weibähnlichen
Wesen, während in Wirklichkeit mindestens ebenso viele
Homosexuelle bärtige Jünglinge lieben und von un-
bärtigen sich nicht angezogen fühlen. Unrichtig ist auch
die scharfe Trennung zwischen idealer griechischer Liebe
— 385 —
und „ griechischem Laster". Rein ideale Liebe ohne sinn-
liche Grundlage ist ein Unding. Endlich liegt der Grund
dafür, dass jetzt homosexuelle Verhältnisse in die heutige
Gesellschaftsordnung nicht passen, in dem herrschenden
Vorurteil und der Aechtung der homosexuellen Liebe*
mit der Aenderung der Anschauungen (allerdings nicht
bloss des § 175) werden auch geachtete und sittliche
Bündnisse zwischen Männern möglich werden.
Bei Jentsch's Ausführungen ist immerhin hoch er-
freulich, dass er sich nicht mit einer oberflächlichen und
landläufigen Untersuchung der Frage begnügt, sondern die
psychologische und soziale Bedeutung der Homosexualität
prüft und die ganze Frage auf ein höheres Niveau hebt.
14) Kupffer, Elisa r von, veröffentlicht inBrand's
, Eigenem", 1. und 2. Oktoberheft 1899 Nr. 6 und 7,
unter dem Titel „Die ethisch-politische Bedeutung
de r Lieb 1 in gsmin ne a die Einleitung seiner seit längerem
angekündigten, bisher jedoch noch nicht erschienenen:
„Lieblingsminne und Freundesliebe in der Weltliteratur 1 *
(einer 'Sammlung der verschiedenen litterarischen Pro-
dukte aller Zeiten und Länder über die mannmännliche
Zuneigung).
Kupffer geht davon aus, dass vor Allem der Mann
männlicher werden müsse, das hiesse aber, dass er seine
Selbstbestimmung, seine persönliche Freiheit und das ge-
meine Wohl zu wahren habe. Von einer Zurücksetzung
oder gar Verachtung der Frau sei dabei selbstverständ-
lich keine Rede.
Aber jeder habe das Recht, alle seine Triebe und
Kräfte ohne Gewaltthätigkeit auszuleben: Nur dann sei
wahre Kultur möglich. Dieses Ausleben aller Kräfte be-
deute nicht Aufgehen in reinem Sinnengenuss, vielmehr
zeige sich der wahre Mensch in der freiwilligen weisen
Beschränkung und Zügelung des eigenen Selbst.
Die mannmännliche Liebe sei bisher gründlich miss-
Jahrbuch II. 25
— 386 —
verstanden worden; teils habe die Prinzipiensucht unserer
wissenschaftelnden Zeit diese Liebe bekrittelt, auf alle
mögliche Weise untersucht und für krankhaft erklärt,
teils habe Bosheit und Unwissenheit einfach mit Be-
schimpfungen sich begnügt
Man habe von Verfall und Dekadenz gesprochen:
Den Gegenbeweis lieferten die grössten Männer aller
Zeiten: Alexander, Theognis, Pindar, Shakespeare, Fried-
rich der Grosse.
Es könne unmöglich ein Zufall sein, dass solche
hervorragende Vertreter der Kulturgeschichte diese Neig-
ung verspürten.
Wenn ihre Neigung als abscheulich gelte, müsste
man sich auch von ihnen mit Abscheu abwenden und
könne sie nicht mehr als Träger der Kultur betrachten.
Die mannmännliche Liebesrichtung könne eine Quelle
von Kraft für die Allgemeinheit abgeben. Griechen-
land bewiese dies. Im Krieg und im Frieden könnten
diese Verhältnisse von moralischer und staatlicher Be-
deutung werden: erzieherische Wirkungen der Jüngeren
durch die Aelteren, einen engeren Anschluss der Männer
in gegenseitiger Hingebung zum Wohle des Ganzen
herbeiführen.
Der christlichen Anschauung widersprächen solche
Verhältnisse nicht; nach Christus käme es vor Allem
auf die Gesinnung an.
Christus, welcher jedenfalls eine ideale Zuneigung zn
Johannes verspürte, habe niemals die edlere Lieblings-
minne verurteilt, trotzdem er bei ihrer damaligen Ver-
breitung im Orient Anläse gehabt hätte, davor zu warnen.
Nur bei Paulus, dem ehemaligen Pharisäer, der nie mit
Jesus persönlich in Berührung gekommen, finde sich eine
Stelle über diese Liebesrichtung, in welcher aber Paulus
■* die ethische Bedeutung dieser Verhältnisse ge-
— 387 —
dacht habe, sondern lediglich an die aus Uebersättigung
hervorgegangenen Lüste.
Hoher Idealismus, Gedankentiefe und edle Sprache
machen den Aufsatz Kupfers zu einem wertvollen Bei-
trag der homosexuellen Literatur.
Kupffer bildet hauptsächlich mit Gerling, Carpenter
und von Wächter (siehe unten) jene Gruppe, welche die
ethische und soziale Bedeutung der Homosexualität be-
tont und ihr einen für die Allgemeinheit nützlichen Zweck
abzugewinnen sucht.
Diese erfreuliche Tendenz ist nur zu billigen. Sie
möge auch die Homosexuellen veranlassen, nicht nur an
ihr Recht auf sinnliche Befriedigung zu denken, sondern
auch an ihre Pflicht einer ethischen Ausgestaltung ihrer
Liebesrichtung.
Dagegen muss Kupffers Angriff auf das wissen-
schaftliche Studium der Homosexualität energisch zurück-
gewiesen werden.
Die Wissenschaft hat ein Recht und eine Pflicht, die
physiologische und psychologischen Seiten aller Natur-
erscheinungen zu untersuchen.
Ohne die bisherigen wissenschaftlichen Studien über
die physiologischen Grundlagen der Homosexualität wären
Kupffers Erörterungen einfach unmöglich gewesen und
unverstanden geblieben.
15) Studie über die Sakalaven auf Madagascar
in den „Annales d'hygiene et de mldecine
colon iales" (wahrscheinlich letzte Nummer des Jahres
1899 oder erste des Jahres 1900) (mitgeteilt in „Mercure
de France« 1. F6vrier 1900 S. 490).
Bericht über einen bei den Sakalaven und Hovas
auf Madagaskar ziemlich verbreiteten Fall sexueller Ano-
malie. Wir lassen die Hauptstelle in deutscher Ueber-
Setzung wörtlich folgen: „In Emyrnien heissen die Indi-
viduen, die sich über ihr Geschlecht täuschen, „Sarim-
25»
— 388 —
bavy M (sar: Bildnis, vary : Frau), bei den Sakalaven heissen
sie , Secatra". Bei diesen letzteren begnügen sich die
„Secatra* nicht mit äusserlichen Aehnlichkeiten mit dem
Weib, sondern gehen viel weiter in dem intimen Verkehr.
Die Secatra sind normal gebildete Männer; aber seit ihrer
Jugend hat man sie wahrscheinlich wegen ihres zarteren
öder schwächlicheren Aussehens wie Mädchen behandelt
und nach und nach werden sie wie wirkliche Frauen be-
trachtet, indem sie auch das Kleid, den Charakter und
die Gewohnheiten der Frau annehmen.
Die Auto-Suggestion, die sie erlitten haben, hat sie
ihr wahres Geschlecht vergessen lassen, und sie sind un-
fähig geworden, eine Erektion oder eine Begierde bei
einer Frau zu verspüren. Sie verwenden grosse Sorgfalt
auf Toilette und Kleidung, sind mit Weiberstoff und
Röcken bekleidet und tragen lange Haare mit Zöpfen,
die kugelförmig enden; ihre Ohren sind durchlöchert und
erhalten Ringelchen mit Silberstücken, auf dem linken
Nasenflügel haben sie ein Geldstückchen, an den Aermen
und Füssen tragen sie Halsbänder; um die Aehnlichkeit
mit dem Weib noch weiter zu treiben, belegen und be-
decken sie die Brust mit Lappen, welche den Busen und
die Brüste nachbilden sollen ; sie entfernen sorgfältig alle
Haare am Körper (mit Ausnahme des Kopfhaares^ haben
den wiegenden Gang der Frau und eignen sich schliess-
lich deren Stimme an.
Wenn ein Mann ihnen gefällt, geben sie ihm Geld,
damit er mit ihnen schlafe, sie lassen ihn in ein mit Fett
gefülltes Ochsenhorn, das sie sich zwischen die Beine
legen, koitieren; manchmal lassen sie sich pädizieren.
Sie verrichten keinerlei mühsame Arbeit, beschäftigen
sich mit der Haushaltung und der Küche, flechten Stroh-
matten, hüten niemals das Vieh und gehen nicht in den
Krieg. Ihre Geschlechtslage wundert Niemand, man findet
ßie ganz natürlich und Niemand wagt eine Bemerkung,
— 389 —
denn der Secatra könnte sich rächen/ indem er auf die,
welche seinen Fall besprechen würden, ein Loos und eine
Krankheit würfe."
Es handelt sich bei diesen Secatra zweifellos um
Fälle völliger Effemination. Der Verfasser des Berichts
scheint mehr an erworbene Effemination und er-
worbene kontrare Sexualempfindung zu denken; doch
werden wohl nur diejenigen sich zu Secatra ausbilden,
welche schon von Jugend auf eine konträr sexuelle Natur
haben; die besonderen weiblichen Gewohnheiten werden
dann allerdings diese konträre Anlage noch bestärken
und zu vollster Entwicklung bringen.
16) Thal, Wilhelm: Der Roman einesConträr-
S ex u eilen mit einer Einleitung von Raffalowlqh,
Marc-Andr^: Der Uranismus. (Verlag Spohr 1899).
Dieser „Roman eines Conträr- Sexuellen* ist nichts
weiter als die Uebersetzung einer in den „Archives
d'anthropologie criminelle" von Dr. A. Lacassage und in
dem Werk von Laupts: Perversion etperversitd sexuelles
veröffentlichten, an Zola von einem Urning tibersandten
Autobiographie und zwar die Autobiographie eines
typischen Effeminierten, der sicherlich nicht zu den edleren
und höheren Homosexuellen gerechnet werden kann.
Ob ein Bedürfnis bestand, gerade diese Autobiographie
zu übersetzen und unter dem Titel „Roman eines Contr^r-
Sexuellen" zu veröffentlichen, möchten wir bezweifeln.
Wertvoller ist die Einleitung von Raffalowich, welche
ebenfalls eine Uebersetzung aus dem Französischen dar-
stellt und auch schon deutsch als selbständige Broschüre
unter dem Titel „Die Entwickelung der Homosexualität *
(Berlin, Fischers Mediz. Buchhandlung 1895) herausge-
geben worden war, weshalb eine eingehendere Besprech-
ung dieser sehr bedeutsamen, psychologisch tief gehenden
Einleitung in dem Rahmen dieser Bibliographie des Jahres
1899 nicht am Platz wäre.
— 390 —
17) Wächter, T h eo dor von: stellt in seinem Buche:
„Ein Problem der Ethik* die Liebe als körper-
lich-seelische Kraftübertragung, „Eine psycho-
logisch-ethische Studie" (Spohr 1899) (200 S.) eigen-
artige und neue Gesichtspunkte für die Beurteilung der
Homosexualität und des Geschlechtstriebes überhaupt au£
Verfasser sieht das Wesen der Liebe nicht im Fort-
pflanzungstrieb, sondern im Trieb nach Ergänzung, nach
Gemeinschaft, nach gegenseitiger Erfrischung und Be-
lebung; die Fortpflanzung sei nur eine mit diesem Er-
gänzungstrieb verbundene mögliche Folge.
Die Auffassung der Liebe, ihre Regelung und Aus-
gestaltung in den verschiedenen Zeiten und Völkern
hänge von der jeweiligen sozialökonomischen Grundlage
der verschiedenen menschlichen Gemeinschaften ab. Die
noch heute allgemein herrschende Auffassung der Liebe
lediglich als Fortpflanzungstrieb sei auf das Judentum, im
Gegensatz zum Christentum zurückzuführen.
Bei dem kleinen, schwachen, in dem feindlichen, er-
oberten Kanaan zu steten Kampf ums Dasein gezwungenen
Judenvolk habe das Christentum möglichste Vermehrung
der Volkszahl erfordert. Daher die Beurteilung einer
jeden nicht Fortpflanzung bezweckenden Liebesbethätig-
ung als Sünde, daher der besondere Abscheu gegen den
gleichgeschlechtlichen Verkehr. Den Griechen, bei denen
ein solches Interesse an möglichster Vermehrung nicht
bestanden habe, sei Hauptzweck der Liebe gewesen, die
freie Hingabe an die erwärmende belebende Macht der
menschlichen Jugendschönheit und zwar — da der Zweck
der Kinderzeugung nicht massgebend gewesen — an die
Jugendschönheit beiderlei Geschlechts.
Trotz des Sieges der jüdischen Auffassung habe doch
bei vielen grossen Männern das griechische Ideal die
Oberhand gewonnen. Folgt sodann Erörterung des Wesens
der Liebe im Sinne des Verfassers: Nicht in der Be-
friedigung geschlechtlicher Erregung sei das Wesen der
— 891 —
Liebe zu suchen, sondern im Trieb nach Gemeinschaft,
in der Anziehung nicht nur der physischen, sondern be-
sonders der seelischen Reize der geliebten Person.
Aus dem Zusammensein mit der geliebten Person
ströme eine Belebung, Erwärmung, Erfrischung des ganzen
Menschen. Die erwärmende, belebende, verjüngende
Kraft der Liebe, sei das Wesentliche aller wahren Liebe.
Zum Beleg für seine Auffassung der Liebe als physisch-
psychische Kraftübertragung verweist Verfasser auf zwei
Schriften, die er des Näheren bespricht. Die von Exul
(1890): „Die psychische Kraftübertragung* welche mehr
die psychische und die von Buttenstedt: „Die Ueber-
tragung der Nervenkraft - , welche mehr die physische
Kraftübertragung behandelt, (Buttenstedt schreibt dem
menschlichen, gesunden Körper die Fähigkeit zu, ins-
besondere durch enges Zusammenliegen mit einem andern
Organismus auf diesen seine gesunden Kräfte zu über-
tragen und überströmen zu lassen.)
Verfasser geht dann des Näheren auf das Verhältnis
des Liebestriebes zum Fortpflanzungstriebe ein. Der Zweck
der Fortpflanzung spiele bewusstermasen fast nie eine Rolle.
Für seine Auffassung der Liebe beruft sich Wächter
auf Carpenter, den er ausführlich zitiert; dagegen pole-
misiert er gegen Moll, der lediglich wegen der Unmög-
lichkeit der Zeugung die gleichgeschlechtliche Liebe für
krankhaft halte.
Die Zuneigung zum gleichen Geschlecht sei keine
Krankheit, sie fände sich gerade bei vielen geistig Hoch-
stehenden. Sie bezwecke nicht Zeugung von körperlichen
Nachkommen, sondern diene dazu, diesen geistig Hoch-
stehenden frische körperliche Kraft zur Belebung und
Kräftigung ihres geistigen Lebens zuzuführen und so sie
fruchtbar zu machen zur Zeugung geistiger Güter.
Schon im Mittelalter und in der kapitalistischen Neu-
zeit, wo die Gesellschaft sich in Herrn imd Knechte
teile, habe man den wahren Herrn, den Fürsten, Künst-
— 392 —
lern, Genies, eine andere Liebeaethik, als dem Volke
eingeräumt; denn das Interesse der Gesellschaft erfordere
möglichste Vermehrung der Knechte, nicht aber der
Herren, die hauptsächlich zur Bereicherung des Kultur-
lebens beigetragen hätten.
In der sozialistischen Gesellschaft würde die mög-
lichste Vermehrung nicht mehr Hauptzweck der Gesell-
schaft sein, sondern das Erringen kultureller, geistiger
Güter, daher würde auch nicht mehr vor Allem möglichst
grosse Volksvermehrung verlangt werden.
Verfasser breitet sich des Weiteren dann über das
Verhältnis der geistigen zur sinnlichen Liebe ans. Nach
der platonisch-christlichen Weltanschauung, der Anschau-
ung des Gegensatzes zwischen Körper und Geist sei
höchstes Ideal, völlige Enthaltung von aller Hingabe
an irdisch-sinnliche Erregung. Die Möglichkeit solcher
völligen Abstinenz sei nicht zu leugnen, auch bei den
Homosexuellen fänden sich Vertreter dieser Anschauung,
welche sie thatsächlich zu verwirklichen suchten. Ver-
fasser führt einige Briefe solcher abstinenten Homosexu-
ellen an. Diesem Ideal sei aber nicht Jeder gewachsen,
wer aber diesem Ideal nicht folge, sei ganz gleich zu
beurteilen, ob homo- oder heterosexuell
Die Hauptsache sei, dass echte Liebe seelische
und geistige Anziehung neben der physischen er-
strebe ; eine rein sinnliche geschlechtliche Erregung ohne
seelische Hingabe sei verwerflich.
In „Zusätzen" fügt der Verfasser noch eine Anzahl
historischer und literarischer Bemerkungen und weiterer
Auslassungen seinen früheren Ausführungen hinzu. Mit
einem idealen Appell an den Jüngling seiner Träume, in
dem er Freundschaft und Liebe vereint fände, schliefst
Verfasser.
Wächters Buch verdient besondere Beachtung wegen
seines wohlthuenden Idealismus und seiner anregenden
Gedanken.
— 893 —
Kapitel 2: Belletristisches und Varia.
1) Brand, Adolf: t Der Eigene". Der junge Ver-
leger und Schriftsteller Adolf Brand zu Neurahnsdorf
hatte im Jahre 1898 die Herausgabe einer künstlerischen
Zeitschrift mit Randzeichnungen und Bildschmuck ver-
sucht, welche ganz besonders der künstlerischen Dar-
stellung der Homosexualität gewidmet sein sollte. Im
Jahre 1898 erschienen auch zwei Nummern mit ausgesucht
schöner äusserer Ausstattung. Sie brachten an homo-
sexuellen Sachen:
Brand: „Prolog", eine Einleitung von wirklicher
Klangschönheit, die in ihrer symbolistisch-
poetischen Form dem unverstandenen Schmerz
und dem unnennbaren Sehnen aller nach Ideal
dürstenden Seelen beredten Ausdruck verleihen
wollte.
Brand: „Du und ich tf und 9 Spielmannslos*, zwei
Gedichte.
Nobert Langner: „Echte Liebe", eine gefühl-
volle Novelle.
Numa Praetorius (unter Dr. G.): Eine Be-
sprechung der Tagebücher des Grafen Platen.
Nr. 2: Brand: „Morituri*. Gedicht.
Lord Byron: Ein im Nachlass des Dichters vor-
gefundenes homosexuelles Liebesgedicht (über-
setzt von Albert König).
Mangels genügender Unterstützung musste die Zeit-
schrift eingehen. Im Juli 1899 hat Brand nochmals die
Herausgabe einer nunmehr aller 14 Tage erscheinenden
Zeitschrift in verkleinertem Format, aber in nicht minder
geschmackvoller und künstlerischer Ausstattung zu sehr
billigem Preis (nut 4,50 Mk. pro Jahr!) unternommen.
— 394 —
Erschienen sind bisher drei einfache und drei Doppel-
hefte.
Homosexuellen Inhalt weisen auf: in Nr. 1:
Brand: „Lenzfahrt*. Gedicht, impressionistisches
Momentbild.
Joseph Kitir: „Eros im Bordell*. Gedicht:
Gegensatz zwischen der. poetischen Urningsliebe
und der gemeinen heterosexuellen Venus.
Nr. 2: Hans Heinz Evers: „Armer Junge". Novelle:
tiefempfundene Schilderung der unglücklichen
Liebe eines ideal und monogam liebenden Urnings,
der sich tödtet, weil der Geliebte ihn nicht ver-
stehen und seine Gefühle nicht erwidern kann.
Brand: „Verwirkt". Gedicht, voll Naturfrische.
Nr. 3: Brand: „Nach dem Gewitter*. Gedicht, poetisch-
sentimentales Natur- und Stimmungsbild.
Louis Franche: „Liebeslied*. Gedicht
Nr. 4 u. 5: Paul R Lehnhard: „Mein Antinous".
Novelle, ein in etwas kühnen Farben gemaltes
Liebesabenteuer.
Brand: „Waldfrei". Gedicht, nicht ohne Schwung
und Feuer.
Elisar von Kupffer: „Der Lieblingsjünger*
Gedicht, feine und zarte Andeutung des Ver-
hältnisses zwischen Jesu und Johannes.
Louis Franche: Besprechung des Romans eines
Konträrsexuellen und des Vorworts dazu von
RafFalowich.
Nr. 6 u. 7: Elisar von Kupffer: 1 Die ethisch-politische
Bedeutung der Lieblingsminne (siehe oben S. 385).
Brand und Freiherz: „Aus der Harfe des
Todes*. Gedichte, symbolistisch gehalten, düster-
dämonisches Gefühl in klangvoller Sprache.
Peter Hamecher: Besprechung des I.Jahrbuchs.
Kühnes freimütiges Bekenntnis der eigenen Homo«
— 395 —
Sexualität des Kritikers. Auch Hamecher pole-
misiert leider gegen das wissenschaftliche Studium
der Homosexualität; für ihn gilt dasselbe, was
wir oben über die gleiche Tendenz von Kupffer
sagten.
Nr. 8 u. 9: November- und Dezemberheft; erst am
18. März 1900 erschienen.
Peter Hamecher: »Heinrich voi| Kleist*, eine
interessante Studie, in welcher die in Kleist an-
geblich latente, von ihm selbst verkannte Homo-
sexualität erörtert wird.
Brand: „Immer Lustig* und „Liebling von der
Gasse", zwei Gedichte, ersteres sehr gewagt.
Brand: „§ 175 und seine richtige Auslegung."
Die gleichgeschlechtlichen Akte zwischen Homo-
sexuellen seien keine widernatürliche Unzucht *)
2) Gourmont, Remy de: Le Songe d'uhe Femme
(im Mercure de France**), wohl der bedeutendsten Zeitschrift
der neueren Richtung in Frankreich, Oktober- und No-
vemberheft 1899). Ein psychologischer, in Briefform
geschriebener Roman. Drei Briefe berühren die Horao-
*) Die in diesem letzten Heft enthaltene teilweise recht akt-
lose „Extrapost" muss ausdrücklich gerügt werden. Derartiges wie
z. B. die Schlussstelle „Ewald Maskenbald" passt nicht in eine
Kunstzeitschrift. Auch der Name von Numa Praetorins ist ohne
mein Wissen und ohne meinen Willen in dieser „Extrapost" auf-
genommen worden, wogegen ich hiermit ausdrücklich Verwahrung
einlege. N. P.
**) In dem „Mercure de France" sind überhaupt in den letzten
Jahren verschiedene Romane mit urnischem Inhalt oder wenigstens
einzelne die Homosexualität streifenden Stellen erschienen, nament-
lich Pierre Louys: L'Esclavage, im Buchhandel Aphrodite 1895.
Hugues Rebell: La Nichina 1896. Rachilde: Les Factices,
im Buchhandel Les Hors-Natures 1897. Georges Eekhoud: Le
comte de la Digue, im Buchhandel Escal-Vigor 1898. Albert
Delaconr: le Roy 1898.
— 396 —
Sexualität und r zwar die weibliche. Briefe von Claude
de la Tour an Anna des Loges vom 6. und 12. September
und von Anna an Claude vom 14. September. Claude,
kühl gegen jede Mäunerliebe kann die Liebesleidenschaft
nur für ihre Freundin Anna empfinden, Sie bittet sie,
zu. ihr zu kommen und die frühere im Pensionat ent-
standene Intimität wieder aufzunehmen.
Anna besucht Claude, vertreibt durch ihre Gegen-
wart eine hübsche Gesellschaftsdame, die Claude sich
auserwählt hätte, will aber die „Kindereien * des Pen-
sionates nicht mehr erneuern. Anna liebt nur den Mann,
mitleidig- schaut sie auf ihre Freundin herab: Gleich-
geschlechtliche Liebe sei Liebeskampf ohne Gegner;
langweilige Siege ohne Besiegte.
Die psychologischen und sentimentalen mit Ironie
vermengten Feinheiten der Briefe lassen sich schwer in
wenig Worten auch nur andeuten.
3) d'Herdy, Luis: „Monsieur Antinoüs et
Madame . Sappho" (Girard Paris 1899): ein echter Roman
der Homosexualität. Der nicht gerade geschmackvolle und
reklamesüchtige Titel kennzeichnet genügend die beiden
Hauptträger der Erzählung.
Beide sind Invertierte: Er liebt nur den Mann, sie
pur die Frau. Beide aus reichen und vornehmen Kreisen
stammend, heiraten sich ohne Kenntnis ihrer Gefühle und
leben dann völlig getrennt von einander. S i e reist mit
einem geliebten Mädchen, welches mitten in ihrem Liebes-
glück stirbt. E r wird sich seines Zustandes erst allroälig
klar; nach der ersten Bekanntschaft mit einem Urning,
flieht er auf das Land, da er sich nach wahrer und
tieferer Leidenschaft sehnt. Ein Jugendfreund, ein ein-
facher Matrose, ist sein Ideal, aber er wagt nicht das
Geständnis seiner Liebe; der Matrose geht auf die See
und stirbt.
Nun wirft sich Antinous in den Strudel des Pariser
— 897
homosexuellen Lebens. Es folgt die Schilderung seiner
Exzentrizitäten in Kleidung, Luxus, Festen u. s. w., die
an die ähnlichen Darstellungen dekadenter Männer von
Hysmans in „A Rebours Ä und von Wilde in „Dorian
Grey* erinnern.
Auf einem urnischen Maskenball lernt Antinous als
Prinzessin verkleidet einen schönen Pagen kennen. Er
führt ihn in ein entlegenes Heim und entdeckt, dass der
Page seine eigene Frau ist, welche ihrerseits die maskierte
Prinzessin für ein Weib gehalten. Wie zwei gute Be-
kannte bringen beide in vertrautem Gespräch die Nacht
zu und erzählen sich ihre bisherigen Erlebnisse.
Der Roman entbehrt des wahren künstlerischen
Ernstes und tieferer Psychologie; er ist auf den Effekt
berechnet Doch liest er sich angenehm und enthält
hübsche Stellen. Der Held als typischer Vertreter einer
Klasse von Urningen, den Effeminierten und Raffinierten,
die das Bestreben in sich fühlen, ihre gesamte Lebens-
führung eigenartig und seltsam einzurichten, ist nicht
schlecht getroffen.
4) d'Herdy, Luis: L'Homme-Sir be (Paris,
Girard 1899).
Edouard, von Jugend auf konträr, hat auf dem Lyceum
sich die Freundschaft des normalgeborenen, männlich er-
zogenen Georges d'Athis errungen. Trotz seiner Normali-
tät hat Georges in tiberschäumender, zurückgedrängter
Jugendglut den schwachen weiblichen Edouard zärtlich
geliebt. Nach Verlassen des Lyceum hat er aber bald
die „Spielereien" des Alumnates vergessen und sich. nur
dem Weibe zugewendet Edouard dagegen sieht in
Georges sein Ideal und die früheren Gefühle haben sich
zu unzerstörbarer Liebesleidenschaft für den Freund ent-
wickelt. Er sucht den mit dem geliebten Weib glücklich
verheirateten Georges auf und verbringt einige Zeit auf
dem Schloss der Eheleute« Edouard will Georges wieder
- 398 —
gewinnen und thatsächlich gelingt es dem weichen,
weiblichen Androgynen die wieder erneuerte zärtliche
Freundschaft von Georges in Liebe umzuwandeln. Lange
sträubt sich Georges dagegen, die Natur seiner Gefühle
zu erkennen und als er mit Schrecken sieht, dass er von
leidenschaftlicher Liebe zu Edouard ergriffen ist, schwört
er sich, doch niemals dieser Leidenschaft zu unterliegen
und will seinen Freund veranlassen, abzureisen. Als
Edouard die Gewissheit erlangt hat, dass Georges niemals
ihm nachgeben wird, will er wenigstens gemeinsam mit
dem Freunde sterben. Während einer gemeinsamen Kahn-
fahrt reiset er Georges mit sich ins Wasser. Edouard
ertrinkt, während Georges sich retten kann.
Der Roman bedeutet einen wesentlichen Fortschritt
gegenüber dem w Monsieur Antinous und Madame Sappho.'
Der seelische Kampf beider Männer ist mit psycholog-
ischem Verständnis und der Einfluss eines echten Andro-
gynen, der körperlich und geistig dem Weibe ähnlich, die
Freundschaft eines Normalen bei gegenseitiger andauern-
der seelischer Sympathie in Liebesleidenschaft umzu-
wandeln vermag, in interessanter, glaubhafter Weise
geschildert. Auch in diesem Roman ist der Androgyne
mit allen typischen Eigentümlichkeiten und der Sucht
nach überfeinerten Lebensgestaltung des effeminierten
Urnings gezeichnet. Von warm empfundenem Gefühl
zeugt cjie Szene, wo Edouard seine Liebe dem Freund
gesteht und seinen Empörungsruf gegen die Vorurteile
ausstösst, die jede Liebe gestatten, nur die seine ver-
dammen.
5)v. Platen, Graf August: Tagebücher. Heraas-
gegeben von G. von Laubmann und L. von Scheffler.
(Verlag J. G. Cotta, Stuttgart.) IL Band.
Fast noch deutlicher als im ersten Band tritt in
diesem zweiten Band die Homosexualität Platens hervor.
Seine Liebe steht immer noch an Innigkeit, Feinheit und
— 399 —
edlem Kern der Liebe zwischen Mann und Frau nicht
nach, übertrifft sie noch hie und da an Triebkraft ge-
richtet auf Veredelung des Geliebten. (S. 65 v. 9.6. 1818:
„Ich kann mich nur an die anschliessend die Liebe zur
Wissenschaft» Begeisterung zu etwas höherem belebt; 8.
78 v. 4./7. 1818, S. 82 v. 14./7. 1818, S. 91 v. 31./7. 1818,
S. 133 v. 16./11. 1818: „Ich hasse die Alltagsmenschen
S. 162 v. 20.12. 1818: »Dein Anblick zog mich vom Ab-
grund*.)
S. 181 v. 6./1. 1819, wo Platens feinfühlige, der
Rohheit abgeneigte Natur besonders deutlich zur Sprache
kommt. S. 213: Ich kann mir doch nachsagen, dass diese
Liebe vollkommen edel war. S. 242 v. 4./4. 1819: „Unsere
Verbindung würde die reinste und schönste aller Jüng-
linge werden." S. 346 Grubers Brief, worin Gruber
Platen einen Mann von hohen Ideen nennt S. 361 v.
31./1. 1820: „Wir küssten, wir umarmten uns oft, aber
gewiss mit einem edlen Gefühl der Freundschaft, der
Neigung, der Sympathie."
Die Tiefe, Innigkeit der Neigung spricht sich in
folgenden Stellen, oft rührend, aus: S. 67 v. 14./6. 1818:
„Mein ganzes Wesen bedarf der Liebe*; S. 86 v. 21./7.
1818: „ach nur einen Funken Liebe*; S..87 v.*24./7.
1818, S. 92 v. 3./8. 1818, S. 134 v. 19./11. 1818: „mit
welcher Wärme ich ihn liebe*; S. 139 das Gedicht; S.
156 v. 10/12. 1818: „Wenn ich aufstehe des Morgens, so
hat mich dein Bild erweckt, wenn ich mich schlafen lege,
so wiegt auch dein Bild mich in Träume" ; S. 156, S. 167
v. 27./12. 1818; S. 178 v. 3./1. 1819, wo er das Gedicht
Gretchens aus Faust auf sich anwendet, und dann später,
„dass es Süssigkeit sein müsse, von seiner Hand zu
sterben«; S. 247 v. 11./4. 1819, S. 251 v. 15./4.' 1818, S.
254 v. 18./4. 1819: „Du bist mir die ganze Welt"; S.269
v. 4./5. 1819: ,je sentais un vif sentiment de contentement,
— 400 —
de me trouver auprfes d'Edouard aprfes de si longues
douleurs".
S. 320 v. 17./9. 1819 der Vers am Ende; S. 323 v.
1./10. 1819, 8. 361 v. 30. 1. 1820, 8. 367 v. 26./2. 1820.
Das Glück der Liebe war Platen nur sehr karg zu-
gemessen und es waren nur wenig Sympathiebeweise, die
ihm das Glück erwiderter Liebe ersetzen mussten. Aber
wie wohlthuend schon diese kleinen Kundgebungen auf
Platen wirkten, zeigt sich auf S. 288 v. 2J.6. 1819, 2S9
und vorher: „Ma santl m€me se trouve r&ablie"; S. 31
v. 26., 8. 1819, wo das Liebesleid ihm wieder sein körper-
liches Leid zurückführt.
Er hat dieses Leid bis auf die Hefe auskosten müssen,
wie alle tiefempfindenden Männer seiner Art. Besonders
ergreifend ist die Anrede an den Leser S. 158. Dann
folgen andere Stellen, z. B. S. 191 v. 21. 1. 1819, S. 204
v. 7,/2. 1819, S. 240 Brief an Adrast, S. 296 v. 14./7.
1819, S. 302 v. 26.,7. 1819: Oh pourquoi, pourquoi la
Providence m'a ainsi form£, S. 561 v. 26./10. 1821 „bal-
diger Tod", S. 567 v. 1./12. 1822, S. 577 v. 5/4. 1823:
„Die Natur hat mich bestimmt, ewig unglücklich zu sein."
In seinem herzzerreisenden Gram ist ihm seine einzige
Hilfe die Religion. S. 234 v. 25.,3. 1819: „Nur die
Religion, nnr der Gedanke an Gott und seine Vorschrift
kann mich aufrecht erhalten."
Deutlicher als im ersten Band erkennt Platen all-
mählich selber die Natur seiner Gefühle als das was sie
sind: als leidenschaftliche Liebes- keine blossen schwär-
merischen Freundschaftgefühle. S. 284 v. 9,6. 1819:
„C'est la passion". S. 285 v. 13. 6. 1819 Ah, Tamour . .
est invincible. S. 113 v. 29./9. 1818, wo er merkt» dassihm
die Weiberliebe versagt ist: „Ich weiss die weibliche
Süsse so wenig zu schätzen". S. 302 v. 26,7. 1819:
„Pourquoi m'est-il impossible d'aimer les femraes?"
Allerdings über den sinnlichen Untergrund seiner
— 401 —
Liebe wird er sich noch nicht recht klar, er drückt sogar
seinen Abscheu vor jeder sinnlichen Begierde aus (S. 67
v. 15.6. 1818, S. 80 v. 7. 7. 1818). Nichts desto weniger
ist es gerade das Aeussere der Erscheinungen der
von ihm geliebten Männer, das ihn fesselt und anzieht
(Schmidtlein, v. Rotenhan, v. Liebig, v. Bülow 8. 283 v.
8./6. 1819, S. 3Ö7 v. 15./8. 1819, S. 350 v. 4./1. 1820, S.
546 v. 29./4. 1822, S. 582 v. 26./S. 1823 der Student
Heinz, S. 598 v. 24./12. 1923 Freiherr von Egloffstein,
S. 607 v. 29./2. 1824 v. Schachelhausen).
Dem geliebten Freund Eduard Schmidtlein gegen-
über, den Platen Adrast nannte, kommt das Sinnliche
seiner Liebe bei aller ihrer Idealität sogar direkt zum
Duchbruch: Als die Freunde sich trennen mussten, wuchs
Platens Liebe unter dem Drange der Sehnsucht. Er teilt
S. 324 mit, dass er mehrere Lieder gedichtet habe; auf
derselben Seite bemerkt der Herausgeber, dass Platen
hier drei beschriebene Blätter herausgerissen habe. S. 325
erwähnt Platen, dass er wieder mehrere „chansons" ge-
dichtet habe und drückt Unruhe darüber aus, dass Schmidt-
lein seine Verse nicht beantwortet habe. Dann folgt ein
Tag später die wörtliche Wiedergabe eines Briefes Schmidt-
leins, worin dieser sagt, dass er „das schimpfliche
Schreiben" Platens erhalten habe, ihm die tiefste Ver-
achtung ausdrückt und ihm ankündigt, „er werde ihn als
ein pestartiges Uebel meiden."
Dass der in den damaligen Vorurteilen aufgewachsene
und mit dem Wesen der konträren Sexualempfindung
völlig unbekannte Schmidtlein die Gedichte Platens, welche
wahrscheinlich in etwas glühendem Tone seiner Liebes-
sehnsucht Ausdruck verliehen, mit Entrüstung zurück-
wies, lässt sich begreifen. Dagegen ist nicht recht ver-
ständlich, warum die Herausgeber der Tagebücher Platen
wegen seiner an Schmidtlein gesandten Verse verteidigen
und ihn von „Schuld" und „Verdorbenheit" reinzuwaschen
Jahrbuch II. 26
— 402 —
glauben müsse?. Die Liebesglut Platens hat ebenso wie
die Liebesempfindungen eines heterosexuellen Dichters
mit der Lauterbarkeit des Charakters nichts zu thun.
Der edle Sinn Platens erleidet sicherlich deshalb keinen
Makel, weil seine Natur ihn zwang, den Mann statt das
Weib zu lieben.
6) Pierron, Sander: „Le ma\ivais chemin du
bonteur" im „Mercure de France", Juliheft 1899: Eine
feine Novelle von nur wenigen Seiten, aber voll poetischen
Dufts. Es ist die Erzählung der poetischen und schwär-
merischen Empfindung, die einen Mann gelegentlich eines
Spaziergangs auf das Land beim Anblick eines schönen
sechszehnjährigen Bauernburschen befällt. Der von dem
Liebreiz und der Anmut des Jünglings Hingerissene will
nach einem längeren Gespräch mit dem Jungen ihm einen
Kuss auf die Lippen drücken, als er durch die Zwischen-
kunft des Bruders gestört wird. Seit dieser Zeit kann
der Städter die Erinnerung an diesen stimmungsvollen
Augenblick nicht mehr bannen, eine Erinnerung, die ihn
oftmals mit Wehmut erfüllt.
7) Rebell, Hugues: „LaBataille pour unMort*
scenes Romaines (im „Mercure de France" November-
heft 1899).
Der reiche SceVinus weilt in seiner üppigen Villa in
Bajä mit seiner Geliebten, der Freigelassenen Cadicia
und einer Anzahl Gäste und Schmarotzer aller Art.
Vatinius, der Parasit, fürchtet, dass Cadicia ihn aus dem
Hause treiben werde und vorbeugend will er sie verjagen.
Er bringt es dazu, dass Cadicia ihre Freundschaft mit
einer früheren Geliebten, Statilia, wieder erneuert and
dass Scdvinus beide in seiner eigenen Villa während des
sinnlichen Liebesaktes ertappt. Die erhoffte Wirkung auf
Scevinus bleibt aber aus, nur ein gleichgültiges Lächeln
gleitet bei dem ungewohnten Anblick über seine Lippen.
Unterdessen hatte Vatinius in der Absicht, die, wie er
— 403 —
glaubt, frei werdende Stelle der Cadicia auszufüllen, einen
hübschen Prostituierten, Quirinalis, — um den gerade
zwei vornehme junge Römer sich stritten — herbeigeholt
Noch hofft Vatinius, beim Gastmahl Sc£vinus Blicke auf
Quirinalis zu lenken und durch dessen Schönheit einen
Wechsel in der Stimmung des Hausherrn gegenüber
Cadicia zu erreichen.
Alle Kombinationen des Parasiten werden aber zu
Nichte gemacht durch den plötzlichen Tod von Sc^vinus,
der sich die Pulsader im Bade öffnet, um einer ihm ge-
meldeten, auf Grund falscher Anzeige wegen Komplottes
gegen den Kaiser bevorstehenden Verhaftung zu entgehen.
Wütend wegen seines verlorenen Abends entfernt
sich Quirinalis; kurz darauf werden die Insassen der Villa
mit Ausnahme von Cadicia verhaftet.
Die Novelle bildet in ihrem kurzen Rahmen ein
treffendes Sittenbild römischer Zustände der Kaiserzeit.
Die gleichgeschlechtliche Liebe fügt sich in das Ganze
als etwas den damaligen Sitten Entsprechendes und ist
mit derselben lächelnden Ironie, Selbstverständlichkeit,
feiner Skepsis und objektivem Behagen an den Erschei-
nungen frisch pulsierenden Lebens behandelt wie die
ganze Novelle und wie ähnliche Szenen aus der Renaissance-
zeit in Rebells hübschem in der vorjährigen Bibliographie
erwähnten früheren Roman „La Nichina".
8) In RebelTs Hugues „La Calineuse", Roman (Ed
Revue blanche, Paris 1900) kommt eine homosexuelle
Nebenperson vor, der Dichter und Romanschreiber Pierre
Chaperon.
Rebell hat ihn mit den etwas affektierten Gesten,
der äusseren Eleganz, dem von Pose und Selbstgefällig-
keit nicht freien Benehmen, dem Witz und geistreichen
Gespräch des vornehmen, gebildeten, weltmännischen
homosexuellen Parisers gezeichnet.
Auch die durch die Gewissheit, gegen weibliche Reize
gefeit zu sein, erlangte Ueberlegenheit des Homosexi
gegenüber den Frauen, die Kälte und GleichgültJ
gegenüber dem weiblichen Geschlecht, welche mal
aller zuvorkommenden Höflichkeit, Liebenswürdigkeit
Galanterie hindurchfühlt, sind gut getroffen.
An der homosexuellen Natur von ChaperonJ
Bebell keinen Zweifel übrig, denn in Neapel wi^r <
Pariser Arm in Arm mit einem hübschen, gelockten^
ling in einem entlegenen Stadtteil von Bekannten
(pg. 154). In dem Roman wird auch der Nea
Kuppler erwähnt» der den Fremden sogar ;
Bischöfen" anbietet (pg. 159).
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Erschienene,
ie nicht erwähnte
iches.
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ra.-^lwru 1777.'
Hl mentales,
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stu». Eine grSH
Moll>: t, ton ff
srxtiali* 4- entnommen^
LittrrattirforsHier.
zu-
iL
hu
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— 406 —
Cohn, Hermann. Was kann die Schule gegen die
Masturbation der Kinder thun? Referat dem
achten internationalen hygienischen Kongress zu
Budapest erstattet. (Berlin 1894.)
Angaben über mutuelle Onanie CS. 4 — 9) und
eingehende Satschläge zu ihrer Bekämpfung.
(8. 28 flgd.)"
Cristiani, Andrea: Autopederastia in un alienato,
affeto da follia periodica. Archivio delle psico-
patie sessuali. Vol 1 pasc. 13 und 15, 1 — 15.
(Luglio 1896.)
Der besprochene Fall dürfte wohl nur als ein
Fall einfacher Onanie, per rectum, der an sich mit
der Homosexualität nichts zu thun hat, aufzu-
fassen sein.
Dag>onet,H.Traitldesmaladies mentales Paris 1894)
avec la collaboration de J Dagonet et G. Duhamel.
S. 104 und 769. Ausführungen über konträre
Sexualempfindungen.
Deblerre, Ch.Hermaphrodisme: Structure, fonctions,
£tat psychologique et mental. Etat civil et mariage.
Dangers et remedes. (Paris 1891.)
Behandelt den körperlichen Herrn aphrodismus;
beim seltenen wahren Hermaphrodismus bestehe Neu-
tralität in psychosexueller Beziehung, ähnlich wie
bei Castration. (S. 135.)
Delbrück, Anton: Gerichtliche Psychopathologie.
Ein kurzes Lehrbuch für Studirende, Aerzte und
Juristen. (Leipzig 1897.)
S. 187 Erwähnung der Homosexualität.
Despine, Prosper: Psychologie naturelle. Etüde
sur les facultas intellectuelles et morales dans leur
£tat normal et dans leur manifestations anomales chez
les alit'nes et chez les criminels Tome III (Paris 1868.)
— 407 —
S. 223 Angaben über gleichgeschlechtlichen Ver-
kehr zwischen Prostituierten.
Dornblüth, Otto: Compendium der Psychiatrie für
Studierende und Aerzte. (Leipzig 1894.)
S. 36 Erwähnung des Homosexualität.
Duval, Jacques: Trait£ des Herrn aphrodites:
R£imprimd sur P^dition unique (Rouen 1612) Paris 1880.
Rechnet homosexuelle Frauen mitunter zu den
körperlichen Hermaphroditen. S. 68 flgd.
Ellls, Havelock: Sexual Inversion in man. Repr.
from the Alienist and Neurologist April 1896.
Ellis, Havelock: A note an the Treatment of
sexual inversion. Repr. from the Alienist and
Neurologist. Juli 1396.
Ellls, Havelock: Nota sulle facolta artistische
degli invertitiin Archivio delle psicopatie sessuali
Vol. 1 fasc. 17 u. 18 1—15 Settern. 96.
Förö, Charles: La pr^disposi tion et les agents
provocateurs dans Petiologie des perver-
sions sexuelles. Revue de mddecine 1898.
F6r6, Charles: Contribution h l'ätude de lades-
cendance des invertis. Archives de Neurologie
1898.
F6r6, Charles: Contribution h Pdtude des dqui-
voques des caractferes sexuels accessoires.
Revue de Mtfdicine 1893.
Eingehende Untersuchung über die Fälle, wo bei
Frauen eine mehr männliche Körperbildung (Mas-
culismus); bei Männern eine mehr weibliche Körper-
bildung (Feminismus) stattgefunden hat. Nicht immer,
aber oft seien perverse geschlechtliche Neigungen
vorhanden.
Forel, August: Zwei kriminal-psychologische
Fälle. Ein Beitrag zur Kenntnis der Uebergangszu-
— 408 —
stände zwischen Verbrechen und Irrsinn, in Zeitschrift
für Schweizer Strafrecht 2. Jahrg. 1. Heft, Bern 1889.
Frantz, Adolf: Ein Fall von Paranoia mit kon-
trärer Sexualempfindung. Doktordissertation.
Berlin 1895.
Frigerio: Anomalie sessuali, Autopederastia e
Pseudoonanismo in Archivio di Psychiatric Scienze
penali ed Antropologia criminale 181*3 fasc 4—5.
Behandelt die an sich mit der Homosexualität
nicht zusammenhängende Onanie per rectum sog.
Autopederastie.
Froriep, Robert: Beschreibung eines Zwitters
nebst Abbildung der Geschlechtsteile des-
selben. Wochenschrift für die gesamte Heilkunde,
herausg. von J. L. Casper, 1833, 1. Bd.
Fall eines längere Zeit für ein Mädchen gehaltenen
Mannes, eines Pseudo-Hermaphroditen mit Zuneigung
zu Männern.
Gauster, Moritz: Handbuch der gerichtlichen
Medizin. Herausg. von J. Maschka. 4. d.B
Tübingen 1882.
S. 423 wird die Homosexualität erörtert.
Geill, Christian: La psychopathie sexuelle et
son influence sur la mldecine legale. Uge-
schrift for Laeger, V. 27, S. 403.
Nach Geill sei die sexuelle Perversion niemals als
Geisteskrankheit zu betrachten und hebe nicht die
Zurechnungsfähigkeit auf.
V. Gyurkovechky, Victor: Pathologie und Therapie
der männlichen Impotenz. (Wien u.Lpzg.l 889.)
S. 80 Mitteilung eines Falles von Sadismus bei
einem homosexuellen Knaben. S. 97 Erklärung der
Homosexualität aus einem im höheren Mannesalter
oftmals eintretenden verderbten Geschmack! (eine
zweifellos völlig irrige Auffassung).
— 409 —
Halban, L.: Conträre Sexualempfindung: In der
Realencyclopädie der gesamten Heilkunde von Eulen-
burg (Wien u. Leipzig 1895).
Hayes: LeP£d6rastie (Biblioth£que d'hygiene des deux
sexes) (Paris, Pigeon 1893).
Kleine populär geschriebene Schrift: Die üblichen
geschichtlichen Angaben; die landläufige frühere vor-
urteilsvolle Auffassung (schändliches Laster etc.) und
die schwarz gemalten angeblichen gesundheitsschäd-
lichen Folgen.
Hirsch, William: Genie und Entartung. Eine
psychologische Studie. (Berlin u. Leipzig 1894,)
S. 17, 136 Erwähnung der Homosexualität
Hoflfmann, Albrecht: Die Sittlichkeit, eine For-
derung der Gesundheitspflege. Streitfragen.
Wissenschaftliches Fachorgan der deutschen Sittlich-
keitsvereine. 4. Heft. (Berlin 1892.)
Auffassung der Homosexualität, als eines Lasters,
trotzdem doch wieder die Krankhaftigkeit der Ge-
schlechts- und Geistesrichtung hervorgehoben wird.
Howard, William Lee: Sexual perversion: The
Alienist and Neurologist N. I vol. 17; Jan. 1896.
Der Fall eines homosexuellen Musikers, der stiehlt
um sich Geld zur Befriedigung seiner Leidenschaft
zu verschaffen.
Howard, William Lee: Psychical Hermaphro-
ditism. A Few Notes of Sexual Perversion, with
two Clinical Cases of sexual Inversion. Repr. from
the Alienist and Neurologist April 1897.
Howard, William Lee: Pederasty and Prostitution,
a few historie not es. Repr. from the Journal of the
American Medical Association 15. Mai 1897.
Hughes: in The Alienist and Neurologist 1893 Oktober
bespricht die Homosexualität. Referat darüber von
— 410 —
Victor Paraut in den Annales mldico-psychologiques
7. s<*rie 20. torae. Paris 1894. pg. 467.
Ireland, William: Herrschermacht und Geistes-
krankheit. Stuttgart 1 887. Besprechung der kon-
trären Sexualempfindung von Ludwig II.
Ireland, William W.: Throngh the Ivory Gate:
Studies in psychology and history Edinburgh 1889.
S. 150 Besprechung des berühmten ärztlichen Gut-
achtens über Ludwig II. von Bayern.
Ireland, William W.: The journal of mental
science Vol. 37 Januar 1891.
S. 120: Bei den Homosexuellen handele es sich
nicht um „intellectually insane", sondern mehr um
einen „verdorbenen Geschmack" „depraved taste".
Jeannel: De la prostitution publique (deutsch
übersetzt von F. W. Müller, Erlangen 1869) mit An-
gaben über männliche Prostitution.
Kelp: Ueber den Geisteszustand der Ehefrau
Katharina Margaretha L — r Conträre
Sexualempfindung. Zeitschrift für Psychiatrie
36. Bd. S. 716 flgd.
Kirn: (f Professor zu Freiburg) „Ueber verminderte
Zurechnungsfähigkeit*. In der Vierteljahrs-
schrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sani-
tätswesen von Schmidtmann und Strassmann. Bd
XVI, Heft 2, 1898, 4. Heft.
Mitteilungen einiger Fälle von konträrer Sexual-
empfindung, die zu gerichtlicher Verfolgung Anlass
gaben und die Verfasser als Fälle „ verminderter Zu-
rechnungsfähigkeit* betrachtet. Vorschlag, letzteren
Begriff in das Gesetzbuch einzuführen und spezielle
Anstalten zwecks Internierung und Heilungsversuche
zu gründen.
Insoweit die Homosexuellen lediglich wegen Be-
gehung gleichgeschlechtlicher Handlungen in spezielle
— 411 —
Anstalten — halb Gefängnis, halb Irrenhaus — ge-
bracht werden sollen, ist Eirns Vorschlag ebenso
ungerechtfertigt als die bisherige Bestrafung.
Kölle, Theodor: Geri chtlich-psychiatrische G ut-
achten aus der Klinik des Herrn Professors Dr.
Forel in Zürich. Für Aerzte und Juristen heraus-
gegeben Stuttgart 1896.
S. 163 — 181 Erwähnung der Homosexualität.
Kraus, August: Die Psychologie desVerbrechens.
(Tübingen 1884.)
Angaben über gleichgeschlechtliche Handlungen in
Gefängnissen. Geschichtliche Notizen über Homo-
sexualität.
Kurella, Hans: Osservazione sul significato bio-
logico della bisessualitä. Archivio di psychi-
atria 1890.
Ladame: Inversion sexuelle chez un d£g£n£r£,
trait£e avantageuseraent par la Suggestion
hypnotique. Communication faite au congres inter-
national de mddecine mentale dans la slance du mardi
totit 1889: Revue de PHypnotisme et de la psychologie
physiologique. September 1889. S. 67—71.
Laupts: „Betrachtungen über die Umkehrung
des Gesch lechtstri ebes" in Heft IV und V der
von dem Pseudodoktor Wenge während des Jahres
1897 herausgegebenen, nur ein Jahr lang erschienenen
„Zeitschrift für Ciiminal-Anthropologie, Gefängnis-
wissenschaft und Prostitutionswesen*. (Berlin, Priber
und Lammers. 1897.)
Wiedergabe in sehr gekürzter Form des Haupt-
inhaltes des Buches von Laupts : Perversion et perversit«*
sexuelles*. (Paris, Carr<5 1896); Unterscheidung von 8
Hauptklassen Homosexueller :
1. Der Homosexuelle mit körperlichen Abnormitäten
und weiblichen Formen ; angeborene zufällige Missbildung
der Natur.
— 412 —
2. Der Homosexuelle mit cerebraler sexuell konträrer
Hirnanlage, aber ohne sonstigen Diffbrmitäten, sowie der
lediglich zur Homosexualität prädisponierte, erst
durch ungünstige Umstände Invertirte. Ursache: Ererbung
durch Abstammung von blos zeitweise Homosexuellen.
3. Der blos gelegentlich Homosexuelle, je nach dem
Einfluss des Milieu bald hetero- bald homosexuell, der
aus Weibermangel, Modesucht oder sonstigen Gründen
sich der Homosexualität zuwende.
Besonderes Gewicht legt Laupts auf den Einfluss
äusserer Umstände für die Entstehung der Homosexualität.
Nähere Exemplificierung bei Gründung von Colonien und
Städten.
Unterscheidung zwischen schwachem und starken Teil
unter den Homosexuellen, wonach auch die spezielle Ge-
schmacksrichtung sich bestimme, z. B. Liebe des Andro-
gynen zum normalen Mann u. s. w. Zum Schluss: Aus-
führungen über die Homosexualität im Mittelalter und
Altertum nebst Citaten aus der antiken Literatur. In
Laupts „ Betrachtungen" wäre gar Manches auszusetzen:
Viel unrichtiges ist in geistreicher Weise mit Richtigem
vermischt.
Laurent, Emile: Les habituls des prisons de Paris avec
preTace du Dr. Lacassagne. (Paris soci£te* d'lditions
scientifiques.)
Lewin: Ueber perverse und konträre Sexual-
empfindung im Neurologischen Centralblatt, 15.
September 1891.
Betonung der Gefahr; man könnte durch die neueren
Arbeiten über den Geschlechtstrieb zur Lehre von
der Monomanie zurückkehren.
Libermann, H.: Les fumeurs d'opium en Chine.
Etüde medicale (Paris 1862).
S. G4 flgd. Angabe über die Homosexualität, ins-
besondere die männliche Prostitution in China. Die
— 413 —
Ursache der grossen Verbreitung der Päderastie in
China wird in dem Opiumgebrauch und seinem Ein-
fluss auf den Geist gesehen.
Lloyd-Tuekey, C: Psycho-Therapeutics, or Treat-
ment by Hypnotism and Suggestion. Third
Ed. London 1891. (S. 268.)
Lloyd-Tuekey, C: Quelques cas d'inversion
sexuelle traitls par la Suggestion. Revue
de Phypnotisme et de la psychologie physiologique,
Mai 1896, (S. 345 fl.)
Lombroso, Cesare: Kerkerpali mpseste.
Das Werk enthält homosexuelle Inschriften, Liebes-
erklärungen, Tätowirungen urnischer Verbrecher, die
in italienischen Gefängnissen auf den Zellenmauern
oder am Rande der den Gefangenen geliehenen Bücher
gefunden wurden.
Lombroso, Cesare: Archivio di Psichiatria,
scienze penali ed anthropologia criminale.
Vol. XI. Fase. III— IV. Torino 1890.
Verfasser rechnet Virgil zu den Homosexuellen.
Lombroso, Cesare: L'amore nel suicidio e nel
delitto: Conferenze Torinesi Torino 1881.
„S. 34 f. Erwähnung der Homosexualität".
Löwenfeld, L.: Jahrbuch der gesamten Psycho-
therapie. Mit einer einleitenden Darstellung der
Hauptthatsachen der medizinischen Psychologie.) Wies-
baden 1897).
S. 241 hypnotische Behandlung der Homosexualität.
Martini, J.: Ein männlicher Zwitter als ver-
pflichtete Hebamme. Vierteljahrschrift für ge-
richtliche und öffentliche Medizin. Herausgegeben
von Casper. (Berlin 1861). Bd. 19, S. 303.
Moll: „Problem der Homose xuali t ä t Ä in Heft 2
der genannten Zeitschrift für Kriminalanthropologie,
Gefängniswissenschaft und Prostitutionswesen von
Wenge.
— 414 —
Quintessenz der in dem bekannten Werke von Moll:
„Die konträre Sexualempfindung* niedergelegten Haupt-
gedanken: Angaben über das von den Homosexuellen
bevorzugte Alter ihrer Geliebten. Das Vorkommen von
Zuständen blos vorübergehender Homosexualität in der
Pubertätszeit und in einem Stadium undifferenziertem
Geschlechtstriebes wird betont und ein scharfer Unter-
schied gemacht zwischen der wenn auch nur vorüber-
gehend unter gewissen Einflüssen auftretenden Homo-
sexualität und blossen gleichgeschlechtlichen ohne
psychische Zuneigung und nur zur Erzielung eines localen
Kitzels vorgenommenen Handlungen.
Erörterung der Entstehung der Homosexualität: Meist
angeboren, aber nur eine eingeborene Reaktionsfähigkeit
auf bestimmte Reize vorhanden, ebenso wie beim nor-
malen Trieb. Die Homosexualität ein Krankheitssympton,
auch wenn sonstige Krankheitserscheinungen nicht nach-
weisbar. Homosexualität kein Grund für die Annahme
von Unzurechnungsfähigkeit; die Aufhebung des § 175
dagegen dringend ratsam.
Besprechung des Verhältnisses der Homosexualität
zu den Degenerationszeichen, zum Pseudohermaphrodismus
und abnormen physischen Bildungen; Bemerkungen über
männliche Prostitution und die weibliche Homosexualität,
sowie zum Schluss über die therapeutische Behandlung
der Homosexualität^ insbesondere durch Hypnose.
Moraglia (Turin): „Neue Forschungen auf dem
Gebiete der weiblichen Criminalität, Pro-
stitution und Psychopathie" in Heft HI der
Zeitschrift für Criminalanthropologie etc. von Wenge
und zwar unter Abschnitt II des Aufsatzes: Er-
örterung über die weiblicheHomosexualität.
Scharfe Unterscheidung zwischen Tribadismus und
Sapphismus. Die Tribade: die geborene Konträre: Be-
friedigungsart nur durch gegenseitige vulväre Onanie,
— 415 —
muluelle Friktionen der Genitalien. Fähig tieferen Ge-
fühles und schwärmerischer Leidenschaft.
Die dem Sapphismus ergebene Frau, die Lesbierin:
von Natur nicht konträr, ohne horror viri. Ursache des
Sapphismus: unbefriedigte Sinnlichkeit, Unmöglichkeit der
Ausübimg des normalen Koitus aus sozialen Rück-
sichten etc. Befriedigungsart: nur Onanie per os. Die
Lesbierin nur auf grobsinnliche Wollust bedacht.
Anführung von Beispielen und Wiedergabe ausführ-
licher Briefe, von denen insbesondere diejenigen einer
Tribade wegen des Tones überschwenglischer Leidenschaft
typisch.
Die scharfe Klassifizierung des Verfassers dürfte
nicht richtig sein. Die Art der sinnlichen Befriedigimg
kann niemals ein sicheres Kriterium für das psychische
Empfinden und die Natur des Triebes abgeben. Auch
Moll kennt Moraglias scharfe Unterscheidung nicht.
MOFSelli: Prefazione all'opera le „amizie di
Collegio" del Obici e Marchesini (estratto
Roma 1898).
Näcke, Paul: Problemi nel carapo della funzione
sessuale normale: Archi vio delle psicopatie sessuali
1897 N. 19 u. 20.
Erörterung einer Reihe von Fragen über normalen
und anormalen Geschlechtstrieb. Das Problem der
Homosexualität und die Auffassung, wonach sie auf
die bilatente Anlage des Geschlechts zurückzuführen
ist, wird berührt; ferner wird die Wichtigkeit des
Studiums der vorübergehenden homosexuellen Neig-
ungen Normaler betont.
Neri, S. A.: Inversione e Perversione sessuale
complessa. Archivio delle psichopathie sessuali.
Obici e Marchesini: Le amizie di Collegio. Ref.
in Rivista quindicinale di psicologia 1898 pg. 139.
Penta, P.: L'origine e la patogenesi della in-
— 416 —
versione sessuale secondo Krafft-Ebing e
gli altri autori. Archivio delle psicopathie sessuali.
Ploss, Heinrich: Das Weib in der Natur undVölker-
künde. Herausg. von Dr. Bartels (Leipzig 1 884). II. Aufl.
Angaben über Homosexualität des Weibes, Er-
örterungen über Vergrösserung der Clitoris im Zu-
sammenhang mit der Ausübung der Tribadie. Mit-
teilungen über die grosse Verbreitung der Tribadie
im alten Rom und im Orient.
Polenda: Ernie ed anomalie sessuali. Archivio delle
psicopathie sessuali 1896 Nr. 6.
Bei sexueller Inversion fand Polenda öfters ein-
fache und doppelte Leistenbrüche. Er wagt nicht
eine Erklärung zu geben, glaubt aber, dass der Druck
des Bruches auf den Samenstrang nicht gleichgiltig
für den Samenstrang ist.
Raffalowich, Andre 1 : „Annales de l'unisexualit£".
(Storck u. Masson, Lyon-Paris 1897.)
Ein Versuch, denselben Gedanken, den dieses Jahr-
buch zu verwirklichen strebt, zur Ausführung zu bringen,
nämlich alljährlich ein lediglich der Homosexualität und
der Sammlung aller im Laufe des Jahres für sie bedeut-
samen Ereignisse gewidmetes Buch herauszugeben. Die
„Annalen" des Jahres 1897 haben leider bisher keine
Fortsetzung erhalten.
Sie bringen: eine Uebersicht und Kritik der im
Laufe des Jahres 1896 veröffentlichten wissenschaftlichen
und literarischen, die Homosexualität behandelnden oder
berührenden Werke. Dabei sind eine Menge der in
Raffalowichs Buch „Uranisme et Unisexualitä* und in
der deutschen Uebersetzung „Die Entwicklung der Homo-
sexualität **j (Berlin: Fischers Mediz. Buchhandlg. 1895)
*) Auch als Einleitung der aus Laupts Werk entnommenen
unter dem Titel : Der Roman eines Konträrsexuellen von Thal über-
setzten Biographie eines Trnings abgedruckt. (Verlag von S p o h r.)
(Siehe oben S. 415.)
— 417 —
näher entwickelten Gesichtspunkten eingeflochten. Die
Anerkennung eines geborenen Homosexuellen, wobei
dem Einfluss des Milieu für die Weiterentwickelung der
Homosexualität für viele Fälle grosse Bedeutung bei-
gelegt wird. Unterscheidung des gesunden und des
krankhaften sowie des lasterhaften Homosexuellen. Eine
scharfe Grenze zwischen Homo- und Heterosexualität
bestehe überhaupt nicht. Homo- und Heterosexuelle seien
in moralischer und strafrechtlicher Beziehung gleich zu
beurteilen. Für beide verlangt Raffalowich, namentlich
von religiösen Gesichtspunkten geleitet: Selbsterziehung
und Unterdrückung der Sinnlichkeit. Sodann Besprech-
ung: insbesondere der Werke von Ellis und Symonds:
„ Das konträre Geschlechtsgefühl*, von Laupts: „Perver-
sion et perversit£ sexuelle" sowie des Novellenbandes von
Eekhoud: „Le cycle patibulaire", dessen künstlerischen
Wert Raflalowich lobend anerkennt, dessen Tendenz er
aber von seinem streng-orthodoxen Standpunkt aus miss-
billigt.
Reuss, L.: La Prostitution au point de vue de
Phygifene et de l'administration en France
et ä i^tranger. (Paris 1889.)
S. 69 Angaben über gleichgeschlechtlichen Ver-
kehr bei prostituierten Frauen.
Rutgers : Ueber die Aetiologie des perversen
Geschlechtstriebes. Psychiatrische Bladen Deel
XII Aflevering 3. (Amsterdam van Rossen 1894.)
S. 183.
Sandras, C. M. S. : Traite pratique des maladies
nerveuses Tome second. (Paris 1851.)
S. 245 Erwähnung der Homosexualität,
von Schrenk-Notzing: „Homosexualität und Straf-
recht* in der wöchentlich erscheinenden „Umschau ■
Nr. 50 vom 10. Dezember 1898.
Gemeinverständlicher Aufsatz: Wiedergabe der be-
JahrbucU II. 27
— 418 —
kannten Associationstheorie über die „Entstehung der
Homosexualität/ Hervorhebung des Einflusses der jüd-
ischen Moral im Gegensatz zum griechischen Standpunkt.
Als bestes Mittel zur Verhütung der Entwicklung anor-
maler Triebe wird die soziale Hygiene, die zweckmässige
Aufklärung und Erziehung, Verhinderung von Ver-
brecherehen und Krankenfortpflanzung anempfohlen,
von Schrenk-Notzlng: Psychotherapie. In der Real-
Encyclopädie der gesamten Heilkunde von Eulenburg.
3. Aufl. 1898.
Schürmayer, J. H.: Lehrbuch der gerichtlichen
Medizin mit Berücksichtigung der neueren Gesetz-
gebungen des In-. und Auslandes. Für Aerzte und
Juristen bearbeitet. 3. Aufl. (Erlangen 1861.)
S. 365 f. Erörterung der sog. Päderastie und Sodomie
ohne tieferes Eingehen auf die psychische Seite.
Siemerling, E.: Sittlichkeitsverbrechen und
Geistesstörung im Medizinischen Korrespondenz«
blatt des Württembergischen ärztlichen Landesvereins.
5. Oktober 1895. Bd. 65. Nr. 31.
Die konträre Sexualempfindung wird als Teil-
erscheinung eines pathologischen Zustandes betrachtet^
die jedoch an und für sich nur selten die Zurech-
nung ausschliesse.
Sloli: Ueber perverse Sexualempfindung. AU-
gemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychische
gerichtliche Medizin. 50. Bd. Berlin 1894. S. 897.
Aehnliche Befürchtungen wie Lewin, dass die heutige
Auffassung der konträren Sexualempfindung zur
Monomanielehre zurückführe, hervorzuheben.
Strassmann, Fritz: Lehrbuch der gerichtlichen
Medizin (Stuttgart 1895).
S. 114—123 Erörterung der Homosexualität.
Toulouse, Edouard: L'inversion sexuelle eher
les aliln£s. Tribüne m£dicale 1893.
— 419 —
Vierordt, Hermann: Medicinisch es aus der Ge-
schichte. Tübingen 1896.
Angaben über historische Urninge. Anerkenntnis,
dass viele geistig hochstehende Männer homosexuell
waren.
Wachholz, Leo: Zur Kasuistik der sexuellen
Verirrungen. Friedreichs Blätter für gerichtliche
Medizin und Sanitätspolizei. 43. Jahrg. Nürnberg 1892.
S. 433 Mitteilung eines sehr interessanten Falles
fortgeschrittener Effemination, eines Mannes, der als
Weib auftrat und als solches sich geschlechtlich
Männern hingab.
Wetterstrand, Otto 6.: Der Hypnotismus und seine
Anwendung in der praktischen Medizin.
(Wien und Leipzig 1891.)
S. 52: über hypnotische Behandlung der Homo-
sexualität.
Wise-Wlllard, P. M.: Case of sexual perversion.
The Alienist and Neurologist, Jan. 1883.
Der Fall einer homosexuellen Frau, welche im
ganzen Lande als tüchtige Jägerin bekannt war und
eine Zeit lang mit einem andern Weib in den Wäldern
zusammenlebte.
Ziehen, Th.: Psychiatrie (Berlin 1894). Ein Lehrbuch.
S. 12 und 57 Erwähnung der Homosexualität.
Zuccarelli, Angelo: Inversione congenita delP
istinto sessuale in due donne. EstrattoNapoli 1888.
§ 2: Schriften der Nicht-Mediziner.
Adam, Paul: L'assant malicieux. Revue blanche
15. Mai 1895, geistreiche und mutige Verteidigung
von Oscar Wilde.
Anonym: Die Schule der Wonne, aus dem Fran-
zösischen. (Leipzig, Carl Minde.)
27*
— 420 —
Flugschrift aus der Zeit der Revolution, welche
die Straflosigkeit gleichgeschlechtlicher Liebe begehrt.
Anonym : Schouwtooneel: Aktenmässige Darstellung
einer Urningsverfolgung in den Niederlanden 1730.
Anonym: Denkschrift betreffend Aufhebung des
§ 175 (Berlin, Steinitz 1898): Bethätigung der
Konträr sexual -Empfindung.
Eine kleine Schrift (20 S.), welche die Ungerechtig-
keit der Bestrafung der Homosexualität betont und
energisch die Abschaffung des § 175 verlangt.
Appert, Benjamin Nicolas Marie: Die Geheim-
nisse des Verbrechens, des Verbrecher-
und Gefängnislebens (Leipzig 1851).
1. Th. S. 82: Angaben über gleichgeschlechtliche
Akte in Gefängnissen.
Arnold, Bernhard: Sappho: Sammlung gemein-
verständlicher wissenschaftlicher Vorträge, herausg.
von Virchow und Holzendorff (Berlin 1871).
Verfasser behauptet, dass es sich bei Sappho nur
um übertriebene Freundschaft, nicht um Weiberliebe
gehandelt habe.
Backofen, J. J. : Das Mutterrecht. Eine Unter-
suchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach
ihrer religiösen und rechtlichen Natur. 2. Aufl.
(Basel 1897.)
Längerer Abschnitt über die Liebe der Sappho
zu ihren Freundinnen, welche mit der Liebe des
Socrates zu Jünglingen verglichen wird. S. 337 — 341.
Bastian, Adolf: Zur Kenntnis Hawaiis. Nachträge
und Ergänzungen zu den Inselgruppen in Ozeanien.
(Berlin 1883.)
S. 35 wird berichtet, dass Päderastie in Hawai
vorkomme.
Beccaria: Verbrechen und Strafe. Juristisches und
kriminalpolitisches Werk.
— 421 —
S. 137 wird die Ursache des mannmännlicheD Ver-
kehrs in dem Weibermangel erblickt
Becker« Karl Friedrich: Weltgeschichte. (Heraus-
gegeben von Ad. Schmidt. Mit der Fortsetzung von
Eduard Arnd. III. Aufl. (Leipzig 1869).
Bd. XI: Angaben über die Zuneigung Jakobs I.
von England zu unwürdigen Lieblingen, die beim Volk
allgemeine Unzufriedenheit erregte.
Beyer, C: Ludwig II. König von Bayern. Ein
Charakterbild nach Mitteilungen hochstehender und
bekannter Persönlichkeiten und nach anderen authen-
tischen Quellen. (Leipzig.)
von Bismarck, Fürst Otto: Gedanken und Er-
innerungen. (Cotta'sche Buchhandlung Stuttg. 1898.)
Bd. I. Kapitel 1 S. 6: Erwähnung eines grossen
Päderastenprozesses und der gleichmachenden Wirk-
ung der mannmännlichen Liebe.
Bodemann, Eduard: Elisabeth Charlotte von der
Pfalz. Historisches Taschenbuch herausge-
geben von Maurenbrecher. 6. Folge. 11. Jahrg.:
Briefe der Elisabeth Charlotte an ihre Freundin
Kurfürstin Sophie von Hannover über die Homo-
sexualität ihres Gatten, des effeminierten Bruders
Ludwigs XIV., Philipp d'Orl^ans.
Bonnetain, Paul: Au Tonkin Charpentier Paris:
Sittenschilderungen. Verkehr der Europäer mit
den jungen Tonkinesen.
Carriere, Moritz: Liebig und Platen in Lebens-
bilder (Leipzig 1890).
Das Freundschaftsverhältnis zwischen beiden wird
insbesondere an der Hand von Briefen geschildert.
Dass es sich bei Platen um homosexuelle Liebe
handelte, wird von Carriere noch nicht deutlich er-
kannt.
Castilhon: Considtfrations sur les causes physiques et
— 422 —
morales de la diversite du genie des mocurs et du
gouvernement des nations. Bouillon 1759.
Erwähnung der Päderastie S. 90—92.
Cella: Ueber Verbrechen und Strafen in Un-
zuchtsfällen, juristisches Buch.
S. 66 wird die Ursache der Päderastie in der un-
begrenzten Geilheit, in dem durch übermässige
Sättigung entstandenen Ekel an dem Genuss natür-
licher Wollust gesehen.
Claepius, Ludovicus: Dissertationeula juridica de Crimine
Sodomiae oder »Von der Sodomiterey" Halae, Magde-
burg 1669.
Juristische Dissertation über die verschiedensten
Unzuchtakte, insbesondere über Päderastie.
Damian!, Peter: Liber Gomorrhianus.
Schrift eines Kirchenfürsten aus dem 11. Jahr-
hundert mit der Schilderung der Fleischessünden und
Ausschweifungen des Clerus.
von Dankelmann, E.: Päderastie. Aufsatz in der Zeit-
schrift die „Kritik* Nr. 136, Mai 1897.
Dodge, W.P.rPiersGaveston. (Fischer, London 1898.)
Eine historische Studie über Gaveston, den Ge-
liebten von Eduard IL (deren Verhältnis ein Drama
von Marlowe schildert).
Dubut de Laforest: Pathologie sociale (Paris 1897).
S. 493 Erwähnung der Homosexualität
Duttenhofer, F. M.: Die krankhaften Erscheinungen des
Seelenlebens für Aerzte, Psychologen, Naturforscher
und gebildete Laien. (Stuttgart 1890.)
S. 163 Erwähnung der Päderastie.
Ehlers, Martin: Betrachtungen über die Sittlich-
keit der Vergnügungen, 1 Tl. (Flensburg und
Leipzig.)
S. 198 Erwähnung der Faderastie.
— 423 —
Ehrenberg, Friedrich: Euphranor, Ueber die
Liebe. Ein Buch für die Freunde eines gebildeten
und glücklichen Lebens. 1 Th. 2. Aufl. (Elberfeld
und Leipzig 1809.)
S. 114 Ausführungen über gewisse Gefühle zwischen
Personen gleichen Geschlechts, die nur als homo-
sexuelle aufzufassen sind.
Ferrlani, Carl Lino: Minderjährige Verbrecher,
deutsch von Alfred Ruheroann. (Berlin 1896.)
S. 158 Angaben über mutuelle Masturbation und
päderastische Akte in Instituten.
Feuerbach, Anselm: Lehrbuch des gemeinen, in
Deutschland geltenden peinlichen Rechts
herausgegeben von Mittermaier. (Giesen 1847.)
In § 468 wird als Grund der Bestrafung der
Päderastie die dem Staate drohende Schädigung, und
die in Folge der körperlichen und geistigen Ent-
nervung des Thäters zu befürchtende Entvölkerung
angesehen.
Forbijjer, Albert: Hellas und Rom; populäre Dar-
stellung des öffentlichen und häuslichen Lebens der
Griechen und Römer. 2. Abth. 1. Bd. (Leipz. 1876.)
S. 283 Ausführungen über die Päderastie im
Altertum.
Fournier-Verneuil: (auteur de curiositl et indiscr&ion)
et Huron de Montrouge: „Tableau moral et
philosophique de Paris." (Paris 1826.)
Ein tendenziöses gegen die Jesuiten gerichtetes
Machwerk, welches in übertriebener, skandalsüchtiger
Weise die Sittenschilderung von Paris unter der
Restauration geben will. Zahlreiche Stellen über
homosexuellen Verkehr: über die Art und Weise
der Homosexuellen öffentlich Bekanntschaft zu
schliessen, über die Zusammenkunftsorte, die männ-
liche Prostitution u. s. w. so S. 153, 313, 332—338,
— 424 —
367, 397, 398. Besonders Adelige, höhere Beamte
und hohe Würdenträger werden unter den Homo*
sexuellen genannt.
von Franke, J. H.: „Die Männerliebe als ein Ele-
ment der sittlichen Entartung des Menschen-
geschlecht s. (Selbstverlag Zürich u. Säckingen.)
Friedländer, Ludwig: Darstellungen aus der
Sittengeschichte Roms in der Zeit von Au-
gustus bis zum Ausgang der Antonine. (6. A.
Leipzig 1890.)
Geiger, Ludwig: Renaissance und Humanismus
in Italien und Deutschland. (Berlin 1882.)
Geiger berichtet, dass Antonio Beccadelli aus
Palermo (f 1471) auch Panormitanus genannt, im
Hermaphroditus die unnatürlichen Laster geisselte.
Gibbon, Edward: History of the decline and fall
of the Roman empire.
Angaben über die Homosexualität der römischen
Kaiser.
Gre gor ovius, Ferdinand: Der Kaiser Hadrian: Ge-
mälde der römisch-hellenischen Welt zu seiner Zeit.
3. AufL (Stuttgart 1884.)
Grohmann: Grundriss des Kriminalrechts.
§§ 397, 398, 400. Die Bestimmungen über die
Bestrafung der Päderastie am Ende des 18. und
Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland.
Häberlin: Grundsätze des Kriminalrechts nach
den neuen deutschen Strafgesetzbüchern.
(Leipzig 1845.)
Bd. IL § 135. Angabe der strafrechtlichen Be-
stimmungen gegen Päderastie.
von Hammer-Purgstall, Joseph: Geschichte des
Osmanischen Reichs. (Pesth 1840.) 4. Bd.:
Erwähnt wird ein Befehl des Grossvezier bei Be-
ginn eines Feldzuges im Jahre 1771 alle „Lotter-
— 425 —
buben* aus dem Lager zu entfernen; der Befehl
wurde nicht befolgt.
Hancarville : Monuments priv£s de la vie des douze
Casars.
Heinse: Geheime Geschichte des römischen Hofes
unter der Regierung des Kaisers Nero. 2 Bde.
Rom 1783.
Hellmann, Roderich: Ueber Geschlechtsfreiheit:
Ein philosophischer Versuch zur Erhöhung
des menschlichen Glückes. (Berlin 1878.)
Ein eigentümliches in geschlechtlicher Beziehung
sehr frei denkendes Buch, das in einem der letzten
Kapitel auch Straflosigkeit des gleichgeschlechtlichen
Verkehrs verlangt, weil Niemand dadurch geschädigt
wird.
Hennequln, Victor: Sauvons le genre humain.
(Paris 1853.)
S. 112 flgd. Erwähnung der Päderastie.
von Herder, Johann Gottfried: Charikles oder
Bilder altgriechischer Sitte. (1890.)
2. Bd.: Besprechung der griechischen Knabenliebe.
Herzen, W.: Die konträre Sexualempfindung und
der § 175 des R.-St.-G.-B. in der „Neuen Zeit«.
Nr. 44. XVI. Jahrgang. II. Bd. 1897—1898.
Der Aufsatz billigt die Bestrebungen zu Gunsten
der Aufhebung des § 175 des St.-G.-B., dessen Be-
seitigung er ebenfalls verlangt.
Hug, Arnold: Ausgabe von Plato's Symposien.
Bemerkungen über die griechische Knabenliebe.
James, William: The priciples of psychologj.
(New-York 1890.) Vol II S. 438.
Heute sei die Homosexualität eine pathologische
Erscheinung, im Altertum habe es sich um eine an-
geborene Neigung gehandelt, die unter normalen
Verhältnissen nicht hervortrete. Der „Isolierungs-
— 426 —
trieb", d. h. das Streben, die körperliche Berührung
mit Personen gleichen Geschlechts zu vermeiden, sei
bei den Griechen in Folge von Gewohnheit und Bei-
spiel unterdrückt worden.
Jansen, Albert: Leben und Werke des Malers
Giovantonio Bazzi von Vercelli genannt il
Soddoma. (Stuttgart 1870.)
Angaben über die Homosexualität von Soddoma.
Jonas: § 175. In der Neuen Zeit. Nr. 6. Jahrg. XVII.
I. Bd. 1898,99.
Die Beseitigung des § 175 wird begehrt.
Jousse: Traitd de le justice criminelle en France
(Paris 1771.)
T. II S. 119: Angaben über die Bestrafung der
Päderastie (Lebendig Verbranntwerden) in Frank-
reich im 18. Jahrhundert
Kappler: Handbuch der Litteratur des Criminal-
rechts. (Stuttgart 1838.)
Die Bestimmungen und die Praxis bezüglich der
Päderastie am Ende des 18. und Anfang des 19.
Jahrhunderts werden angegeben.
Klenke, H.: System der organischen Psychologie.
(Leipzig 1842.)
Verfasser spricht statt von einer gleichgeschlecht-
lichen von einer pytagoräischen Liebe. Eine der
ersten ruhigeren wissenschaftlicheren Auffassungen
des Gegenstandes.
Klopp, Onno: Der König Friedrich II. von
Preussen und seine Politik. 2. Aufl. (Schaff-
hausen 1867.)
Verfasser nimmt die päderastischen Neigungen des
Königs an.
Komer: Entwurf eines Strafgesetzbuches für
Oesterreich. Motivierung der Abschaffung der
Bestrafung der gleichgeschlechtlichen Liebe.
— 427 —
Lamalresse: Le Kama Sontra.
Französische Uebersetzung des heiligen indischen
Liebescodex: häufige Erwähnung des gleichgeschlecht-
lichen Verkehrs.
Lammasch: In Zeitschrift für gesamte Strafrechtswissen-
schaft. Bd. XV. Heft 4 und 5.
S. 638. Verfasser befürchtet von der Straflosigkeit
des gleichgeschlechtlichen Verkehrs, Schädigung des
Staates und Zerrüttung der Ehe.
Lenz, Oskar: Timbuk tu: Reise durch Marokko, die
Sahara und den Sudan, ausgeführt im Auftrage der
afrikanischen Gesellschaft in Deutschland, in den
Jahren 1879 und 1880. I. Bd. (Leipzig 1884).
S. 367 Ueber die Sitten der Grossen in Marokko
verschnittene Negerbuben zum geschlechtlichen Ver-
kehr sich zu halten.
Leppmann: Bericht über den Lustmord in den
Mitteilungen der internationalen kriminalistischen
Vereinigung. Bd. V. Heft 3 1896. S. 505-507.
Leppmann betont, dass konträre Sexualempfindung
und sadistische Neigungen mit einander kombiniert,
selten beobachtet worden sind; er führt zwei Bei-
spiele von Lustmord an Knaben an.
Lessing, G. E.: Schriften. 3. T. Rettungen des
Horaz. (Berlin 1754.)
S. 42—57 über die Frage der Homosexualität
von Horaz.
V. Uszt, Franz: Lehrbuch des Strafrechts: (Berlin
Verlag Guttentag 1894.)
In S. 107 ist die historische Entwicklung der straf-
rechtlichen Bestimmungen gegen gleichgeschlechtlichen
Verkehr und der heutige Stand der Gesetzgebung
wiedergegeben. Verfasser ist im Prinzip für Straf-
losigkeit.
— 428 —
Hacö, 6.: Un joli monde. 1
Mon mus<*e animal. I (Paris 6d Charpentier.)
Mes lundis en prisonj
Angaben über die männliche Prostitution in Paris,
die Erpressung und den Verkehr der Homosexuellen
mit den gefährlichen „petits J&us", welche die
Urninge anlocken, um sie durch ältere Verbrecher
ausbeuten zu lassen.
Michelet, J.: Procfes des Templiers.
Zahlreiche Stellen über die gleichgeschlechtlichen
Handlungen der Templer, insbesondere Bd. I, S. 387,
Bd. IL, S. 223, 208.
Michelet, J.: Histoire de France (Paris Vasseur).
T. 14, 15, 16; 17.
Eine Reihe von Auslassungen über historische
Urninge und überhaupt über die Homosexualität 'zur
Zeit Ludwig XIV. und XV. und die Sitten der
jungen Höflinge, insbesondere über den Bruder
Ludwig XIV., Philipp d' Orleans. „Dieses ge-
schminkten, koketten Weibes, das bemalt und in
Weiberkleidern am Arm seines Geliebten, des Chevalier
de Lorraine auf den Ball ging.* (T. 15. p. 57 u. 137.)
Mlrabeau: Histoire secrfete delecourde Berlin ou
Correspondance d'un voyageur fran^ais depuis les 5
juillet 1786 jusqu'au 19 janvier 1787. Tome secoad
1789.
S. 98 und 131 über die Knabenliebe des Prinzen
Heinrich, des Bruders Friedrichs des Grossen.
Mlrabeau: Erotika Biblion. (2 <& Paris 1792. Chez
Le Jay, rue Xeuve-des-Petits Changes prfes celle de
Richelieu, an Grand Corneille Nr. 146.) (sehr selten!)
Eine unzüchtige, rein erotische Schrift mit ein-
gehenden Auslassungen über gleichgeschlechtlichen
Verkehr, namentlich S. 126.
— 429 —
Miratar, F.: Seminar-Geheimnisse: Kuriose Geschichten
aus einem Erziehungsinstitute für Studierende. (III.
Aufl. München 1896.)
Moldenhauer, Daniel: Prozess gegen den Orden
der Tempelherrn. Aus den Original- Akten der
päpstlichen Commission in Frankreich. (Hamb. 1732.)
de Montaigne, M i che 1: Essais: Sur l'amiti£. Bd. I,
Kap. 27.
Hat wohl nur die Freundschaft im Auge, spricht
aber von seinem Verhältniss zu La B^otie im Tone
- leidenschaftlicher Liebe.
Montesquieu: Esprit des lois.
Livre 12, Chap. 6, ferner Ii vre 4, Chap. 8: letztere
Stelle über den homosexuellen Verkehr der Thebaner.
Müller, Joseph: Ueber Gamophagie. Ein Versuch
zum weiteren Ausbau der Theorie der Befruchtung
und Vererbung. (Stuttgart 1892.)
S. 40 Erwähnung der Homosexualität.
Münter, G ustav Wilhelm: Geschichtliche Grund-
lage zur Geisteslehre des Menschen oder
die Lebensäusserungen des menschlichen
Geistes im gesunden und krankhaften Zu-
stand. (Halle 1850.)
S. 203 Erwähnung der Päderastie.
Muyart de Vouglans: Traite des lois criminelles
de la France. (Paris 1780.)
S. 243 Angaben über die Bestrafung der Päderastie
in Frankreich im Mittelalter und der Neuzeit bis zur
Zeit des Verfassers.
NeiSSer, Karl: Die Entstehung der Liebe. Zur
Geschichte der Seele. (Wien 1897.) S. 45.
Nelsser, Karl: Die arische Sexualreligion, als
Volksveredelung im Zeugen, Leben und
Sterben. Mit einem Anhang über Menschen-
— 430 —
Züchtung von Freiherrn Dr. Karl, Du PreL
(Leipzig 1897.) S. 294.
In beiden Werken Erörterung der Homosexualität.
Oelzelt-Newin, Anton: Ueber sittliche Disposi-
tionen. (Graz 1892.)
S. 66 Erwähnung der konträren Sexualempfindung.
Panizza, Oscar: Der teutsche Michel und der
römische Papst. Altes und Neues aus dem
Kampfe des Teutschtums gegen römisch-wälsche
Ueberlistung und Bevormundung in 666 Lesen und
Citaten. Mit einem Begleitwort von Michael Georg
Conrad. (Leipzig 1898.)
S. 260 Angaben über die Homosexualität des
Papstes Sixtus V.
Prantl, K.: Piatos Gastmahl und Phädrus.
Anmerkungen dazu mit Besprechung der griech-
ischen Knabenliebe.
PreilSS, Johann: Friedrich derGrosse. (Berlin 1832.)
Bd. I mit Erörterungen über die bezüglich der
angeblichen Homosexualität des Königs verbreiteten
Gerüchte.
Prudhomme, Louis Marie: Vergehungen der
Päpste vom heiligen Peter an bis auf Pius
den VI. (1793.)
S. 527 wird behauptet, dass Paulus II. der
Sodomie ergeben gewesen sei.
Prutz, Hans; Entwicklung uud Untergang des
Tempelherrnordens. (Berlin 1888.)
S. 152: genauere Angaben über die im Prozess
der Templer festgestellten gleichgeschlechtlichen
Handlungen.
Quistorp: Grundsätze des deutschen peinlichen
Rechts mit Anmerkungen von Klein (1812)*
Bd. II S. 496 flgd: Die Bestimmungen und die
Praxis bezüglich der Bestrafung der Päderastie im
18. Jahrhundert.
— 431 —
Raehilde: Question brillante: in der Revue blanche
vom 1. September 1876.
Sehr geistreicher, vernünftiger Artikel über die
Frage der völlig freien Liebesbethätigung.
Raffolovich, M. Andrer Gli studii sulle psicopat ie
sessuali in Inghilterra. Archivio delle psicopatie
sessuali, vol. 1, fasc. 13 e 14, 1 — 15. (Luglio 1896).
Ueber die Homosexualität in England,
de RÖgla, Paul: Les Bas-Fonds de Constantinople.
3. «d. (Paris 1893.)
S. 115 über gleichgeschlechtlichen Verkehr zwi-
schen Weibern in der Türkei.
Rettig, G. F.: Erläuterungen zuXenophons Gast-
mahl.
Angaben über die griechische Knabenliebe.
Rein, Kriminalrecht der Römer. (Leipzig 1844.)
S. 864 über die strafrechtliche Behandlung der
Päderastie bei den Römern.
Ribot, Th.: La psychologie des sentiments. (Paris
1896.) S. 253—256, und Les maladies de la
personnalit& (Paris 1885.)
S. 74 — 76 Erwähnung der contr. Sexualempfind.
Roscher: Grundzüge der Nationalökonomie.
S. 209: Die kretische Gütergemeinschaft soll sich
namentlich auf obrigkeitlich befohlene Päderastie ge-
stützt haben.
St ... r, Baron: Hof und Gesellschaft in deut-
schen Residenzen. (Berlin 1895.)
S. 292 flgd. Ueber die Beziehungen des ver-
storbenen Königs Karl von Württemberg zu seinen
amerikanischen Gesellschaftern.
V. Schettler, Ludwig: Michelangelo:*) Eine Renais-
sancestudie. (Altenburg 1892.)
*) Siehe oben den Aufsatz von Numa Praetorius S. 254.
— 132 —
Zum ersten Male eine annähernd richtige Auffassung
der wahren Natur der in den Gedichten Michel
Angelos ausgedrückten Gefühle:
Schmitz, Hermann Joseph: Die Bassbücher und
die Bussdisziplin der Kirche. Nach hand-
schriftlichen Quellen dargestellt (Mainz 1883.)
S. 249, 265, 275, 28 \ y 282, 299, 361, 407, 455 und
527 Erwähnung der Päderastie.
Schräder: Corpus juris civilis (Berlin 1832).
Bd. L S. 758: Bestrafung der Päderastie bei den
Römern im Falle von Verführung Minderjähriger.
Schultz, Alwin: Das höfische Leben zur Zeit der
Minnesänger. 1 Bd. (Leipzig 1889)
S. 585—587 ausführliche Angaben über gleich-
geschlechtlichen Verkehr zur Zeit der Minnesänger.
Scott, Colin A.: Sex and art, American journal of
psycology, Vol. 7. N. 1896.
S. 217 über den angeblichen Einfluss der Ein-
bildungskraft auf die Entstehung der Homosexualität.
Sueton: Duodecim vitae imperatorum.
Angaben insbesondere über Neros Homosexualität.
Surbled, Georges: La m orale dans ses rapports
avec la mldecine et Phygifene. Tome second:
La vie sexuelle. 3. £d. (Paris 1892.)
S. 64 flgd. Erwähnung der Homosexualität.
Stieber: Ueber die Berliner Prostitution.
(Berlin 1897.)
Ein Anhang handelt über die urnische Liebe.
Thompson, U. H. : Ausgabe von Piatos Plädrus.
Bemerkungen über die griechische Knabenliebe.
Tittmann: Handbuch der Strafrechtswissenschaft
der deutschen Strafgesetzkunde (Halle 1823)
Bd. II § 590. Angaben über die Bestrafung der
Päderastie. Ziemlich milde Auffassung Tittmanns:
Erziehung und Begünstigung der Ehe die besten
- 433 —
Mittel zur Verhütung der Päderastie. Es sei besser,
von der Handlung keine Kenntnis zu nehmen, als
durch die Untersuchung erst recht Aergernis zu
erregen.
Tourtual: Ein als Weib verehelich ter Androgynus
im kirchlichen Forum: Vierteljahrsschrift für
gerichtliche und öffentliche Medizin, Berlin 1856,
Bd. X, S. 18.
Valmaggi, L.: Virgilio anomale? Rivisti di Filo-
logia e d'fstruzione classica (Torino 1890).
Vehse, Eduard: Geschichte der deutschen Höfe
seit der Reformation, 26. Bd., (Hamburg 1853).
Angaben über Friedrich I., König von Württem-
berg, über einen Minister Augusts III., Königs von
Polen, Graf v. Brühl, über Prinz Eugen, und deren
Verkehr mit jungen Männern, der die Homosexualität
dieser Personen wahrscheinlich macht.
Voltaire: Dictionnaire philosophique: Amour
socratique.
Für die damalige Zeit ziemlich duldsame Auf-
fassung.
Wasserschieben, F.W. H.: Die Bussordnungen der
abendländischen Kirchen nebst einer rechts-
geschichtlichen Einleitung (Halle 1851).
S. 101, 107, 158, 171, 181, 185 etc. Erwähnung
der Päderastie.
von Wächter, Karl Georg: Abhandlungen aus dem
Strafrecht. (Leipzig 1835.)
S. 170 flgd. Eingehende Erörterung über die ge-
schichtliche Entwicklung der strafrechtlichen Be-
stimmungen gegen den gleichgeschlechtlichen Ver-
kehr bei den Römern, im Mittelalter und der Neuzeit,
insbesondere unter Berücksichtigung der Gesetzgebung
Sachsens, (S. 159 flgd.)
Jahrbuch II. 28
— 434 —
Weber, Carl Julius: DieMöncherey (Stuttgart 1820
Bd. IH 1 S. 314.
Mitteilungen über das Klosterleben am Ende des
18. Jahrhunderts. Das von den Mönchen beliebte
Spiel des „Hochzeitshaltens" mit den als Singknaben
angestellten Jungen wird erwähnt Verfasser spricht
ferner von den Faunenblicken, welche die Mönche
auf schöne Jünglinge warfen and dass sie sie küssten,
wie Jupiter den Ganymed und Socrates den Alci-
biades geküsst haben soll.
Weber, Carl Julius: Das Papsttum und die Päpste
(Stuttgart 1839) Bd. I S. 348.
Verfasser giebt dem Cölibatsgesetz Hildebrands
die Hauptschuld an der grossen Verbreitung des
gleichgeschlechtlichen Verkehrs im Clerus. Die
Effeminatio des Papstes Paulus IL wird erwähnt.
Welcker, Friedrich Gottlieb: Sappho von einem
herrschenden Vorurteil befreit (Göttingen
1816).
Bekämpfung der Annahme der homosexuellen Liebe
der Sappho.
Wiedemeister: Der Cäsarenwahnsinn der Julisch-
Claudichen Imperatorenfamilie (Hannover
1875).
v. Wollzogen, Freiherr Ludwig: Memoiren aus
dessen Nachlass, mitgeteilt von Alfred Freiherrn von
Wollzogen (Leipzig 1851).
S. 31 flgd. Angaben über die Günstlingswirtschaft
beim König Friedrich I. von Württemberg, ins-
besondere auch über dessen Liebling Graf Dillen.
v. Zimmermann, Bitter: Fragmente über Friedrich
den Grossen. Zur Geschichte seines Lebens, seiner
Regierung und seines Charakters. 1 . Bd. (Leipzig 1790).
S. 70 — 100 Verteidigung des Königs gegen den
angeblichen Yerwurf des gleichgeschlechtlichen Ver-
— 435 —
kehre: Behauptung der Unfähigkeit des Königs zum
Beischlaf in Folge einer chirurgischen Operation.
Friedrich habe die Neigung für das männliche Ge-
schlecht simuliert, um keinen Verdacht auf deinen
körperlichen Fehler zu lenken!
Zicino, G.: Shakespeare un psicopata sessuale?
Archivio di psicopatia sessuali (Roma. Napoli
November 1896).
Zyro, Ferdinand Friedrich: Wissenschaftlich-
praktische Beurteilung des Selbstmordes.
(Bern 1837).
Erwähnung der Erzählung von Pouqueville aus
dem Jahre 1805, wonach die lesbische Liebe im
Harem verbreitet war.
Kapitel 2: Belletristisches.
Anonym: Getroffene Bilder aus dem Leben vor-
nehmer Knabenschänder. (Merseburg, Friedrich
Weidmann, 1833.)
Anonym: Distraction de l'lquipage (rein porno-
graphisch.)
Anonym, Tim (aus dem Englischen übersetzt; Engelhorns
allgemeine Romanbibliothek. 11. Jahrgang. 19. Bd.
Stuttgart 1895.)
Die schlichte, aber psychologisch äusserst feine und
im guten Sinne rührende Erzählung der leidenschaft-
lichen Zuneigung eines Knaben, Tim, zu seinem
Jugendfreund Carol. Tim geht in seiner grenzen-
losen Liebe soweit, dass er Bruch der Freundschaft
und Gleichgiltigkeit erheuchelt, um nicht das Ver-
hältnis von Carol zu dessen eifersüchtigen Braut zu
— 436 —
trüben. An dieser Aufopferung und Selbsverleugnung
siecht dann aber Tim langsam dahin.
Obgleich völlig rein und ideal gehalten, tritt doch
der homosexuelle Charakter der geschilderten Ge-
fühle deutlich hervor,
de Balzac, Honorl: Scfenes de la Vie Parisienne:
. Splendeurs et misferes des courtisanes La
dernifere incarnation de Vautrin.
Die homosexuelle Leidenschaft des grossartigen
Verbrecherhelden Vautrin zu dem schönen Rubenprö
und zu einem jungen Verbrecher Theodore Calvi.
de Balzac, Honorar Sarrazine:
Ein junger Maler verliebt sich in einen als Weib
gekleideten Castraten des sixtinischen Chores und
wird im Augenblick, wo er das wahre Geschlecht
des Sängers entdeckt, von gedungenen Söldnern des
Geliebten des Castrates, eines Cardinais, erstochen,
B6ranger, Chansons: Oeuvres complfetes. T V Supple-
ment (Paris 1834) Pg. 49. U Hermaphrodite:
Spottgedicht über einen Androgenen.
Bourget, Paul: Un crime d'amour. (Paris Lemerre.)
Einige Seiten in den ersten Kapiteln über die
Knabenliebschaften in den französischen Lyceen.
Cladel, L6on: La FSte Votive. (Paris Lemerre.)
Pg. 48 flgd.
Cladel, L£on: Ompdrailles.
Einige Stellen sehr zärtlicher Freundschaft.
Cladel, L£on: Les Vas-Nu-Pieds (Paris Charpentier) :
Le Nomm£ Quouael: S. 70, 71: Gefängnissitten.
Corbiöre, Tristan: Les amours jaunes (Paris Vannier.)
Le Renegat S. 234: Der Renegat ist ein Ma-
trose, der sich zu jeder Art Liebe hingegeben hat.
Delacour, Albert: Le Roy (Ed. Mercure de France
1898): Roman. Zuerst in der Zeitschrift Mercure de
France selber veröffentlicht
— 437 —
Einige Stellen homosexuellen Inhalts: Plötzliche
Leidenschaft des Prinzen d'Armorique zu dem Helden
des Romans, dem Kraft und Naturmenschen, Louis
Henri de Bourbon. Versuch des Prinzen den Louis-
Henri zu verführen, wobei letzterer den Prinzen
tötet, aber mehr deshalb, weil sein Wille sich da-
gegen aufbäumt^ dass ein Anderer seinen Willen
ihm aufzudrängen wagt, als aus sittlichem Abscheu.
Descaves Lucien: Sous-Off. (Stock., Paris 1889).
Militärroman.
S. 419 Erwähnung eines Zusammenkunftortes von
Homosexuellen, der Wirtschaft , Aux amis des soldats",
wo der Adjudant Laprevotte verkehrt, der „auch so
ist". Diese Stelle soll im Sinne des Verfassers den
Gipfel der Fäulnis des Unteroffizierkorps darstellen.
Eekhoud, Georges 41 ): La nouvelle Carthage
(Bruxelles Lacomblez 1893).
(Die Kapitel le Moulin de pierre; les Runners;
Contumace; Cartoucherie.)
Eekhoud, Georges: Mes communions (Paris Mercure
de France 1897).
Besonders die Novellen : Une partie sur l'eau, Apoll
et Brouscard; Une mauvaise rencontre, le sublime
escarpe.
Eekhoud, Georges: Tremeloo: Conte (Mercure de
France Aoüt 1897.)
Friedrich der Grosse: Oeuvres posthumes de
Fr£d£ric le Grand, roi de Prusse. Tome 4. (1788).
Das Gedicht „Le Palladion" spricht in scherz-
hafter Weise über die Päderastie. (S. 91—93.)
Auch das Gedicht: „La Palinodie k Darget*
atmet einen ähnlichen Geist in seinen offenen Aus-
lassungen über päderastische Beziehungen zwischen
Jesuiten und jungen Mönchen.
*) Siehe oben den Absatz von Numa Prätorius über Eekhoud.
— 438 —
Gide, Andr£: Les nourritures terrestres (Ed Mer-
cure de France).
T. 62, 63, 91, 120, 121, 124, 12 «, 153, 181 und
andere zahlreiche Stellen voll lyrischen Enthusiasmus
für schöne Burschen und ländliche Arbeiter.
de Gourmont, Remy: Les chevaux de Diom&de.
(Ed Mercure de France) Roman.
Ein Passus, wo von der sehr einigen und ziemlich
mächtigen Secte der Homosexuellen und ihren Er-
kennungszeichen gesprochen wird.
de Goucourt, Edouard: La Faustin (Paris Charpentier
1882). Roman.
Der englische Lord Sedwyll (gegen Schluss des
Romans) ist offenbar als Homosexueller gezeichnet.
Huysmans, J. K.: A Rebours (Paris: Charpentier 1884).
Roman Kap. IX am Schluss S. 145—147.
Die zufällige Bekanntschaft des Helden, des Es-
seintes, des Neuropathen und Decadenten, mit einem
jungen Mann, mit dem er ein monatelang dauerndes
Liebesverhältnis anknüpft, das ihn, wie kein anderes
früheres, vollauf befriedigt und auch später noch mit
Sehnsucht erfüllt Die Stelle ist in der deutschen
Uebersetzung weggelassen.
Huysmans, J. K: La- Bas (Tresse et Stock Paris 1891)
Roman mit der Erzählung über den Marchai
Gilles de Rays, das Scheusal aus dem 15. Jahr-
hundert, der zur Befriedigung seines sadistischen
Mord- und Geschlechtstriebes hunderte von Knaben
tötete, bis er schliesslich zur Strafe verbrannt wurde.
Huysmans, J. K.: La Bi&vre et Saint-Slverin (Paris
Stock 1898).
S. 164. Bei der Beschreibung einer Verbrecher-
spelunke des alten Pariser Quartiers St. Severin
nennt Hysmans als ständigen Besucher der Spelunke
;«~or en Burschen ,die schöne Clara" mit einem
— 439 —
Engelskopf ä la Boticelli, langem Haar und auffallend
klaren Augen, der, erst 20 Jahre alt, schon 6 Ver-
urteilungen wegen Sittlichkeitsvergehen aufzuweisen
hat.
Japanische Litteratur.
1. M. Sasanoya: „Nanskoku (Päderastie). Tokio
1893/94. Veröffentlicht in der illustrierten Monats-
schrift „Fuzoku-Gaho* (Japanisches Leben) Nr. 58,
59, 60, 62 und 66.
Eine vollständige Geschichte der Päderastie in
Japan von den ältesten Zeiten bis zur Einführung
westlicher Kultur.
2. Ohaski Shiutaro: „Nanskoku Okagami" (Päderast-
ische Geschichten) in „Seikaku Zensku" (erotische
Essays). Tokio 1894. 2 Bde. Eine Sammlung zum
Teil sehr freier Novellen in acht Büchern.
3. Nobutoki Kitamwra: „Kiju-shoran" (Japan-
ische Sitten und Gebräuche.)
4. a) „Mokudru Monoyatani:" eine klassisch schöne
Novelle auf diesem Gebiet.
b) Shidzu-no-Odomaki.
c) Tsune-Asure-gusa.
Drei Novellen.
5. „Seikaku Nanskoku Mokuroku" f = Katalog päder-
astischer Litteratur, erschienen gegen 1830; zählt 177
Nummern zumeist obscöner Schriften auf.
Keine der Schriften ist bis heute in einer fremden
Sprache erschienen. Nr. 1 wird demnächst in deut-
scher Sprache veröffentlicht werden.
6. In englischen und japanischen Zeitungen der
letzten Jahre finden sich verschiedentlich längere
Angaben über die Verbreitung der Homosexualität
in Japan, so in
„The Japan daily Mail vom 2. September 1896."
„The Eastern World vom 19. Februar 1998."
— 440 —
„Yominsi Shimbun vom 13. Juli 1898."
„The Eastern World vom 20. Mai 1899."
„The Eastern World vom 27. Mai 1899."
Jarry, Alfred: Les jourset les nuits, roman d'un
d&erteur. (Ed. Mercure de France) P. 177. (heure
militaire.)
Eine seltsame Szene von sexueller Gewaltthat eines
Soldaten gegenüber einem andern.
Karadek, Jan.: „Sodoma" (Prag, Selbstverlag).
Roman in czechischer Sprache mit viel Talent und
Phantasie, homosexuelle Empfindungen schildernd.
Lebacq, Georges: Nuits subversives (Bruxelles,
Janssens).
Ein etwas zerfahrenes und naives Buch eines noch
sehr jungen Mannes; eine homosexuelle Liebe bildet
das Hauptinteresse des Werkes.
Loti, Pierre: Le Roman d'un Spahi (Calman-Levy
Paris 1886).
Chap. 20, P. 77: Freundschaft zwischen Johann
und dem Offizier: Andeutung homosexuellen Inhalts.
Chap. 21, P. 80: Beschreibung einer Kneipe im
Senegal, wo auch Lustknaben erwähnt werden.
Loti, Pierre: Le Mariage de Loti (Calman-Levy.
Paris 1880>
P. 246, Chap. 22 Ende: Das Verweilen Tehuros
bei dem fiebernden Loti: Ein homosexueller Inhalt
der Stelle nur zwischen der Zeile zu lesen, aber
zweifellos ein solcher gemeint.
Martens, Kurt: Roman aus der Dlcadence (Fon-
tane, Berlin 1898).
S. 159 flgd.: Eine ganze Entwicklungsgeschichte
des Geschlechtstriebes, wie er, zuerst auf die Alumnat-
genossen gerichtet, doch schliesslich die normale
Bahn findet. Vorzügliche Schilderung, namentlich
der Knabenliebschaften.
Mendts, Catulle: Lesbia (Charpentier, Paris 1896).
Ein Band seichter oft lüsterner und obscöner Er-
zählungen. Eine „Idylle d'automne": behandelt
die „Idylle" zwischen zwei Weibern.
Mötenier, Oscar: La chair (Kistemaecker Bruxelles).
Eine Novelle dieses Buches berichtet über das
Abenteuer eines homosexuellen vornehmen Dichters,
der seinen Geliebten, einen schönen Athleten, Ver-
stössen hatte und von diesem in eine Falle gelockt wird.
Michelangelo, Buanorotti: Sonette*) (deutsch zuletzt
von Carl Frey, Stuttgart 1897).
Hirbeau, Octave: Slbastien Rock (Charpentier Paris)
Roman.
Einige Kapitel über die gleichgeschlechtlichen
Handlungen in einer Jesuitenschule, die zeigen wollen,
wie die Schüler durch einen der Jesuitenväter ver-
führt werden. Der gehässige Antiklerikalismus des
Verfassers macht ihn ungerecht in seiner Beurteilung
der Homosexualität als solchen.
Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psycho-
logischer Roman. 2 T. (Berlin 1786.) S. 45.
de Nerval, G6rard: Voyage en Orient Reiseerinner-
ungen. (Charpentier Paris 1851.) Bd. I Ch. VI S. 5.
Jdylle«:
Der Schiffskapitän glaubt, Nerval habe einem
hübschen Schiffsjungen einen Kosenamen zurufen
wollen und schlägt ihm vor, denselben gegen die
Sklavin Nervals umzutauschen, indem er die Vor-
züge des Jungen anpreist.
O'Monroy, Richard: Souvent homme varie. In der
Skizze: Comment cela commence.
S. 119 Verleitung einer Frau durch eine Pro-
stituierte zu gleichgeschlechtlichem Verkehr.
*) Siehe oben S. 254 den Aufsatz von Numa Praetoritw über
Michelangelo,
— 442 —
Piepron, Sander: Pages de Charite\ (Lacomblez
Bruxelles.) Le 8 e Sacrement.
Sehr rührende Geschichte der gegenseitigen Liebe
zweier Künstler zu einander, welche an derartige
Liebesbündnisse in Griechenland erinnert.
Piron, Alexis: Polsies badines. (18. Jahrh.)
In der Ode ä Priape (8. Strophe) wird in der
diesem Dichter öfters gewohnten, etwas unzüchtigen
Manier Socrates als- leidenschaftlicher Päderast ge-
schildert
Reuter, Gabriele: Aus guter Familie. Leidensge-
schichte eines jungen Mädchens. 5. Aufl. (Berlin 1897.)
S. 41 flgd. werden homosexuelle Empfindungen
eines Mädchens geschildert.
de Röpnier, Henry: Souvenirs sur Oscar Wilde:
Revue Blanche 15 D^cembre 2895.
Restif de la Bre tonne: Les nuits de Paris. (Londres
1788.) T. II troisifeme partie. S. 781.
Die Ursache der Verbreitung des gleichgeschlechtr
liehen Verkehrs im Altertum sieht Restif in der zu
geringen Differenzierung der damaligen Kleidung
beider Geschlechter.
Rimbaud, Jean Arthur: Oeuvres (Mercure de France)
Delires; Vierge folle; L'e*poux infernal
S. 231 flgd. Ziemlich ausführliche Anspielungen
auf das Verhältnis zwischen Rimbaud und Verlaine.
Rouart, Eugene: La Villa sans maitre (ed Mercure
de France).
Hübscher Roman mit anmutigen Stellen über
Umingsliebe in der Art Virgils und der antiqen
Egloge.
Saint-Simon (duc de): M£moires.
Eine Anzahl interessanter Stellen über die Sitten
des effeminirten Bruders Ludwig XIV., des „ehevalier
de Lorraine u und des duc de Vendöme.
— 443 —
Scheerbart,Paul: Tarub, Bagdads berühmte Köchin.
Arabischer Kulturroman. (Berlin Storm 1897.)
Die Schilderung des Jünglingsfestes in dem unter-
irdischen Mondtempel. Ein ganz grandioses Gemälde
perverser Geschlechts- und Mordlust bei hoch ent-
wickelten Individuen auf einer hervorragenden
Kulturstufe.
Scheerbart, Paul: Ich liebe dich! Ein Eisenbahn-
roman mit 66 Intermezzos (Berlin Schuster und
Löffler 1897).
Speziell S. 184 flgd. die Geschichte der drei
Freunde. -Himmlische Ehe nebst der zugehörigen
Hede.
Scheerbart, Paul: Der Tod der Barmekiden: Ein
arabischer Haremsroman (Leipzig Spohr 1897.)
Das Kapitel: Die Herrn Söhne.
Smolett: Roderik Random (Leipzig Tauchnitz). Kap.
25 und 51.
Zwei sehr realistische Kapitel über einen homo-
sexuellen Lord und über das Liebesverhältnis eines
Schiffskapitän zu seinem Arzte.
Schwinburne, Algernon Charles: Poems and Ballads
(First Series).
Hermaphroditus: ein durch den Hermaphroditen
des Louvre eingegebenes, sehr schönes Gedicht.
Erotion noch deutlicheres und leidenschaftlicheres
homosexuelles Gedicht.
Strlndberg, August: Die Beichte eines Thoren.
Roman. (Berlin 1893.)
In der zweiten Hälfte des Romans zahlreiche Stellen
über die homosexuelle Leidenschaft der Frau des Helden.
Taillade, Laurent: Au pays du mufle. Chronique
de mois. Revue indlpendante Avril 1885.
Einzelheiten über urnische Skandale in Paris.
Satirische, teilweise sehr boshafte Verse.
— 444 —
Taylor, Georg: Antinous, historischer Roman aus der
römischen Kaiserzeit (Leipzig, Hirzel 1836).
Darstellung des Verhältnisses zwischen Hadrian
und Antinous. Antinous ist als der normalfühlende
Jüngling geschildert, der Hadrian nur als Freund
lieben kann, der aber in seiner Anhänglichkeit zum
Kaiser sogar freiwillig stirbt, um — einem vermeint-
lichen Orakel gemäss — das Leben Hadrians zu
verlängern.
Das sinnliche Verhältnis zwischen dem Caesar und
seinem Lustknaben wird nicht geleugnet trotz des
poetischen Schleiers, mit dem es bedeckt wird. Hadrian
ist der virile Konträrsexuale, der tiefe und wahre
Liebe zu seinem Liebling empfindet. Z. vgl. nament-
lich S. 42, 186, 187, 251.
Tennyson, Lord Alfred: In Memoriam. Eine Ge-
dichtsammlung.
Fast ausschliesslich Klagelieder über den Tod eines
geliebten Freundes. Tennyson mag beabsichtigt
haben, lediglich Freundschaft zum Ausdruck zu
bringen, thatsächlich hat er aber Töne echter Liebe
angeschlagen mit teilweise deutlich fühlbarer sinn-
licher Färbung.
Tolstoi, Graf Leo: Anna Karenina. Roman.
Bd. II, Kap. 7: Skizzierung des Verhältnisses
zweier homosexueller Offiziere.
de la Vaudere, Jane: Les Demi-Sexes.
Schilderung von Weibern, die sich kastrieren
lassen, um der Schwängerung zu entgehen. Beiläufige
Schilderung homosexueller Leidenschaften.
Whitmann, Walt: Leaves of Grass, namentlich der
Abschnitt „Calamus*, ferner „Drum-Taps M .
Verherrlichung von Freundschaften, „bei welchen
körperliche Berührung und eine Art stillschweigend
wollüstiger Stimmung wesentliche Elemente sind."(Ellis.)
— 445 —
Wedekind, Frank: Frühlingserwachen. Eine Kinder-
tragödie (Zürich, Schmidt 1894). III. Akt VI. Szene:
Häuschen Ribow und Ernst Röbel im Weinberg.
Wiese: Die Freunde. Drama mit homosexuellen An-
deutungen.
Zola, Emile: La Cure' e Roman (Charpentier, Paris 1893).
Eine Nebenperson, Baptist, der Diener, wird als
homosexuell skizziert. Pg. 40 wird von „seinem
kalten Blick, den auch der Anblick schöner Weiber-
schultern nicht erwärmt und seinem Eunuchen-
aussehen" gesprochen und am Schlüsse pg. 376 wird
erzählt, dass er wegen seiner Leidenschaft zu hüb-
schen Dienern fortgejagt wurde.
Zola, Emile: Nana. Roman (Charpentier, Paris 1880.
Das geschlechtliche Verhältnis von Nana zu ihrer
Geliebten, Satin, wird erwähnt.
Zeitungsmitteilungen.
Bemerkung des Herausgebers.
Die folgenden Notizen sind eine Auslese aus uns
übersandten Zeitungsausschnitten. Wir sind den Ueber-
sendern, welche sie dem Jahrbuch zur Verfügung stellten,
dankbar und bitten um weitere Zuweisungen. Es empfiehlt
sich, möglichst die ganze Zeitung mit angestrichener
Stelle zu schicken oder dem Ausschnitt die Quelle sowie
die Zeit des Erscheinens anzuführen. Wir geben die
Notizen in bunter Reihenfolge ohne Commentar wieder,
bemerken nur, dass die meisten aus den beiden letzten,
einige aus früheren Jahren stammen.
Der Baron in Weib er kl eidern. Wie ans aas Ziegenhals
gemeldet wird, wurde daselbst Dienstag den lö. Juni Mittags auf
dem Bahnhofe eine Persönlichkeit verhaftet, die durch länger als
ein Jahrzehnt mit ganz kurzen Unterbrechungen in Gräfenberg und
Freiwaldau domiziliert, sich dann hierher nach Ziegenhals begeben
hatte: Baron Chambrier, geboren 1849 zu NeufcbateL Der Mann
war in Freiwaldau wegen seiner absonderlichen Kleidung bekannt;
zu Hause trug er eine Art weiblicher Gewandung. Kleider und
Parfüm kosteten dem Manne viel Geld; der grösste Teil seiner
nicht unbeträchtlichen Rente wurde auf Kostüme und Parfüms ver-
ausgabt Die Familie Chambrier ist mit einzelnen Mitgliedern des
französischen Hochadels verwandt. Friedrich Wilhelm Freiherr v.
Chambrier wurde über Requisition der Staatsanwaltschaft in Dresden
wegen eines Sittlichkeitsdelikts verfolgt und verhaftet Es scheint
hier ein Fall vorzuliegen, den schon Krafft-Ebing in seinem Werke
erwähnt
— 447 —
WegenErpressungistein Kellner N. festgenommen worden
Dieser gehört zu jenen gefährlichen Subjekten, die sich namentlich
im Tiergarten an Herren herandrängen, um ihnen dann Geld abzu-
pressen. Zur Kenntnis der Kriminalpolizei war die That des Kellners
durch seine Unterhaltung in einem Verbrecherlokal gekommen, wo-
bei N. sich damit gebrüstet hatte, dass er Nachts vorher eine „grosse
Erbschaft" gemacht habe. Ein Freund von ihm sei mit einem
Herrn, der als Amerikaner bezeichnet wurde, in den Tiergarten ge-
gangen; er selbst (N.) sei hinzugekommen, habe sich als Polizei-
beamter ausgegeben und mit Verhaftung gedroht. Der Amerikaner
habe sich mit 500 Mk. loskaufen wollen, damit sei er und sein
Freund nicht zufrieden gewesen und der Fremde habe mehr zahlen
müssen. Bei der Festnahme hatte N. eine Medaille, die der Er-
kennungsmedaille der Kriminalbeamten gleicht. Das Opfer der
Erpressung soll ein Herr aus Warschau sein, der in einem ersten
Gasthofe gewohnt, Berlin aber wieder verlassen hat. N. hat bei
der Vernehmung angegeben, der Fremde habe ihm freiwillig
400 Mk. geschenkt; unter dem Gelde sollen sich englische und
russische Münzen befunden haben. Auch seine Ringe habe der
Fremde einliefern müssen.
Alienstein. In dem hiesigen Material- und Kolonialwaren-
Versandtgeschäft des Herrn B. war eine Buchhalterin beschäftigt,
deren ausser ge wohnlich hübsches Mädchen- Antlitz Aufsehen
und Bewunderung erregte, deren übriges Wesen und Auftreten
jedoch wie auch die Haarfrisur einen Mann verriet. Zweifel an
ihrer „holden Weiblichkeit" hegte auch ein hiesiger Arzt, der bei
Gelegenheit einer Erkrankung der Buchhalterin au das Krankenbett
gerufen wurde und sie in dem mit Zigarettenrauch gefüllten Zimmer
im Bett liegend und Zigaretten rauchend fand. Eine körperliche
Untersuchung fand jedoch nicht statt. Nach ungefähr sechswöchiger
Thätigkeit hierselbst veriiess das „Fräulein Luise Schwarz", unter
welchem Namen sie hier geführt wurde, unsere Stadt, um ander-
weit in Stellung zu treten. So engagierte sie auch Herr Kaufmann
L. in Osterode für sein Manufakturgeschäft. Als eines Tages das
Fräulein nicht zur rechten Zeit im Geschäft erschien, begab sich
Herr L. nach deren Zimmer, doch was er hier sah, machte ihn starr
und stumm; denn vor ihm stand seine „Buchhalterin" fix und fertig
im Gehrook und Zylinder, den Chef mit den Worten begrüssend:
„Von heute ab bin ich wieder junger Herr". Wie später bekannt
wurde, soll der junge Herr eine Wette eingegangen sein, nach
— 448 —
welcher er durch eine bestimmte Zeit unbehelligt als „Fräulein"
sein Brot verdienen sollte. In diesen Tagen war die Zeit um und
die Wette gewonnen. („Ges. u )
Ein trübes Sittenbild entrollte sieb gestern in einer Ver-
handlung vor der vierten Strafkammer des Landgerichts I. Wegen
Vergehens gegen § 175 des Str.-G.-B. hatten sich der Kellner Krönert
Junge und Jeske, sowie ein Schauspieler zu verantworten. Krönert
hatte am Waterloo-Ufer 16 eine Wohnung gemietet, die er zum
Tummelplätze der Unsittlichkeit machte und sie jenen Männern zur
Verfügung stellte, die von gewissen widernatürlichen Neigungen
beherrscht werden. Mit den Gästen, die dort zu verkehren pflegten,
kamen auch wiederholt Kürassiere aus der nahen Kaserne des Garde-
KürasieiregimeiitB. Einer von ihnen, der gestern als Zeuge ver-
nommen wurde, ist wegen seiner Teilnahme an jenen sittenlosen
Zusammenkünften in der Krönert'schen Wohnung vom Militärgericht
zur Ausstossung aus dem Soldatenstande und 3 Jahren Gefängnis
verurteilt worden, die er zur Zeit in Kottbus verbüsst Ein anderer
Kürassier ist aus gleichem Grunde in die Arbeiter- Abteilung nach
Magdeburg versetzt worden. Die Verhandlung fand unter Aus-
schluss der Oeffentlichkeit statt Der Geiichtshof verurteilte Krönert
zu 1 Jahr 6 Monaten, Junge zu 6 Monaten, Jeske zu 9 Monaten
Gefängnis. Der Schauspieler wurde freigesprochen, weil der als
Zeuge auftretende Kürassier eine frühere, diesen Angeklagten be-
lastende Aussage widerrief.
Unter Ausschluss der Oeffentlichkeit wurde gestern
vor dem Schöffengericht gegen den Hauptmann a. D. v. Tz. eine
Anklage wegen Beleidigung verhandelt. Als einziger Belastungs-
zeuge warder 16jährige Barbierlehrling Meier gegen ihn aufgetreten,
welcher, bekundet hatte, dass der Angeklagte ihn zweimal in un-
anständigem Weise angefasst habe, während er damit beschäftigt
gewesen sei, ihn in seiner Wohnung zu rasieren. Der Gerichtshof
sprach den Angeklagten frei. Der Vorsitzende führte aus, dass der
Vortrag des Zeugen den Eindruck des Auswendiggelernten gemacht
habe, der Inhalt decke sich fast wörtlich mit der schriftlichen An-
zeige. Es sei doch auch wenig glaublich, dass der Angeklagte sich
vergangen haben sollte, während ihm im wahren Sinne des Worts
das Messer an der Kehle sass. Das der Angeklagte dem Zeugen
zu zwei Malen je eine Mark geschenkt, könne vielleicht gegen ihn
sprechen, aber erwiesener Massen sei es das erste Mal anlässlich der
Centenarfeier geschehen und die Behauptung des Angeklagten, dass
— 449 —
er beim zweiten Male im Begriff gestanden habe, seine Wohnung
zu wechseln und deshalb sich seinem Barbier noch erkenntlich zeigen
wollte, sei ebenfalls glaubwürdig. Möglicherweise habe der junge
Mensch unter einem schlechten Einfluss gestanden, jedenfalls reiche
seine Aussage aber nicht aus, um daraufhin den unbescholtenen
Angeklagten zu verurteilen.
Ein Bild aus „Berlin bei Nacht" wurde in einer Verhand-
lung vor Augen geführt, die gestern vor der 4. Ferienstrafkammer
des Landgerichts I stattfand. Die noch im jugendlichen Alter
stehenden Arbeiter Max Korn und August Nitschke waren des Dieb-
stahls, bezw. der Hehlerei beschuldigt. Der Erstere legte ein Ge-
ständnis ab, welches sich nach den angestellten Ermittelungen mit
der Wahrheit deckt, so dass von einer Beweisaufnahme Abstand
genommen werden konnte. Korn erzählte, dass er an einem Mai-
Abende spät durch die Alte Jacob-Strasse gegangen sei. Er habe
nicht gewusst, wo er Unterkunft finden und wie er seinen Hunger
stillen solle. Da sei ein älterer, feingekleideter Herr an ihn heran-
getreten und habe ihn gefragt, ob er ein Glas Bier mit ihm trinken
wolle. Er habe ihm erwidert, dass er dies sehr gern thun möchte,
aber der Herr würde schwerlich mit einem so abgerissen aussehen-
den Begleiter ein Lokal besuchen. „Das macht nichts 41 habe der
Herr erklärt. Sie seien dann in ein Lokal gegangen, wo der Herr
ihn genötigt habe, soviel zu essen und zu trinken, wie er wolle.
Nun habe er sich entfernen wollen, der unbekannte Wohlthäter habe
ihn aber überredet, erst noch in ein Caf6 zu gehen. Hier habe man
ihm allerdings seiner schlechten Kleidung wegen den Zutritt ver-
weigert, sein Gönner habe aber den Ausweg gefunden, ihm eine
Tasse Kaffee hinauszubringen. Darauf habe der fremde Herr eine
Droschke herbeigerufen und eine gemeinsame Nachtfahrt vor-
geschlagen. Jetzt habe den Angeklagten ein beängstigendes Ge-
fühl ergriffen. Als er noch unschlüssig vor der Droschke stand, ob
er einsteigen solle oder nicht, sei zufällig sein Freund, der Mitan-
geklagte Nitschke vorübergegangen. Er habe den bereits im Wagen
sitzenden Herrn gefragt, ob sein Freund Nitschke an der Fahrt Theil
nehmen dürfe und nach kurzem Ueberlegen habe der Herr ein-
gewilligt. Darauf seien alle Drei noch in verschiedenen Wirtshäusern
gewesen. Der Spender habe dabei viel Geld gezeigt. In der dritten
Stunde hätten sie sich auf dem Wege nach der Schönhauser Strasse
befunden. Der Gönner sei infolge der vielen genossenen Getränke
eingeschlafen. Da habe der Angeklagte gesehen, dass demselben
aus der äusseren Brusttasche eine Anzahl Hundertmarkscheine hervor-
Jfthrbuch n. 29
— 450 —
lugten. Zunächst habe er Bich nur einen Scherz machen wollen, als
er die Scheine aber vorsichtig hervorgezogen hatte, sei ihm die Idee
gekommen, sie für sich zu behalten. Der ihm gegenübersitzende
Nitschke sei sofort damit einverstanden gewesen. Es sei ihnen ge-
lungen, die Droschke zu verlassen, ohne dass der Kutscher es ge-
wahr wurde; sie hätten ihren Gönner seinem Schicksale überlassen
und seien davongelaufen. Nitschke erhielt von der Beute — es
waren gegen 1300 Mark — einige hundert Mark, mit dem Best be-
gab sich Korn auf Reisen. Er ging nach Schlesien und gelangte
auf allerlei Umwegen nach Hamburg, wo er auf Grund des hinter
ihm erlassenen Steckbriefs verhaftet wurde. Seine B aarschaft be-
stand noch aus 40 Pfennigen. Der sonderbare Wohlthäter war der
Buchhalter Gr. aus einem hiesigen grösseren Holzgeschäft, welcher
an dem fraglichen Tage eine grössere Summe für seine Firma ein-
kassiert hatte. Er hatte es sich selbst zuzuschreiben, dass er in den
Verdacht der Unterschlagung geriet und eine Zeit lang in Haft ge-
nommen wurde. Der Verteidiger liess durchblicken, dass der Buch-
halter Gr. wohl nicht aus edlen Beweggründen zum Wohlthäter
gegen die beiden armseligen Angeklagten geworden sei. Das Ver-
halten der Letzteren sei verwerflich, aber mit Rücksicht auf die
begleitenden Umstände nicht so scharf anzusehen. Der Gerichtshof
trat dieser Anschauung bei; der bisher unbescholtene Korn wurde
zu sechs Monaten, der mehrfach vorbestrafte Nitschke zu einem Jahr
Gefängnis verurteilt. Es wurden je 3 Monate durch die erlittene
Untersuchungshaft in Abrechnung gebracht
Ueber eine sensationelle Skandal-Affaire, in die an-
geblich ein Berliner Banquier verwickelt sein soll, bringen einige
französische und belgische Blätter längere Berichte. Es handelt sich
um eine sehr schlüpfrige Sitten-Angelegenheit, in welcher ein in
Paris in Garnison stehender Zuave die Hauptrolle spielt Nähere
Einzelheiten lassen sich hier nicht wiedergeben. Wie versichert wird,
wäre gegen den auf der Durchreise befindlichen Berliner Banquier
Anzeige erstattet worden, und würde die Verhandlung demnächst
vor dem Pariser Zuchtpolizeigericht stattfinden. Vergebens habe die
kaiserliche Botschaft sich für den Angeschuldigten verwandt, der in
Berlin in weitesten Kreisen bekannt und geachtet sei.
Eine Razzia auf Erpresser wurde in der heutigen Nacht
am Bahnhof Zoologischer Garten seitens der Charlottenburger Krimi-
nalpolizei abgehalten. Es waren in der letzten Zeit wiederholt
Anzeigen erstattet worden, dass sich zur Nacht unbekannte Personen
— 451 —
an die Passanten herandrängten, sie eines Vergehens beschuldigten
und unter der Erklärung, dass sie selbst Kriminalbeamte seien, die
Zahlung eines Geldbetrages verlangten. In einigen Fällen ist den
Passanten sogar mit Gewalt Geld abgenommen worden. Bei der
gestrigen Razzia gelang es nun, drei Individuen zu verhaften, welche
des oben genannten Verbrechens beschuldigt werden. Es sind dies
die Gebrüder W. aus Charlottenburg, welche alsbald in das Gefäng-
nis des Amtsgerichts eingeliefert wurden.
Dreissig Jahre als Mann verkleidet. Vor zwei Jahren
wurde in Wien die damals 45jährige Anna Drezelsberger wegen
Falschmeldung verurteilt. Sie hatte 30 Jahre Männerkleidung ge-
tragen und sich polizeilich als Anton Horner, „Hausknecht", ge-
meldet. Als es durch die Verhandlungsberichte bekannt geworden
war, dass Anna Drexelsberger nur deshalb Männerkleidung getragen
habe, „weil sie nur als Mann die Stellung eines Hausknechtes habe
erhalten können", wandte sich die Aufmerksamkeit dieser resoluten
Frau zu. Von allen Seiten wurde ihr Arbeit und Beschäftigung
angetragen, damit sie nicht mehr gezwungen sei, ihr Geschlecht zu
verleugnen. Sie entsohloss sich endlich, als Gesellschafterin zu einer
alten Dame zu gehen. Am Ende des vorigen Jahres starb Anna
Drexelsberger in London, nachdem sie kurz vorher von ihrer Dienst-
geberin 50000 fl. geerbt hatte. Von diesem Gelde vermachte sie
30000 iL einem Mädchen in Wien, von welchem sie als Mann
„verehrt worden war* und zwar (wie es in dem Testament hiess)
„als Genngthuung dafür, dass sie das arme Mädchen in ihrem Irr-
tum belassen und genarrt hatte". Die Erblasserin wurde von den
prozessführenden Verwandten als geistig nicht normal bezeichnet.
Gestern entschied das zuständige Gericht in Wien, dass das Testa-
ment als giltig anerkannt werde. Es hätte sich keine Veranlassung
ergeben, die Zurechnungsfähigkeit der Erblasserin zur Zeit der
Testamentslegung zu bezweifeln, die Verlassenschaftsbehürde hatte
vielmehr die angefochtene Verfügimg als „ganz plausibel" befunden.
Eine Sensationsgeschichte aus Amerika mit Leip-
ziger Anklängen. Aus St. Louis Mi. wird uns geschrieben : Ein
sensationeller Fall, welcher auch „drüben", namentlich aber im säch-
sischen Vaterlande interessieren dürfte, beschäftigt die hiesigen
Gerichte. Dr. Hugo Toeppen, der bekannte, aus Berlin herüberge-
kommene, junge deutsche Arzt, kam nämlich und fragte an, ob ein
Mädchen, das sich für einen Mann ausgegeben nnd als solcher ein
anderes Mädchen in sich verliebt gemacht habe, bestraft werden
29* |
J
— 452 —
könne, wenn in Folge der Enthüllung des Betruges das Opfer wahn-
sinnig geworden sei? Auf die bejahende Antwort hin, wurde auf
Grund der weiterhin deponierten Aussagen Dr. Toeppens die Ver-
haftung des Schriftsetzers Johann Burgers angeordnet. Bei der
Untersuchung stellte sich heraus, dass Johann Burger ein vermutlich
30 — 32 Jahre altes Mädchen sei. Burger war vor zwei Jahren mit
einem jüngeren Mädchen Hedwig Lutze aus Leipzig nach St. Louis
eingewandert und hatte Stellung als Setzer in der Druckerei des
deutschen Blattes: „Die Tribüne" genommen. Er hatte sich mit
seiner „Stiefschwester", für die er Hedwig Lutze ausgab, bei dem
Juwelier Gammater, einem Berner Eingewanderten, eingemietet und
alsbald mit der Tochter seines Hauswirtes, Martha Gammater, ein
Liebesverhältnis begonnen. Der Juwelier sah dies beginnende Ver-
hältnis nicht gerne, zumal er zu bemerken glaubte, dass Burger zu
seiner „Stiefschwester" in sehr intimen Beziehungen stehe. In seinem
Verdachte immer mehr und mehr bestärkt, holte Gammater, der die
Leidenschaft seiner Tochter für Burger von Tag zu Tag wachsen
sah, bei dem früheren Brotherrn desselben, einem der grössten
Drucker Leipzigs, Erkundigungen ein. In der betreffenden Druckerei
war niemals ein Johann Burger beschäftigt gewesen. Wohl aber
war an dem, durch das Datum des Zeugnisses ersichtlichen Tage
eine Setzerin Anna Mattersteig entlassen worden. Dieselbe war in
Begleitung eines Mädchens Hedwig Lutze aus Leipzig nach Amerika
ausgewandert und hatte bereits in Leipzig wiederholt bedauert, dass
sie kein Mann sei, drüben aber ganz gewiss nur Männerkleider
tragen werde. Anna Mattersteig sei am 26. Dezember 1863 in
Sellerhausen geboren und von 1880 — 1893 in der Druckerei be-
schäftigt gewesen. Diese Auskimft Hess keinen Zweifel darüber,
dass Anna Mattersteig und Johann Burger ein und dieselbe Person
sei. Martha Gammater geriet darüber in grösste Aufregung und
als Burger nicht leugnen konnte — sich trotzdem aber bereit er-
klärte, das Mädchen zu heiraten und sich von Hedwig Lutze zu
trennen, fiel Martha Gammater in Krämpfe, die in Tobsucht aus-
arteten, so dass sie ins Irrenhaus geschafft werden musste. Vor
Gericht gab Anna Mattersteig an, sie sei sich keines Unrechtes be-
wusst. Sie fühle, dass sie ein Mann sei und nur durch
einen Irrtum der Natur sei sie als Weib zur Welt ge-
kommen. Einen solchen Irrtum aber anzuerkennen und gar noch
weiter danach zu leben, fiele ihr gar nicht ein. Glaube man, dass
sie sich eines Vergehens schuldig gemacht habe, so nehme sie gerne
jede Strafe an, einem Verbote Männerkleidung zu tragen, würde
sie aber nie nachkommen. Da müsse man sie schon zeitlebens ein-
— 453 —
sperren. Soweit stehen die Sachen jetzt, die Richter aber zepbrechen
sich den Kopf, welcher Paragraph auf den Fall Burger-Mattersteig
angewendet werden könne.
Giessen. Ein auf Grund des § 175 des Strafgesetzbuches
(widernatürliche Unzucht) verurteilter Student floh, als er verhaftet
werden sollte, aus dem Gerichtsgebäude und erschoss sich mit einem
Revolver.
Eine sonderbare Lady. Grosses Aufsehen erregte dieser
Tage, so wird uns geschrieben, in dem Kriminalgerichts.hof in Clerken-
well, Alt-London, ein in Untersuchungshaft befindlicher junger Mann,
der als elegant gekleidete Dame auf der Anklagebank erschien.
Er trug ein tadellos sitzendes schwarzes Kostüm, das nach neuester
Mode speziell für ihn gearbeitet zu sein schien. Um seinen Hals
schmiegte sich eine graue Federboa, die in der Farbe mit einem
kokett garnierten Matrosenhut aus Seidenfilz harmonierte. Die in perl-
grauen Glacees steckenden Hände in einem fashionablen Astrachan-
muff verbergend, lehnte sich das merkwürdige Individuum in graziöser
Haltung An die Barriere, die es von den Geschworenen und dem
Untersuchungsrichter trennte. Wie sich aus dem Verhör und den
Zeugenaussagen ergab, hatte der in so sonderbarem Aufzuge sich
zeigende Angeklagte, ein bis vor Kurzem in einem vornehmen Hause
in Gresse Street angestellter Kammerdiener, am Abend vorher in
Eustonroad in derselben Verkleidung die Aufmerksamkeit der
Passanten auf sich gelenkt. Der Abenteuerlustige hatte sich einen
amüsanten Ulk machen wollen. Ein Geheimpolizist war der sich
verdächtig benehmenden Person schon einige Zeit gefolgt ; da wandte
diese sich plötzlich um und legte ihren Arm in den des Beamten.
Zu ihrer wohl nicht sehr angenehmen Ueberraschung erfasste der
vermeintliche Verehrer die auf seinem Arm liegende Hand mit weniger
zärtlichem als energischem Griff und sagte laut: „Ich bin Detektiv
und habe Ursache, Sie für einen Mann zu holten. 41 Darauf suchte
die „Dame" ihren Arm zu befreien und rief im Tone der Entrüstung:
„Sie Elender, ich bin eine Lady !" Als der Beamte jedoch keine
Miene machte, sich seinen Fang entschlüpfen zu lassen, führte die
Person, ehe er es verhindern konnte, mit der geballten Faust einen
derben Stoss gegen seinen Mund aus. „Ihnen allein soll es nicht
gelingen, mich mitzunehmen! 41 schrie der Verkleidete wütend und
zerkratzte mit der rechten Hand das Gesicht des Gegners. In dem
nun entstehenden Ringkampf wurde die „Lady u zu Boden geworfen,
riss aber im Fallen den Detektiv mit und biss ihm in die Finger.
— 454 —
Einige inzwischen herbeigeeilte Polizisten bewältigten das um sich
stossende, kratzende und beissende Individuum und schleppten es
zur Polizeistation. Der Angeklagte wurde wegen öffentlichen Tragens
weiblicher Kleidung zu drei Monaten und wegen Körperverletzung'
und Beamtenbeleidigung zu weiteren drei Monaten Gefängnis ver-
urteilt.
Prag. Ein mysteriöser Vorfall, der noch seiner Auf-
klärung harrt, hat gestern Vormittag die Bewohner des Augezd auf
der Kleinseite in grosse Aufregung versetzt Der gegenüber der
Augezder Kaserne etablierte Gemischtwarenhändler Johann Hugo
Bäk, 85 Jahre alt und ledig, sperrte gestern früh seinen Laden nicht
auf, aber auch sein Commis, der 20 jährige Joseph Rak, der aber
trotz der Namensgleichheit in keinem verwandtschaftlichen Verhält-
nisse zu dem Kaufmanne stand, liess sich nieht bücken. Stande
auf Stunde verrann, der Laden blieb geschlossen und der Chef wie
sein Bediensteter kamen nicht zum Vorschein. Da beide dieselbe
Wohnung im zweiten Stockwerke des Hauses inne hatten, forschte
man dort nach dem Verbleiben der Beiden. Die Wohnung war
von aussen abgesperrt. Durch das Fenster aber sah man den
Commis angekleidet im Bette üegen. Die Leute glaubten Anfangs
der Commis habe verschlafen, und pochten an die Thttre; der
Commis rührte sich nicht. Darauf wurde, nachdem das Polizei-
kommissariat der Kleinseite verständigt worden war, über Auftrag
des Bezirksleiters Herrn Polizeioberkommissäre Stelzig, die Thun?
aufgesprengt. Joseph Rak war tot Auf dem Nachttische standen
zwei halbgeleerte Sodawasserflaschen und zwei Gläser, zur Hälfte
mit Sodawasser gefüllt; weiter lag auf dem Nachttische ein Stück
Papier mit Resten von Zuckerwerk. Auf dem Tische des zweiten
Zimmers, in dem der Kaufmann zu schlafen pflegte, stand unberührt
ein Mittagessen. Das Bett des Kaufmannes war ebenfalls unberührt»
der Kaufmann befand sich nicht in der Wohnung. Johann Hugo
Rak hatte offenbar beim Fortgehen die Wohnung von Aussen ab-
gesperrt. Der Bezirksarzt Herr Dr. Schwarz untersuchte die Leiche
des Commis und fand gar keine Merkmale irgend einer Gewaltthat
Er ordnete die üeberf Uhrung der Leiche in das deutsche patholog-
ische Institut zur Sicherstellung der Todesursache an. Inzwischen
wurde der Kaufmann Uberall gesucht, doch nicht gefunden. Erst
um halb 12 Uhr Mittags fand man ihn erhängt im Keller desselben
Hauses, in dem er sein Warenlager hatte. Er hing hoch oben an
der Decke des Kellers, seine Rechte hielt krampfhaft einen Leuchter.
Unter seinen Füssen lax ein umgekipptes Liqueurfass. Er war offen-
— 455 —
bar auf das aufgestellte Fass gestiegen, hatte an dem in der Decke
des Kellers befindlichen Haken die Schlinge befestigt, seinen Kopf
in die Sohlinge gesteckt und dann mit dem Fusse das Fass umge-
stossen, so dass er frei hängen blieb und so den Tod fand. All-
gemein wird erzählt, dass der Kaufmann mit seinem
Commis ein sträfliches Verhältnis nach § 129 des Str.-G.
unterhalten habe. Thatsäohlich fand der Bezirksarzt bei der
Beschau beider Leichen solche Merkmale, welche diese Anschauung
begründet erscheinen lassen. Weiter glaubt man, Johann Hugo Rak
habe seinen Commis vergiftet, um den Mitwisser seines Verbrechens
zu beseitigen, und dann, von Gewissensbissen gepeinigt, selbst
Hand an sich gelegt Auch die Leiche des Kaufmannes wurde in
das deutsche pathologische Institut ttbergefürt. Durch die Obduktion
der beiden Leichen dürfte wohl etwas Licht in die geheimnisvolle
Affaire gebracht werden. Das Sodawasser und die Reste des Zucker-
werks werden chemisch untersucht werden. Liegt auf Seite des
Selbstmörders ein Verbrechen gegen das Leben des Commis vor,
so dürfte dieses Verbrechen vorgestern nach der Mittagsstunde ver-
übt worden sein, nachdem der Laden — vorgestern war ein Feier-
tag — gesperrt worden war. Auf diese Zeitannahme lässt das un-
berührte Mittagessen des Kaufmannes schliessen. Joseph Rak hatte
seit Mittwoch Mittags über heftige Leibschmerzen geklagt. Das
Verhältnis zwischen ihm und seinem Chef war nichts weniger als'
freundlich; der Kaufmann, ein roher Mann, hatte ihn wiederholt
blutig misshandelt. Dreimal war der Commis davongelaufen, immer
aber wieder zurückgekehrt Joseph Rak soll ein ruhiger Mensch
gewesen sein. Johann Hugo Rak hatte früher sein Geschäft in der
Tischlergasse und seit etwa einem Jahre auf dem Augezd; es ging
sehr gut Bekannt war von ihm, dass er ein Feind des
weiblichen Geschlechtes war. Wohnung und Laden wurden
behördlich gesperrt. Vor dem Hause fanden gestern den ganzen
Tag kleinere Ansammlungen statt
Ein böses Abenteuer begegnete am Abend des 11. März
in Berlin dem chinesischen Gesandtschaftsattachä Guang, als der-
selbe durch die Karlstrasse ging. Es begegnete ihm ein Mann, der
ihn fragte, wie spät es sei. In entgegenkommender Weise zog der
Chinese die Uhr und gab dem Fragenden Bescheid. Plötzlich riss
der Letztere ihm mit einem schnellen Griff die Uhr aus der Hand
und rannte mit der Beute davon. Der Bestohlene verfolgte ihn
und erwischte ihn auf dem Flur eines Hauses. Der Dieb erklärte
hier, dass er die Uhr herausgeben wolle, wenn er 30 Mk. erhalte.
— 456 —
Der Gesandtechaftsattache" ging zum Schein auf dies Anerbieten ein,
erklärte aber, dass er nur eine ganz geringe Barschaft bei sich
führe. Er sei bereit, am folgenden Morgen die Uhr einzulösen,
wenn er die Adresse des Diebes erfahre. Dieser gab Wohnung
und Name richtig an, es war der ans Ungarn stammende Artist
Jakob Laskowitz. Allerdings stellte sich der Chinese am folgenden
Morgen bei ihm ein, aber in Begleitung eines Kriminalschatzmannes,
der den Laskowitz verhaftete. Dieser verschlimmerte seine Lage
im Termine vor der 3. Strafkammer des Berliner Landgerichts I
am Mittwoch noch dadaroh, dass er den Bestohlenen in unsittlicher
Weise zu verdächtigen suchte. Das Urteil lautete auf 2 Jahre
Gefängnis und 5jährigen Ehrverlust
Mysteriöser Doppelselbstmord. Der Heuberg bei Dorn-
bach war gestern der Schauplatz einer Blutthat, die bisher nicht
völlig aufgeklärt ist Zwei junge Leute wurden mit Schusswunden
tot aufgefunden. Die Beiden sind gemeinsam freiwillig in den Tod
gegangen. Die That" .wurde ungefähr um 3 Uhr Nachmittags von
einem Spaziergänger entdeckt Die Leichen lagen an einer beinahe
unbewaldeten Stelle des Heuberges. Einer der Toten dürfte un-
gefähr 28 Jahre, der zweite 35 Jahre alt gewesen sein. Beide
hatten Schusswunden an der linken Brustseite. Der Revolver, mit
welchem die grauenvolle That begangen wurde, lag zu den Füssen
des jüngeren Mannes. Daraus schliesst man, dass dieser zuerst
seinen Genossen tötete und dann sich mit derselben Waffe den
Tod gab. Bei dem jüngeren Mann fand man ein Arbeitsbuch, das
auf den Namen Karl Koller, Schlossergehilfe, 28 Jahre alt, lautete.
Bei dem älteren Mann wurde eine Visitkarte, auf den Namen, Adolf
Baier lautend, gefunden. Im Besitze des Letzteren befanden sich
überdies die Photographie einer jungen hübschen Dame und ein
Zettel, auf dem der Name Slaviczek steht Heute Vormittags wurde
ein Leichnam thatsächlich als der Karl Kollers von einem in der
Piaristengasse Nr. 4 wohnhaften Bruder des Selbstmörders agnosziert
Karl Koller war Schlossergehilfe und stand zuletzt in der Fabrik
von Gratzl's Nachfolger in der Brigittenau in Arbeit Er war ver-
heiratet und Vater von mehreren Kindern, lebte jedoch von seiner
Frau geschieden. Der Mann, der mit dem Schlossergehilfen gemein-
sam aus dem Leben schied, soll nach einer zweiten Annahme
Slaviczek heissen und der Neffe eines Tischlermeisters in Margarethen
sein. Die weiteren Erhebungen über ihn sind im Zuge.
Eine sonderbare Ehe. In Riga ist ein Fall passiert, der in
den Annalen des Ehelebens wohl einzig dasteht. Die Witwe eines
— 457 —
achtbaren Mannes reichte bei der Behörde ein Gesuch ein, wieder
ihren Mädchennamen führen zn dürfen, da ihr verstorbener Gatte,
mit dem ste zwanzig Jahre vermählt war, eine Frau gewesen sei.
Auf die Frage warum sie den Fall nicht früher zur Anzeige ge-
bracht habe, erklärte die Witwe, dass sie sich geschämt habe, die
ganze Angelegenheit bekannt zu geben.
Eine dunkle Affaire. Das „Kleine Journal" hat die Ver-
haftung zweier Unteroffiziere des Gardekürassierregiments zu Berlin
gemeldet und dieselbe mit der Ermordung der Louise Günther in
der Hasenhaide in Verbindung gebracht Das letztere ist inzwischen
dementiert worden. Heute ergänzt das genannte Blatt seinen Be-
richt durch folgende Mitteilung: Die beiden Unteroffiziere begaben
sich am Abend des 14. April in die Privatwohnung einer sehr
hochstehenden Persönlichkeit und beschuldigten dieselbe eines Ver-
gehens gegen § 175 des St.-G.-B. und verlangten als Schweigegeld
mehrere hundert Mark. Der geängstigte Herr sah sich veranlasst,
die Unteroffiziere zu ersuchen, so lange in seiner Wohnung zu
bleiben, bis er die verlangte Summe geholt, da er augenblicklich
nicht soviel Baargeld bei sich hätte. Als er wieder zurückkehrte,
bot sich ihm ein widerliches Bild. Die Unteroffiziere hatten seine
Cognaoflasche geleert und unter der Macht des Alkohols wie die
Vandalen in seiner Wohnung gehaust, Läden und Spiegel zertrümmert,
Glas und Porzellan zerschlagen. Nachdem er den Burschen das
Geld eingehändigt, entfernten sie sich. Einige Wochen später forderten
die Unteroffiziere in einem Briefe einen höheren Betrag als Schweige-
geld. Sollte sich Adressat weigern, die verlangte Summe zu be-
willigen, so würden sie keinen Stuhl in seiner Wohnung ganz lassen.
Mit diesem Brief begab sich dann der Adressat zu der Kriminal-
polizei. Der betreffende Kommissar, dem das merkwürdige Zu-
sammentreffen der verübten Erpressung mit dem Datum des
Günther'sohen Mordes auffiel, stellte die notorischen Beziehungen
des einen der beiden Erpresser zu Luise Günther fest und tibergab
das gesamte Material dem Gardektirrassierregiment, worauf die Ver-
haftung der beiden Unteroffiziere erfolgte. Thatsache ist, dass die
beiden Unteroffiziere an jenem Abend sinnlos betrunken in die
Kaserne zurückgekehrt sind und zwar zu einer Zeit, zu der nach
Aussage der Mord bereits vollbracht sein konnte. Die Kaserne
liegt unweit des Fundortes der Leiche. — Von anderer Seite wird
über den Fall geschrieben: Wie jetzt bekannt wird, ist die Ver-
haftung zweier Unteroffiziere des Gardekürassierregiments in der
That erfolgt, steht aber in keinem Zusammenhange zu der Ermord-
— 458 —
ung der Luise Günther. Vielmehr ist der Grund in Vergehen gegen
§ 175 des Reiohsstrafgesetzbuches und damit zusammenhängenden
Erpressungen gegen einen ehemaligen Offizier zu sehen* Daas
gleichzeitig mit der Verhaftung der beiden Unteroffiziere, Ebert und
Rother, der Verdacht entstand, dass sie auch den Mord an der
Günther verübt haben könnten, ist darauf zurückzuführen, dass die
Beiden die Luise Günther am Abend vor ihrer Ermordung bei sich
in der Kaserne hatten. Erwiesen ist aber, dass die Unteroffiziere
die Günther gegen Vill Uhr wieder zum Kasernenthor hinaus-
gelassen haben, worauf das Mädchen nach der Haide fortging. Aus
diesem Grunde ist dem Umstände, dass bei einem der Unteroffiziere
ein Taschentuch der Günther gefunden wurde, keinerlei Bedeutung
beizumessen. Die Posten, welche die Unteroffiziere und das Mädchen
einliessen, wurden mit Arrest bestraft
Telegramm aus Brescia (Italien) 14. Nov. Ein seltsamer
Fall von Hermaphroditismus. Samstag morgen wurde im hiesigen
Hospital ein junger Herr operiert, welcher an einem doppelten
Leistenbruch litt (doppia ernia inguinale). Der operierende Chirurg
entdeckte in der Tiefe der rechten Leiste eine vollkommen ent-
wickelte Gebärmutter (otero) mit den zwei Muttertrompeten und
dem Eierstock. Der Operierte ist ein wohl konstituierter junger
Mann, Ehemann und glücklicher Familienvater. Die Aerzte sagen,
dass es sich um einen ausserordentlichen Fall hande, der vielleicht
einzigartig in der Geschichte der Medizin dastehe.
Selbstmord eines Offiziers. Aus Gran wird berichtet:
Oberleutnant Friedrich Neumann (vom Graner Regiment Grossfürst
Michael Nr. 26) begab sich am Vormittag des verflossenen Sonntags
in die Franciskanerkirohe und dann in seine Wohnung, wo er sich
vor seinen Schreibtisch setzte und aus einem Armee-Revolver zwei
Schüsse gegen seine Brust abfeuerte. Vorher hatte er seinen Diener
mit einem Auftrage aus dem Hause geschickt, und als der Diener
wieder zurückkehrte, fand er seinen Herrn bereits tot. Oberleutnant
Neumann war ein in sich gekehrter, von der Welt abgeschlossener
junger Mann. Er mied jedwede Unterhaltung, ging regelmässig ganz
allein spazieren und lebte nur seinem Berufe und der militärischen
Literatur. Abends begab er sich stets zeitich nach Hause und
studierte. Damengesellschaften mied er in dem Masse, dass man
ihn einen Damenfeind nannte.
— 459 —
Ein Sittenbild aus einer Grossstadt Jüngst wurde
durch die Berliner Polizei ein junger reicher Amerikaner Adalbert
Bussel Withney verhaftet. Ueber den Grund dieser viel Aufsehen
erregenden Inhaftnahme berichtet man aus Berlin: Mitte Dezember
v. J. erschienen drei elegant gekleidete Herren in einem bekannten
Lokale Moabits mit der Anfrage, ob der Wirt für den 20. desselben
Monats seine Säle zu einer Hochzeitsfeier hergeben könne. Sie er-
hielten einen zusagenden Bescheid, und ein Saal wurde bereits am
18. Dezember in eine Capelle umgewandelt. Das bezügliche Inven-
tar hatte die Möbelhandlung von M. in der Friedrichstrasse geliefert
Tapezierer hatten einen Altar errichtet, Gärtner reichen Blumen-
flor herbeigeschafft, und als der Tag gekommen war, an dem der
Wirt seine vornehmen Gäste erwartete, trafen zunächst Kriminal-
beamte mit dem Kommissarius M. an der Spitze ein, welche dem
erschrockenen Wirte mitteilten, dass die zu trauende Braut der
Amerikaner Withney sei, dass man aber der Gesellschaft vorläufig
freies Spiel lassen möge. Alsbald rollte denn auch Equipage auf
Equipage vor, deren Insassen zum grossen Teile in hocheleganter
Damenkleidung erschienen, sich aber später^als lauter Männer
herausstellten. Ein Wagen brachte den „Geistlichen", wie sich
später ergab, einen Dr. Saal, ein anderer zuletzt den „Bräutigam".
Der „Bräutigam", ein früherer Ulane, Daniel Lindenberg, trug grosse
preussisohe Generalsuniform, die „Braut" — Withney — rauschte
in weissem Atlas mit Myrthenkranz und Schleier in den Saal, ehr-
furchtsvoll von den Anwesenden begrüsst Die Kriminalpolizei
hatte zugleich mit der Festgesellschaft die „Capelle" betreten, und
als man ihrer ansichtig wurde, überging man den beabsichtigten
„Trauakt" und schritt sofort zur Tafel, welche für 45 Personen ge- *
deckt war. Bei dem prachtvollen Festessen floss der Champagner
in des Wortes wahrer Bedeutung in Strömen. Nach Aufhebung
der Tafel ging man, wie gewöhnlich bei Hochzeiten, zum Tanze
über. Das „weibliche" Element überwog bei der „Hochzeitsfeier"
bedeutend. Die Kosten trug Withney, welcher ein dickes Paket
von Hundertmarkscheinen zu diesem Zwecke mit sich führte. Wie
der Wirt einem Berichterstatter versicherte, soll die Anzeige an
die Kriminalpolizei durch einen besonders hochstehenden Geistlichen
über den Vorfall erstattet worden sein; diesem war durch einen
der „Trauzeugen" eine bezügliche Mitteilung zugegangen. Wir
wollen noch bemerken, dass die „Braut" Withney, die sonst ein
kräftiger Bart zierte, diesen der Feier zum Opfer gebracht hatte.
— 460 —
Ein dreister Erpressungsv ersuch wurde gegen den
Kaufmann G. in der Kommandantenstrasse verübt In seinen Laden
kam ein junger Mensch und tibergab ihm einen Brief^ durch dessen
Inhalt er nicht wenig empört wurde. Der Schreiber, der sich nur
mit „N. N. M unterzeichnete, teilte dem G. mit, dass dessen Schwieger-
vater ein Sittlichkeitsverbrechen begangen habe. Iiesse G. sich
nicht herbei, dem Ueberbringer des Briefes sofort 300 Mark aus-
zuhändigen, so würde der Verfasser sich sofort zu einer Zeitung
begeben, um die That seines Schwiegervaters mit vollem Namen
und mit allen Einzelheiten in die Oeffentlichkeit zu bringen. G. fiel
auf den plumpen Erpressungsversuch nicht hinein. Da der Ueber-
bringer des Briefes erklärte, dass sein Auftraggeber vor der Thür
warte, begab sich G. mit dem jungen Burschen auf die Strasse.
Der Absender war aber nicht zu erblicken. Am folgenden Tage
wiederholte sich der Erpressungsversuch in verschärfter Form mit
demselben Ueberbringer. Diesmal gelang es, den Erpresser auf
der Strasse zu entdecken und seine Festnahme zu bewirken. Es
war ein vielfach vorbestrafter Mensch, der Maschinenbauer Emil
Werchau, der sich gestern vor der neunten Strafkammer des Land-
gerichts 1 zu verantworten hatte. Es stellte sich heraus, dass der
von ihm benutzte Bote von dem Inhalt der Briefe keine Kenntnis
hatte. Werchau wurde zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten
und zweijährigem Ehrverlust verurteilt
Selbstmord eines Handels ak ademike rs. Aus Graz
wird uns vom 23. d. telegraphiert: Der sechzehnjährige Handels-
akademiker Georg Lindner hat sich heute Nacht hier auf offener
Strasse erschossen; in einem Briefe, den man bei dem unglücklichen
jungen Manne fand, gab der Lebensüberdrüssige an, der Grund
des Selbstmordes sei sein Geheimnis; er wolle dieses in das Grab
mitnehmen. Lindner, der aus Budapest gebürtig ist, war ein intimer
Freund des Handelsakademikers, der sich vor Kurzem in einer
hiesigen Badeanstalt erschossen hat.
Wienotwendig es ist, dass ein gewisser Sittlichkeitsparagraph
im Strafgesetzbuche beseitigt werde, zeigt ein Vorfall, über den
uns folgender Gerichtsbericht zugeht: Dem Sumpfe der Grossstadt
entsprossen war eine aus acht Köpfen bestehende Bande jugend-
licher Erpresser, deren Thaten gestern der Prüfung der 3. Straf-
kammer unterlagen. In Berlin giebt es eine Unzahl von höchst
gefährlichen Burschen, die sich in freundlicher Weise Fremden, die
ohne Begleitung durch die Strassen Berlins ziehen, oder anderen
— 461 —
einzelnen Herren nähern, mit ihnen Bekanntschaft anknüpfen und
dann unter allerlei versteckten und offenen Drohungen Gelder von
ihnen zu erpressen wissen. Die gestern auf der Anklagebank er-
schienenen Verbrecher dieser Art, die schliesslich allesamt von
dem Kriminalkommissar v. Tresckow festgenommen worden sind,
haben die Erpresserschraube gegenüber einem Offizier und einem
Professor einer auswärtigen Universität in unerhörtem Masse an-
gezogen. Zu dem letzteren reisten die Mitglieder der Bande
wiederholt hinüber, erpressten von ihm wiederholt Gelder und
lockten ihm schliesslich 1000 Mark aus der Tasche, angeblich um
damit nach Amerika auszuwandern. Die Verhandlung, welche bei
geschlossenen Thtiren geführt wurde, endete mit der Verurteilung
des Kellners Georg Kubicki zu einem Jahr Gefängnis, des Schreiber-
lehrlings Gebers zu 9 Monaten, des Buchbinders Oskar Gleisberg
zu 1 Jahr 6 Monaten, des Goldarbeiters Staupe zu 2 Jahren, des
Kellners Hans Hauck zu 2 Jahren, des Kutschers Otto Schuckardt
zu 3 Monaten, des Kellners Herrn. Krahl zu 2 Monaten und des
Kellners Max Paul zu 9 Monaten Gefängnis. Ein neunter Ange-
klagter wurde freigesprochen.
Mord und Selbstmord. In der Neubadgasse wurde heute
Nachts der Mitbesitzer des dort befindlichen Hotels „Garni", Rudolph
Wieser, von seinem Freunde, dem Goldarbeitergehilfen Lorentz
Kötzer, durch einen Revolverschuss getötet. Unmittelbar darauf
feuerte der Mörder den Revolver gegen sich ab. Das Projektil
drang ihm in die Mitte der Schläfe und verletzte ihn so schwer,
dass er bald nach seiner Ankunft im Spital der Barmherzigen
Brüder verschied. Ein krasses Sittenbild der Grossstadt entrollt
sich, wenn man den Motiven dieses Verbrechens nachgeht. Vor
der Ausführung der entsetzlichen That legte er das Geständnis
seiner Beziehungen zu dem Hotelier nieder, so dass das geheimnis-
volle Dunkel, welches bei Entdeckung des Mordes über die den-
selben begleitenden Umstände herrschte, völlig gelichtet ist. Nach-
stehend die Einzelheiten des in seiner Art in der Wiener Lokal-
chronik einzig dastehenden Falles : Heute Nachts um 1 I 4) 12 Uhr
wurde Rudolph Wieser, der, wie schon erwähnt, Miteigentümer des
„Hotel Garni" in der Neubadgasse Nr. 4, einem Seitengässchen in
der inneren Stadt ist, in einem im ersten Stockwerke gelegenen
Zimmer tot aufgefunden. Neben der Leiche lag ein junger Mann
mit einer Schusswunde in der rechten Schläfengegend im sterbenden
Zustande. Zwischen Beiden lag ein sechsläufiger Revolver, aus
welchem zwei Projektile abgefeuert waren. Nach der Situation
— 462 —
konnte man nichts anderes annehmen, als dass Wieeer das Opfer
eines Verbrechens geworden sei. Die bald erschienene polizeiliche
Kommission hatte alsbald die Identität des junges Hannes, mit dem
Goldarbeitergehilfen Lorenz Rötzer sichergestellt, von dem dann
später mehrere Bedienstete des Hotels angaben, dass er zu Wieser
seit Jahren in freundschaftlichen Beziehungen stand. Gegen halb
11 Uhr kam Rötzer in das Hotel. Er wusste, dass sein Freund
Wieser, der abwechselnd mit dessen Bruder Otto Wieser, ebenfalls
Mitbesitzer des Hotels, zur Nachtzeit die Portiersdienste im Hotel
selbst versah, gerade gestern die Diensttour hatte. Er traf diesen
in Gesellschaft des Privaten Ferdinand Böbs, Ottakring, Geblergasse
Nr. 8 wohnhaft, in der Portierloge an. Rötzer erklärte, Wieser
dringend sprechen zu wollen und Beide begaben sich nun in das
Zimmer Nr. 1 im ersten Stockwerk. Wieser ersuchte indes Herrn
Büss, er möge ihn in der Portierloge vertreten. Eine geraume Zeit
nach der Entfernung der Beiden fielen Schüsse. Herr Böbs ahnte r
dass zwischen Wieser und Rötzer, den er nur dem Namen nach
kannte, etwas Ausserordentliches vorgefallen sein müsse. Er eilte
mit mehreren anderen Bediensteten in das bezeichnete Gemach und
fand dort die Beiden in der oben geschilderten Situation vor. Die
polizeiliche Kommission konnte mit Rücksicht auf die Briefe, die in
der Hosentasche des Mörders gefunden wurden, nichts Anderes an-
nehmen, als dass Rache der Beweggrund für das fürchterliche Ver-
brechen war. Die Zeilen Rötzers behaupten, Wieser habe ihn elend
gemacht. Nunmehr habe ihn der Hotelier schroff zurückgestossen.
Zum gemeinen Erpresser wolle er nicht werden, und, um nicht noch
tiefer zu sinken, habe er die That ausgeführt Einen der Briefe,
die den Mord und Selbstmord erklären, hat Rötzer an einen Freund,
einen zweiten an ein Wiener Tagesjournal und einen dritten an die
Polizeidirektion gerichtet. An seine Mutter hat der Mörder schon
gestern einen mehrere Seiten langen Brief geschrieben, in dem er
gleichfalls das Motiv der schrecklichen That zu erklären sueht und
sie um Verzeihung bittet. Die Leichen wurden ins Allgemeine
Krankenhaus gebracht Der ermordete Hotelier Wieser war ledig
und in sehr guten Vermögensverhältnissen.
In einem Aufsatze über: „Die Corporationen der Uled Ssidi
Hammedu-Muesa und der Orma im südlichen Marokko" (Zeitschrift
für Ethnologie XXI. Jahrgang 1899 pg. 573 ff.) berichtet M. Gueden-
feldt Folgendes: „Die ünsittlichkeit unter den „Uled tf (arabischen
Artisten, meistens Berber) ist eine grosse. Vielfach ersetzen, da
Frauen und Mädchen (bei den Truppen) ja gänzlich fehlen, die
— 463 —
jüngeren Mitglieder die Stelle derselben, was bei der in Marokko
auch im Allgemeinen sehr verbreiteten Männerliebe auch nicht zu
verwundern ist." Die „Uled" nennen einen Mann, welcher den
sexuellen Verkehr mit Knaben, dem mit dem weiblichen Geschlecht
vorzieht „aderräb". Von den Arabern in Marokko wird ein solches
Individuum „lünat" genannt oder auch einfach „kähab-ed-dräni tf ,
d. h. Jugendfreund. Der Jüngling, welcher, sei es für Geld, sei es
aus Zuneigung, geschlechtlich mit einem Mann verkehrt, wird
„sämel u oder auch „attäi" d. h. „Geber* (= Einer, der sich hin-
giebt) genannt Ein bärtiger Jüngling oder Mann, der sich zu einer
passiven Rolle hergiebt, wird „kassas" genannt.
Eine schmutzige Geschichte. Wegen eines Vergehens
wider die Sittlichkeit wie einen der Erpressung wurde gestern gegen
den 37 Jahre alten Kaufmann August F. von Weilheim und den
22 Jahre alten Bäcker Johann Erhard von Bayreuth und den 20 Jahre
alten Konditor Albert Schneider von Nürnberg hinter verschlossenen
Thüren verhandelt. Nach der Anklage hatte sich der Angeklagte
F. im Hofbräuhaus mit dem Angeklagten Erhard unsittliche Hand-
lungen zu Schulden kommen lassen und hat ihn dann zum Näch-
tigen in seine Wohnung genommen. Erhard erzählte dieses seinem
Freunde Albert Schneider und beauftragte ihn, an F. zu schreiben,
dass, falls er nicht umgehend 60 Mk. senden werde, Anzeige gegen
ihn wegen Vergehens wider die Sittlichkeit erstattet werde. Da
Erhard nicht erschienen, wurde die Verhandlung gegen ihn und F.
ausgesetzt, dagegen wurde Schneider wegen eines Erpressungs-
versuches zu 5 Monaten Gefängnis verurteilt.
Karlsruhe, 9. Aug. Sitzung der Ferienstrafkammer II. In
geheimer Sitzung gelangte die Anklage gegen den 28 Jahre alten
Silberwaarenfabrikanten Dr. Hermann B. aus Mannheim, wohnhaft
in Pforzheim, den 18 Jahre alten Tapezier Friedrich Albert Julius
Sägert aus Pforzheim, hier wohnhaft, und den 24 Jahre alten Diener
Josef Liebert aus Namslau, wohnhaft in Pforzheim, wegen Vergehens
gegen § 175 S.-St.-G.-B. (widernatürliche Unzucht) zur Verhandlung.
Dr. B. wurde zu 9 Wochen Gefängnis, abzüglich 4 Wochen Unter-
suchungshaft, Liebert zu 6 Wochen Gefängnis, ebenfalls unter An-
rechnung von 4 Wochen Untersuchungshaft, und Sägert zu 1 Woche
Gefängnis, verbüsst durch die Untersuchungshaft, verurteilt.
Frankfurter Zeitung, 29. September 1899, Abendblatt Nr 270.
Heidelberg: 28. Sept. Kaum ist der Fall des jetzt emeritierten
— 464 —
Gymnasialdirektors Dr. U. ein wenig in den Hintergrund getreten,
so verlautet als ein sicher verbürgtes Faktuni, dass gegen den
Lehrer am hiesigen Gymnasium und zugleich Privatdozenten an der
Universität Dr. B. die Beschuldigung erhoben worden ist, wieder-
holt einem Bäckerburschen bei dessen Bundgang in der Morgen-
frühe aufgelauert und ihm unzüchtige Handlungen angesonnen zu
haben. Dr. B. hat bereits, nachdem sein Benehmen Gegenstand
der polizeilichen Untersuchung war, Heidelberg verlassen.
Oldenburg, 21. Juli. Eine weitgehende Erpressung, die seit
längerer Zeit von mehreren Personen systematisch betrieben wurde,
beschäftigt jetzt das hiesige Gericht. Die Erpressungen (dieselben
sollen die Höhe von 28000 Mk. erreicht haben) sind an einem sehr
wohlhabenden, etwa 70 Jahre alten Privatmann verübt, der an seine
Bedränger, die ihn eines Sittlichkeitsvergehens beschuldigten, mehrere
tausend Mark bezahlt haben soll. Zwei der Erpresser, Schornstein-
fegergesellen in Oldenburg, sind bereits verhaftet worden. Der
Hauptlibelthäter jedoch, der frühere Schornsteinfeger E. Kohlboff,
der vor einigen Jahren wegen Doppelehe verurteilt wurde, wird
leider nicht leicht zu fassen sein; er lebt in England und richtete
von dort aus Briefe an sein Opfer, worin er die Personen namhaft
machte, an welche die Zwangszahlungen zu leisten seien.
Oldenburg, 7. Febr. Die schon im Juli v. J. in d. Bl. er-
wähnte Erpressungsgeschichte von Kohlhoff und Konsorten fand
heute vor der Strafkammer des Landgerichtes ein vorläufiges Ende,
da möglicherweise gegen eine beteiligte Person noch weitere Er-
hebungen stattfinden können, doch dies ist Sache des Staatsanwaltes.
Die Anklage lautete auf Erpressung, begangen gegen den Land-
mann, jetzt Rentner von Seggern und zwar ad 1 gegen den Schorn-
steinfeger Georg Möhlinann, 19 Jahre alt, wegen mindestens 7000
Mark; ad 2 gegen den Schornsteinfeger Emil Kohlhoff, 21 Jahre
alt, wegen mindestens 2380 Mk. ; ad 3 gegen den Wirt Wilh. Kohl-
hoff, 40 Jahre alt, wegen 800 Mk.; ad. 4 gegen den Tanzlehrer
Schröder, 57 Jahre alt, wegen 500 Mk.; ferner noch der Schorn-
steinfeger Fr. W. Förster, 20 Jahre alt, und der Schuhmacher Fr.
Schulte 20 Jahre alt, wegen je mindestens 40 Mk. Die Angeklagten
sollen die bei deren Namen bezeichneten Beträge durch Drohungen,
den v. Seggern der widernatürlichen Unzucht etc. event. anzuzeigen,
erpresst zu haben, der ad 3 bez. Wilh. Kohlhoff hat die bez. 800
Mark als Darlehen erhalten und später in gleicher Weise einen
Empfangsschein über Rückzahlung des Betrages sich verschafft
— 465 -
Die Verhandlungen fanden bei verschlossenen Thtiren statt nnd
wurde erst um ca. 4 Uhr die Oeffentliohkeit wieder hergestellt, als
die Urteile verkündet werden sollten. Selbiges lautete, wie schon
tel. mitgeteilt, gegen Mühlmann auf 1 Jahr 6 Monate Gefängnis,
abzttgl. 8 Monat Untersuchungshaft, gegen Emil Kohlhoff auf 1 Jahr
6 Monate Gefängnis, abziigl. 4 Monate Untersuchungshaft (welche
seit dem 19. Juli v. J. dauerte), gegen Wilh. Kohlhoff auf 6 Monate
Gefängnis, abziigl. einer Untersuchungshaft seit dem 3. Sept. v. J.,
gegen Sch rüder gleichfalls 6 Monat Gefängnis unter gleicher Ver-
günstigung. Förster und Schulte wurden freigesprochen. Ein Mit-
schuldiger, angeblich der Hauptattenthäter (Kohlhoff), hat sich der
irdischen Gerechtigkeit entzogen, indem er von einem Dampfer
Uber Bord gesprungen ist, und ein Trompeter ist vom Militärgericht
bereits zu Gefängnis und Degradierung verurteilt.
Wegen E rpressung verfolgt wird der Kellner Karl Bartsch,
der zuletzt in der Mittenwalder Strasse eine Schlafstelle inne hatte.
Er hatte sich in Rixdorf eines Vergehens gegen den § 175 des
Strafgesetzbuchs zu Schulden kommen lassen und dann sein Opfer
mit Anzeige bedroht, falls dieses nicht Schweigegeld zahle. Bisher
fehlt jede Spur des Flüchtlings.
Das plötzliche Verschwinden des Gärtnereibesitzers
B., der in Pankow mehrere Ehrenämter bekleidete, erregt grosses
Aufsehen. Gegen B. ist wegen Verbrechens gegen die Sittlichkeit
<§ 175 St.-G.-B.) Strafanzeige erstattet worden.
Wegen Erpressungen verhaftet ist auf telegraphisohes
Ersuchen des hiesigen Polizeipräsidiums der Friseurgehilfe Gustav
Gl. in KUstrin. Gl. war zuletzt bei einem Friseur in der Komman-
dantenstrasse in Stellung. Er ist der Sohn eines Hotelbesitzers und
hat eine sehr gute Erziehung erhalten. Umgang mit leichtsinnigen
jungen Leuten hat ihn jedoch verdorben, und als sein Einkommen
für seine noblen Extravaganzen nicht mehr zulangte, hat er sich
durch Erpressungen Geld zu verschaffen gesucht. Sein Komplize,
der sich noch in Berlin befand, ist ebenfalls verhaftet worden.
Düren, 5. Mai. Gestern ist der hiesige Fabrikant Clemens
August Hoffsümmer wegen fortgesetzten Vergehens gegen § 175
des Strafgesetzbuches in das Untersuchungsgefängnis nach Aachen
abgeführt worden. Die Verhaftimg erregt hier um so grösseres
Aufsehen und kann auch nicht der Oeffentlichkeit vorenthalten.
Jahrbuch LT 30
— 466 —
werden, weil H. eine in gewisser Beziehung hervorragende Stellung-
einnahm: er war Stadtverordneter, Kreisausschussmitglied, Vor-
sitzender der Volksbank, Mitglied des Kirchenvorstandes, Vorstands-
mitglied der Aktiengesellschaft des katholischen Volksblattes
Dtirener Anzeiger und seit langen Jahren der Führer der hiesigen
Zentrumspartei. Ein Mitbeschuldigter und ein Mitwisser, der seine
Kenntnis der Vergehen zu Erpressungen benutzt hat, sind ebenfalls
verhaftet. Wie es heisst, stehen noch weitere Verhaftungen wegen
erpresserischer Ausbeutung bevor.
Düren, 12. Mai. Die Inhaftierung des Fabrikanten Clemens
Aug. Hoffstimmer wegen Vergehens gegen § 175 zieht immer weitere
Kreise. In den letzten Tagen nahm die Polizeibehörde wieder
mehrere Personen in Haft, welche der Beihilfe bezw. Erpressung-
angeschuldigt sind.
(Anmerkimg. Hoffsümraer wurde in der Hauptverhandlung zu
6 Monaten Gefängnis verurteilt. Die Freilassimg gegen 20000 Mk.
Kaution war wegen Fluchtverdacht abgelehnt worden. Eine längere
Beobachtung in einer Irrenanstalt hatte keinen Ausschluss der freien
Willensbestimmung ergeben. Ein Mitschuldiger, weil er von H.
Geld genommen habe und vorbestraft war, erhielt 18 Monate.
„Monseigneur" Sarah. Wir haben von der Begeisterung-
erzählt, mit der Sarah Bernhardt ihre Rolle in Rostands neuem
Werk „Dejun 'o Adler* 1 probiert. Diese Begeisterung nimmt nach
dem Bericht französischer Blätter ganz eigentümliche und sehr
amüsante Formen an. Sarah spielt, wie schon erwähnt, in dem
Werk die Rolle des Herzogs von Reichstadt Sie hat für diese Aut-
gabe bei ihrem letzten Gastspiel in Wien sehr eingehende historische
Studien gemacht und sogar wie damals Wiener Zeitungen erzälten,
Exerzierunterricht genommen. Das war aber der strebsamen Künst-
lerin noch nicht genug. Seit einiger Zeit trägt sie in ihrer Wohnung
überhaupt nur noch die Uniform: weissen Waffenrock, Beinkleid,
seidene Strümpfe, Schärpe und Degen. So empfängt sie ihre In-
timen zum Dejeuner, und es ist strenge Vorschrift für alle Freunde
des Hauses, die geniale Wirtin mit der ehrfurchtsvollen Anrede
„Monseigneur" oder „Hoheit" zu begrüssen. Wer sich ganz be-
sonders beliebt machen will, der treibt selbst Kostümstudien und
macht die „Göttliche" respektvoll darauf aufmerksam, wenn noch
irgend was an Tracht und Benehmen unmilitärisch und unseitgemäss
ist Das künstlerische Hofzeremoniell, mit dem sich Sarah nmgiebt,
hat natürlich schon manche erheiternde Episode veranlasst. So liess
sich kürzlich einer der bekanntesten Schöngeister der Pariser Ge-
— 467 —
Seilschaft bei der Künstlerin melden. „Hat Hoheit Ihnen eine
Audienz bewilligt V" fragte man ihn. „Hoheit?!" „Haben Sie eine
Karte bei sich?" „Freilich!" antwortete der Besucher erstaunt;
sonst wurde er nämlich auch ohne Karte eingelassen! Nach einer
kurzen Wartezeit erhält er den Bescheid, dass „Monseigneur geruhen
wolle, ihn zu empfangen", folgt völlig verwirrt und gespannt dem
führenden Diener und steht plötzlich vor einem zierlichen Jüngling
in Uniform, der ihm lachend die Hand entgegenstreckt und ihn
nach Neuigkeiten aus Nizza fragt. Es ist „Monseigneur" Sarah, der
weibliche Herzog von Reichstädt. . .
Die Zofe in Hosen. Es ist ein Zug der Zeit, den man in
aller Herren Länder beobachten kann, dass das weibliche Geschlecht
(üe Männer aus vielen ihrer Stellungen verdrängt. Da ist es denn
eine wahre „Erquickung", auch einmal das Gegenteil zu hören, z.
B. dass die also um ihren Dienst Gebrachten ihrerseits manche
Domäne der Frauen, z. B. die des — Kammerkätzchens an sich
reissen. Wo anders aber als bei den fashionablen Damen New-
Yorks wäre so etwas möglich? Eine Modedame der nordameri-
kanischen Weltstadt schreibt darüber einer Freundin: „Ich habe
raeine Zofe entlassen und einen Kammerdiener angenommen. Und
ich muss sagen, ich bin nie in meinem Leben besser bedient worden.
Meine Kleider werden vorzüglich in Stand gehalten, meine Stiefel,
Schuhe und Pantoffeln sind stets wie neu; meine Frisur ist nie
reizender gewesen. Auf der Reise ist mein Diener unersetzlich.
Nichts vergisst er, und packen kann er wie ein Engel! Meine
Schwester wollte sich tot lachen, als sie meinen Jean meine Koffer
auspacken und meine Dinertoilette zurechtlegen sah. Ja, warum
denn nicht? Wenn Männer Damenschneider und „Modistinnen"
sind, so sehe ich nicht ein, warum sie nicht auch vorzügliche per-
sönliche Aufwärter sein sollten! Mein Jean kann einen Hut gar-
nieren oder ein Kleid umändern besser als irgend eine Zofe, die ich
je gehabt!" — (Wir bringen demnächst eine Abhandlung, die das
Vorstehende des Weiteren beleuchtet. D. R.)
Der Zeichenprofessor an der Währinger Realschule, Anton
Schimatschek, wurde heute in geheimer Verhandlung wegen Ver-
brechens des § 129 St.-G., begangen an Schülern, zu einem Jahre
schweren Kerkers verurteilt. Die Gerichtsärzte, welche den Ange-
klagten einer längeren Untersuchung unterzogen hatten, gaben das
Gutachten ab, dass er nicht normal veranlagt, aber doch als zu-
rechnungsfähig anzusehen sei.
30*
— 468 —
Versuchter Mord und Selbstmord. Eine Fainilien-
tragödie eigener Art hat sich am Sonnabend in früher Morgenstunde
auf dem Gesundbrunnen abgespielt. Die Schaffherfrau Therese
Heuer stürzte sich, nachdem sie ihren Mann mit einem Beile am
Hinterkopfe schwer verletzt hatte, aus dem Fenster ihrer, im vierten
Stock des Hauses Koloniestrasse 42 gelegenen Wohnung auf den
Hof hinab und fand auf der Stelle den Tod, Ueber das traurige
Ereignis haben wir folgende Einzelheiten ermittelt. In dem genannten
Hause wohnte seit dem 1. Oktober d. J. der am 9. November 1879
geborene Pferdebahnschaffher Ernst Heuer mit seiner im Jahre 1869
geborenen Ehefrau Therese, geb. Neumann. Heuer hatte sich erst
vor Kurzem vom Strassenbahnhof in der Müllerstraase nach dem
Bahnhof auf dem Gesundbrunnen versetzen lassen. Die seit faat
vier Jahren bestehende Ehe des Paares war glücklich, obwohl der
Mann noch in einem sehr jungen Alter stand und seine Frau zehn
Jahre mehr zählte als er. Vor einem Vierteljahre machte Heuer die
Bekanntschaft eines jungen Mannes, zu dem er infolge ge-
schlechtlicher Verirrungen in nähere Beziehungen
trat. Nun war es mit dem Eheglück vorbei. Zank und Streit ent-
zweiten die Eheleute immer mehr. Schliesslich machte der Mann
Anstalten, seine Frau zu verlassen, weil er seinen Bekannten ihr
vorzog. Die Frau, die ihm sehr zugethan war, wollte nicht von ihm
lassen. Als sie endlich einsah, dass kein Auskommen mehr mit ihm
war, beschloss sie, ihn umzubringen und ihm dann in den Tod zu
folgen. Zur Ausführung dieses Planes wurde sie veranlasst, ab*
Heuer am Freitag verschiedene Wirtschaftssachen und die Trauringe
wegschaffte. Aus ihrer Absicht hatte sie schon früher auch ihrem
Manne gegenüber kein Hehl gemacht. Dass der Plan feststand,
geht auch aus Briefen hervor, in denen sie die Straasenbahn-Direktion
und ihren Bruder über die Verhältnisse aufklärte. Heuer rechnete
also damit, dass seine Frau etwas gegen ihn unternehmen könnte.
Als er daher Freitag Abend spät nach Hause kam und abermals
eine Auseinandersetzung mit seiner Frau hatte, nahm er heimlich
das Küchenbeil an sich und legte es unter sein Kopfkissen. Frau
Heuer wartete die Zeit ab, bis um 4 Uhr Sonnabend Morgen ihr
Mann im tiefsten Schlafe lag. Dann schlich *ie sich an sein Bett
heran, nahm leise das Beil, das sie dort gleich vermutete, als sie es
in der Küche nicht fand, unter dem Kissen hervor und versetzte
damit ihrem Manne mehrere Hiebe über den Kopf. In der Meinung,
dass sie ihn getötet habe, ergriff sie dann ein scharfgeschliffenea
Kttchenmesser und eine Scheere tmd machte sich daran, sich die
Pulsadern zu öffnen. Heuer war jedoch nicht tot. Er sah das Be-
— m —
ginnen seiner Frau, raffte sich auf und sprang aus dem Bette, um
sie vom Selbtmord abzuhalten. Die Frau warf sich ihm entgegen,
brachte ihm mit der Scheere einen Stich in den rechten Unterarm
bei und lief dann weg zu einer Frau Schulz, die mit ihrem Manne
eine Treppe höher wohnt. Während ihr Mann sich zur nächsten
Unfallstation schleppte und von dort nach der Charitee gebracht
wurde, klagte Frau Heuer der Nachbarin ihr Leid. Nim müsse sie
erst recht aus dem Leben scheiden, da ihr die Verhaftung und das
Zuchthaus drohe. Frau Schulz suchte sie zu beruhigen und glaubte,
damit nach einigen Stunden auch Erfolg zu haben. Als sie dann
aber gegen 6'/t Uhr auf einen Augenblick das Wohnzimmer ver-
Hess, stürmte Frau Heuer ans der Küche dorthin, riss ein Fenster
auf und stürzte sich aus dem vierten Stock auf den Hof hinab, wo
sie mit zerschmetterten Gliedmassen tot liegen blieb. In der neunten
Stunde wurde die Leiche nach dem Schauhause abgeholt.
Meiningen. Ungeheures Aufsehen erregt die Entdeckung,
dass der bekannte Geologe Dr. P., Lehrer am hiesigen Realgymnasium,
jahrelang an Zöglingen Vergehen begangen hat, die unter die
§§ 174 und 175 des Strafgesetzbuches fallen. P. ist geflüchtet und
wird steckbrieflich verfolgt.
New -York. Jacob Beresheim, ein Junge von 15 Jahren, ist
der geständige Mörder des Restanrateurs Kraner, der, wie schon
gemeldet, mit eingeschlagenem Schädel und abgeschnittener Kehle
in seinem Lokale tot aufgefunden wurde. Der Knabe Beresheim
— Krauer liebte es, junge Burschen als Gehilfen zu engagieren —
war ziüetzt bei ihm gesehen worden und wurde leicht ermittelt.
Zuerst leugnete er hartnackig. Da ihm aber bewiesen wurde, dass
er schon früher einen Mordanfall auf Krauer gemacht,? legte er ein
Geständnis ab. Es ist festgestellt, dass der Knabe, der von den
eigenen Eltern als zum Auswurf der schlimmsten Sorte gehörig ge-
schildert wird, auf Grund geheimer Beziehungen zu Krauer fort-
während Geld von ihm erpresste und sich zu einem Mordanfall auf
ihn verstieg, als Kraner schliesslich kein Geld mehr herausrücken
wollte. Wenn kein Komplize ermittelt werden kann, wird die
Affäre mit Ueberweisung des Knaben an eine Besserungsanstalt
enden, die hier als Hochschulen des Verbrechens gelten. — ,Es muss
gesagt werden, dass ganze Banden von Früchtchen dieser Sorte die
Stadt durchstreifen.
— 470 —
Wegen Päderastie angeklagt waren der wegen Sittlichkeits-
verbrechen vorbestrafte Kellner Bernhard Sendker und der Kellner
Heinrich Kippner von hier. Letzterer ist flüchtig. Das Gericht ver-
urteilte den Sendker zu 1 Jahr Gefängnis und 5 Jahren Ehrverlust.
Die beiden Freunde. Wie bereits bekannt, suchten gestern
Abend zwei Freunde durch einen Sprung in die Donau ihrem Leben
gewaltsam ein Ende zu bereiten. Der Eine fand den Tod, der
Andere, Rudolph Gottlieb, wurde von zwei Matrosen gerettet und
in das Spital der Barmherzigen Brüder überführt Nach einer etwa«
unruhig verbrachten Nacht hat sich Gottlieb bereits soweit erholt,
dass er heute Mittag das Krankenhaus verlassen konnte. Im Laufe
des Vormittags liess er auch seine Behauptung, dem Freunde nach-
gesprungen zu sein, um ihn zu retten, fallen, und gestand, daas er
mit tyJwy gemeinsam zu sterben beabsichtigt habe. Er gab an»
dass die drückende materielle Lage sie zu dem verzweifelten Schritte
getrieben habe, dass er nicht länger mit ansehen konnte, wie es
seinem Freunde von Tag zu Tag schlechter ging, so dass er schliess-
lich hungern musste. Als er sah, dass Löwy gegen das Schicksal
vergeblich ankämpfe, gab auch er seine Stellung auf. Gemeinsam
verzehrten die Beiden die kleinen Ersparnisse Gottliebs und als sie
damit zu Ende waren — mit den letzten Kreuzern wurde gestern
Abend noch das Abschiedsmahl beglichen — stürzten sie sich ins
Wasser. Gottlieb zeigte keine Freude über seine Rettung. Er
äusserte, dass ihm das Leben ohne den Freund ohnedies
nicht mehr freue.
Hannover, 29. Dezember. (Landgericht, Strafkammer Ia.)
Unter Ausschluss der Oeffentlichkeit wird gegen den Restanratenr
Martin «Janssen und den Kellnerlehrling Louis Funke von hier wegrn
widernatürlicher Unzucht verhandelt. Während Funke mit einem
Verweise davonkommt, wird Janssen mit 4 Monaten Gefängnis
bestraft.
„Berüner Morgenpost - vom 17. Oktober 1899 schreibt: Auf
dem Herrenball. Vor uns liegt ein kleines, weisses Billet, das
die Worte trägt: „ Einlasskarte zu dem am Freitag, den 13. Oktober
stattfindenden Kostümfest". Ein liebenswürdiger Freund unsere*
Blattes hat uns das Billet verschafft, mit dem Bemerken: „doch ja
teilzunehmen an diesem Kostümfest, auf dem man sich ohne Damen
amüsiert. 11 So betraten wir denn Freitag Nacht um 11 Uhr den
großen Festsaal des Hotels r König von Portugal 14 in der Burg-
— 471 —
Strasse, um unserer Pflicht als Ball-Berichterstatter Genüge zu leisten.
Die Lokalitäten sind fast überfüllt. Mehrere hundert Herren im
eleganten Frackanzug oder im Leibrook stehen oder sitzen in
•Gruppen umher, vertraulich miteinander plaudernd. Es scheint, als
ob Alle mit einander intim befreundet sind. Soeben tritt ein neuer
Ballbesucher ein, der ohne Weiteres von den Anwesenden begrüsst
wird. Man schüttelt ihm die Hände, einzelne der älteren Herren
umarmen sogar den hübschen jungen Mann, der mit der Bescheiden-
heit eines Backfisches die Liebkosungen Jener duldet. Jetzt tritt
ein anscheinend den oberen Zehntausend angehöriger Herr auf den
Neuangekommenen hinzu, reicht ihm den Arm und führt ihn zum
Platz, in genau derselben artigen, saloninässigen Weise, wie der
betreifende Herr sich in der Gesellschaft einer Dame gegenüber
benommen haben würde. Jetzt spielt die Musik einen lustigen
Walzer. Im Nu wirbeln fünfzehn bis zwanzig Paare, natürlich nur
Herren, durch den Saal. Die Herren, die die Damen markieren,
sind meistenteils junge Männer im Alter von 20—25 Jahren. Sie
wiegen sich graziös in den Hüften, spenden nach rechts und links
kokette Blicke und fächern sich, vom Tanze ermüdet, mit dem
Spitzentaschentuch Luft zu. Eine Stunde später hat die Gesellschaft
eine andere Physiognomie angenommen, denn die „Damen" sind er-
schienen. Wenn wir „Damen" schreiben, meinen wir natürlich
Herren, die im Damenkostüm, begleitet von Freunden im Frack
und Chapeau-Claque, den Saal betreten haben. Die betreffenden
„Damen" benehmen sich genau so, wie ihre Kolleginnen weiblichen
Geschlechts, artig, dezent und gefallsüchtig. Das „Baby", ein blut-
junger Bursche, bleibt zaghaft an der Thür des Saales stehen, trotz
Zuredens ihres Begleiters, eines älteren, vornehm aussehenden Herrn,
dem man unschwer den gewesenen Militär anmerkt. Trippelnd, die
Augen niederschlagend, ganz wie ein junges Mädchen, das zum
ersten Mal einen Ball besucht, schreitet die „Schöne" endlich durch
den Saal, sofort umringt von einer Anzahl Kavaliere, die ihr ob
ihres Aussehens die schmeichelhaftesten Komplimente sagen. Viel
selbstbewusster ist jene elegante, fast königliche Erscheinung, die
in schwarzseidenem, bis auf den Busen ausgeschnittenen, hoch-
eleganten Strasse nkleide, auf der blonden Lookenperrücke den
Reinbrandhut mit wallenden Federn, im Saal erscheint. „Das ist
die Baronin", flüstert mir ein an demselben TiBch sitzender Herr
zu. Unter diesem Spitznamen verbirgt sich ein in den Kreisen der
Männerbälle sehr bekannter Schauspieler, der allabendlich in einem
Vorstadttheater als jugendlicher Liebhaber die Herzen der Theater-
besucherinnen entzückt. Einfach „chic" gekleidet sind zwei
— 472 —
„Damen", die in Pariser Balltoillete erscheinen. Sie verstehen es,
sich ihre Bewunderer eine Meile weit vom Halse zu halten. Die
Konversation mit ihren Anbetern erinnert lebhaft an eine solche,
wie man sie auf dem Subskriptionsball oder ähnlichen vornehmen
Vergnügungen zu führen pflegt Jetzt kommt Leben in die Bude.
Eine Pariser Kokette, von der Grösse eines Garde-Kürassier«, betritt
den Saal unter allgemeinem Hailoh der Ballbesucher. Die „schöne
Emilie" — im bürgerlichen Leben der Friseur Emil F. — wirft sich
lachend einem schneidigen, jungen Kavalier in die Arme und rast,
während die Musik einen Galopp spielt, mit ihrem Partner mänaden-
haft durch den Saal. Gegen Mitternacht hat das „schönere männ-
liche Geschlecht" fast die Majorität erreicht. „Engagieren zum
Contre", ruft der Tanzmaitre und im Nu haben sich die Paare ge-
ordnet Im wilden Durcheinander werden die Touren getanzt.
Während sich die Paare in den Nebensälen verlieren, um zu flirten,
wird die Kaffeetafel gedeckt. Jetzt beginnt ein „Symposion der
Freunde", pikante Toaste auf die „Damen" steigen, und noch
pikantere Vorträge werden gehalten. Dann aber drängt Alles wieder
stürmisch zum Tanz, eine schneidige Polonaise folgt mit allerhand
Ueberraschungen. Es ist 2 Uhr morgens geworden, und es wird
immer voller im Saal. Jetzt ein allgemeines „Hailoh". Die erste,
wirkliche Tochter Evas ist erschienen. Ihr folgen andere Kolleginnen
der feineren Demimonde, und nun beginnt ein merkwürdiger Kampf
zwischen „Damen" und Damen um die Gunst des stärkeren Ge-
schlechts. Wir müssen gestehen, dass der Sieg auf Seiten der
„ Herrendamen u verblieb, und dass es zn recht interessanten Rede-
Duellen zwischen den Nebenbuhlerinnen kam. Erst gegen Morgen
endete dieser Herrenball, der übrigens im Januar oder Februar
wiederholt wird. Auch in einem Lokale der Weberstrasse finden
ähnliche Vergnügungen statt, auf die natürlich die Kriminalpolizei
ein recht scharfes und wachsames Auge hat.
Ein Fest ohne Männer. „Ein Fest ohne uns, so was giebt's
ja garnicht!" rufen die Herren der Schöpfung erstaunt, missbilligend,
vor allem ungläubig ihren Schnurrbart streichend. Ja, das giebt
es, meine Herren, aber beruhigen Sie sich, nur alle zwei Jahre ein-
mal in der Berliner Philharmonie. Zu diesem Abend jedoch rüsten
sich die Damen mit einem Eifer, einer Leidensehaft, als gälte ea
eine heilige Sache, die Ehre ihres ganzen Geschlechtes. J)a wird
gesonnen, gezeichnet, geschneidert und das alles — zum Besten der
Pensions- und UnterstUtzungskasse des Vereins Berliner Künstler-
innen, für das Kostümfest der Berliner Künstlerinnen. Da der An-
— 478 —
drang zu diesen ebenso originellen wie lustigen Festen stets ein
ganz ungeheurer ist — man spricht diesmal von 2500 Teilnehmer-
innen — so hat die Festleitung alle Räume der Philharmonie ge-
mietet, selbst den Beethovensaal und den grossen, weissen Ober-
lichtsaal. Der Beethovensaal ist sonst nur der Schauplatz gediegener
Konzerte, gestern aber produzierte sich in den feierlichen Hallen
das Spezialitäten-Theater, finden Übermütige, komische Aufführungen
statt, ja es tanzen hier drei Primaballerinen der Königlichen Hot-
oper, die dem Festkomitee in liebenswürdigster Weise ihre Mit-
wirkimg angeboten hatten. Um 8 Uhr beginnt das Fest, aber schon
lange vorher stehen Hunderte ungeduldiger Füsschen frierend vor
dem verschlossenen Portale, es ist ein Lachen, Kichern, Zurufen;
man kann es nicht erwarten, bis unser Fest, das Fest der Damen
allein, anfängt. Sonst ist es den besorgten und neugierigen Vätern,
Brüdern, Gatten etc. gestattet gewesen, ihre Angehörigen bis in
die Garderobe zu begleiten, dort ein wenig von den Herrlichkeiten
und Schönheiten zu erlugen, zu denen sie als berechtigte Zuschauer
nicht zugelassen werden, indessen gestern ist auch dies unschuldige
,,Zaunvergnügen" den Herren verboten worden, und so waren sie
ganz auf das beschränkt, was sie auf der Strasse zu erhaschen ver-
mögen. Dort sieht man, wenn die Damen ihren Wagen verlassen,
eine Menge phantastischer Gestalten, Männlein und Weiblein, denn
die Hälfte, die starke Hälfte der Damen erscheint in
Herrentracht. Es reizt sie gerade, sich als Mann zu
zeigen und zu fühlen, den Hof zu machen, den Schwerenöther
zu spielen, und die hübschen Fräulein lassen sich das gerade so
gern gefallen, als wenn der Courmacher ein „wirklicher" Mann
wäre. Stolz schreiten wir an dem gedrängten, eifrig spähenden
Aussenpublikum vorbei — wir gehören ja „dazu" — und treten
ein. Welch' ein Gesumm, welch' ein Lachen und Scherzen! Ich
behaupte keck, alle zwei Jahre wird einmal die Lustigkeit der
Berlinerin lebendig, dann aber auch gründlich. Hannlos kamerad-
schaftlich verkehrt Arm und Reich, die hohe Aristokratin mit der
einfachen, beim Knnathandwerk beschäftigten Arbeiterin. Und
darin, in dem Beweise, dass ein solcher vertraulich lustiger Verkehr
möglich ist, besteht, neben dem klingenden Ertrage, der Wert dieser
Feste. Es ist noch sehr früh, doch ist der grosse Saal der Phil-
harmonie schon ganz mit sich begrüssenden Gästen angefüllt. „Ge-
stalten aus Bildern!" lautete gestern die Parole. Nun, da giebt es
ein weites Feld, jede konnte genau das Kostüm wählen, das ihr
steht und zu dem sie sich hingezogen fühlt. Da viele Damen, wie
erwähnt, in Männertracht erschienen, bietet der Saal kaum ein an-
— 474 —
deres Bild als sonst, nur sind die Hände und Fiisse der „Herren* 4
so klein und zierlich, die Schnurrbarte (wenn sie da sind) so schön
und regelmässig, weil künstlich, und die Stimmen — ja (pardon
meine Damen) man kann von Anfang an nicht sein eigenes Wort
verstehen, in Stimmen also sind die Festgenossinnen sehr gross.
Um 9 Uhr ordnet sich das Gewirr, der grosse historische Festzug
beginnt. Voran schreiten Herolde in Renaissancetracht, dann folgen
£gypter, Apoll und die Musen stellen die griechische Kunst dar,
Mittelalter und Gothik bilden die Vorläufer der Florentiner und der
Renaissance. Die Zeit Reinbrandts zieht vorbei, repräsentiert durch
die Hauptgestalten aus Reinbrandts Bildern, man sieht Saskia mit
dem nickenden Federhute, den Meister selbst und alle die uns ver-
trauten energischen Charakterköpfe aus der grossen Kunstepoche
der Niederlande, tanzende Bauern aus holländischen Kinnesbildern
sorgen für den Humor im Festzuge. Nun erscheinen in feierlich
graziösem Schreiten Rococofigürchen, denen das Empire folgt.
Nicht zu vergessen ist eine Gruppe aus Deutschlands klassischer
Zeit der Literatur, Goethe, Schiller mit Frau Rath, Lessing und die
Anderen alle. Sehr anmutig ist der Festzug der Japaner, bei dem
reizende kleine Geisha-Mädchen Apfelblütenzweige schwingen. Das
neue Jahrhundert schliest den interessanten, wechselvollen Zug, er
bringt der Kunstrichtungen viele: Mystizismus, Symbolismus und
noch mehr der „lsmus u . Als der Zug die Bühne passiert hat, folgen
historische Tänze. Apoll lässt sich von seinen Musen umgaukeln,
die Florentiner schreiten einen Reigen, die holländischen Bauern
tollen und hopsen ganz naturalistisch umher, das Rococo wiegt sich
im Menuett, Japanerinnen neigen sich im Takte, ihre Blütenzweige
grüssend schwingend. Alle diese Aufführungen werden mit einer
Hingebung und einem Eifer aufgeführt, der etwas Elektrisierendes
hat und die Zuschauerinnen wieder und wieder zu lautem Beifall
hinreiset. Bald mischen sich die „historischen" Herrschaften von
der Bühne unter das Publikum, allgemeine Verbrüderung tritt ein.
es wird umarmt, geküsst, gelacht. In den Nebensälen steht
das Souper bereit, und als wir uns zum Schreiben zurückziehen,
sitzt sehon manches Pärchen beim perlenden Sekt Im Beet-
hovensaale finden, wie oben erwähnt, die Vorstellungen des
Spezialitäten-Theaters statt. Da wird ein Traum, frei nach Ibsen,
aufgeführt, ehr impressionistischer Clown produziert sich, und end-
lich, um 1 Uhr, wird eine Balletszene „Schäfer und Schäferin 14 von
Königlichen Ballettänzerinnen dargestellt. Ueberall Lustigkeit,
Grazie, Schönheit — wer hätte so viel Zauber unserem nüchternen
Berlin zugetraut?
— 475 —
Aus dem Sprechsaal des General- Anzeigers.
Back fisch- Phantasien.
Es reden und träumen die Menschen gar viel,
Die Liebe, die sei das schönste Ziel;
Doch das ist nicht wahr, und folglich erlogen,
Denn Liebe hat sicher am meisten betrogen.
Ach, wie ists möglich dann,
Dass einen Mann ich lieben kann?
Wir finden 1 » spleenig und verdickt,
Dass man ihn mit Liebe beglückt.
Denn er kennt nicht ihren Wert,
Schätzet nicht den eigenen Herd.
Täglich er ins Wirtshaus geht,
Doch die Frau ihn bittet, fleht:*
Er möchte doch zu Hause bleiben,
Sie müsse sich die Zeit vertreiben
Mit Strümpfe stopfen, Wäscheflicken,
Und so was solle die Frau beglücken V
Such' nicht beim Mann die wahre Lieb',
Sie ist der Frauen Herzenstrieb.
Warum muss es ein Mann denn sein,
Genügen wir uns nicht allein?
Auch wir haben einst gedacht,
Es gab' Liebe, die uns glücklich macht, —
Vorbei ist alle Schwärmerei,
Und uns're Herzen sind alle frei.
Wenn einstmals kommt ein falscher Mann,
Und lügt mit Schmeichelei uns an,
Und sagt, er liebe uns gar sehr,
So glauben wir ihm nimmermehr
Es war* viel schöner auf der Welt,
Gäbs keine Männer und kein Geld.
Lustige Backfische.
Ein weiblicher Hamlet, Mdme. Derigny, debütierte, wie
uns aus Paris berichtet wird, am gestrigen Tage in den Bouffes du
Nord. Die Künstlerin, die ähnlich wie Felicitas Vestvali und später
Madame Judith in Männerrollen exzelliert, begann ihre Tournee in
die Provinzen mit der gestrigen Matinee, die mit Beifall seitens der
zahlreichen Zuhörerschaft aufgenommen wurde.
— 476 —
Aus der Blütezeit der Beziehungen Richard Wagners zu
Ludwig II. stammt ein Schreiben des Königs an den Meister, das
die „Wage" mitteilt. Das enthusiastische Schreiben des Königs
lautet:
„Mein Inniggeliebter!
Eben erfuhr ich durch Pfistermeister, dass Sie wieder völlig
hergestellt sind. 0, mit welchem Freudenjubel begrüsste ich diese
Kunde. Wie brenne ich vor Sehnsucht nach ruhigen, weihevollen
Stunden, die es mir vergönnen werden, das langentbehrte Antlitz
des Teuersten der Erde wiederzusehen. Also Semper entwirft
den Plan zu unserem Heiligtume. Die Darsteller für das Drama
werden herangebildet. Brünnhilde wird bald errettet werden,
durch den furchtlosen Helden. 0, alles, alles ist im Gange. Was
ich geträumt, gehofft und ersehnt, wird nun bald in das Leben
treten, der Himmel steigt für uns auf die Erde hinab. 0 Heiliger,
ich bete dich an!
Also Tristan, hoffentlich im Mai!
0 sel'ger Tag, wenn der ersehnte Bau vor uns sich erheben
wird, sel'ge Stunden, wenn dort Ihre Werke vollkommen zur
That werden. „Wir werden siegen," riefen Sie mir zu in Ihrem
letzten teuren Schreiben. „Ja, wir werden!" rufe ich froh-
lockend zurück. Nicht umsonst werden wir gelebt haben. Ihnen
Dank, Heil!
Ihr bis in den Tod getreuer Ludwig.
5. Jänner 1865.
Die Kölnische Zeitung schreibt: Eine Erpressungsquelle müssen
wir auch in der recht unglücklichen Fassung erblicken, welche die
Strafvorechrift über die wissentliche Verbreitung gewisser Krank-
heiten erhalten hat; sie wird in der Praxis vorzugsweise von Dirnen
zu schamlosen Erpressimgsversuchen benutzt werden. Wenn man
sich daran erinnert, in welchem Umfange ein anderer Paragraph
des Stragesetzbuohs, § 175, der Ausnutzung für die niederträchtigste
Erpressung dient — an Hand der strafstatistischen Ergebnisse lässt
sich dies allerdings nicht nachweisen, weil die Opfer dieser Er-
pressungen meist nicht den Mut haben, sich an die Staatsanwalt-
schaft und damit an die Oeffentlichkeit zu wenden — , so kann man
nur mit Schrecken an die Wirkungen denken, welche diese Vor-
schrift haben wird. Der Staat muss über manche Unsittlichkeit
hinwegsehen, weil die Nachteile, die aus ihrer Beachtung hervor-
gehen würden, bei weitem grösser wären, als die mit ihrer gericht-
lichen Ahndung verbundenen rechtlichen und ethischen Vorteile.
— 477 —
Diese Grandwahrheit scheint man in der Kommission ans einem an
sich sehr löblichen Eifer nicht genügend beachtet zu haben; sonst
hätte man gewiss von der Aufnahme dieser Vorschrift abgesehen,
die Strafprozesse in Aussicht stellt, wie sie unangenehmer nicht
gedacht werden können. Es ist bedauerlich, dass die Kommission
sich nicht auf das beschränkt hat, was zur Zeit jedenfalls als das
Notwendigste und Wichtigste auf diesem Gebiete zu bezeichnen
ist, nämlich auf die Verschärfung der Strafbestimmungen über die
Kuppelei und den Zuhälterparagraphen; hierdurch wäre wohl auch
den verbündeten Regierungen die Zustimmung wesentlich erleichtert
worden.
Erster ^nhang.
In seiner ordentlichen Sitzung vom 1. Januar 1900
beschlose das unterzeichnete Komitee folgenden:
Aufruf.
Sehr geehrter Herr!
Im Jahre 1897 bildete sich das „Wissenschaftlich-
humanitäre Komitee*, welches es sich [zur Aufgabe setzte,
auf Grund der Selbsterfahrung von Tausenden und sicher
gestellter Forschungsergebnisse Klarheit darüber zu
schallen, dass es sich bei der Liebe zu Personen gleichen
Geschlechts, der Homosexualität, um eine Naturerscheinung*
handelt, und dafür zu arbeiten, dass der § 175 E.-Str.-
G.-B., dessen blosser Bestand für jeden conträrsexuell
Empfindenden, auch wenn er sich tadellos fuhrt, eine
fortgesetzte Beschimpfung und Beschuldigung bildet, ab-
geschafft wird. Dieses Gesetz hat zwar noch keinen
Konträrsexualen von seinem Triebe befreit, wohl aber
sehr viele brave und nützliche Menschen, die von der
Natur mehr als genug benachteiligt sind, ungerecht in
Schande, Verzweiflung, ja Irrsinn und Tod gejagt, selbst
wenn nur ein Tag Getängnis — in Deutschland das
niedrigste Strafmaass für diese Handlung — festgesetzt
oder selbst wenn nur eine Voruntersuchung eingeleitet
wurde.
Das unterzeichnete Komitee hat zur Erreichung seines
Zweckes eine umfassende Thätigkeit entfaltet. Es hat eine
— 479 —
Petition an die gesetzgebenden Körperschaften in Umlauf
gesetzt, welche die Beseitigung jener verhängnissvollen
Strafbestimmungen, die ein in seiner Art einzig da-
stehendes Erpressertum züchteten, bezweckte. Diese von
nahezu 1000 unserer ausgezeichnetsten Gelehrten und
Künstler unterzeichnete Eingabe hat sowohl in pleno
als auch in den Commissionen des Reichstags wiederholt
zu lebhaften Erörterungen Anlass gegeben. Nachdem
man im ersten Jahre Uebergang zur Tagesordnung be-
schlossen, hat man nach einer weiteren lebhaften Auf-
klärung bei der vorjährigen Beratung entschieden, die
Petition in Gemeinschaft mit einer auf den bisherigen
Vorurteilen beruhenden Gegeneingabe, welche übrigens
nur sehr wenige bedeutende Namen aufwies, der Regierung
als Material zu überweisen. Das Komitee hat sich
mit einer Anzahl von Abgeordneten persönlich und
schriftlich in Beziehungen gesetzt, es hat die Eingabe
zum Teil nebst Schriftenmaterial an sämtliche deutschen
Bundestürsten, Justizministerien, Anwaltskammern, Staats-
anwälte, Medizinalräte, wie an tausende von Professoren,
Richtern, Aerzten und Geistlichen gesandt.
Es hat die öffentliche Meinung weiter aufzuklären
gesucht, indem es fast allen grösseren Zeitungen Material
über das Wesen der gleichgeschlechtlichen Liebe zugehen
liess, und wenn auch nur wenige darauf direct eingingen,
so bewirkte es doch, dass man bei aus § 175 vorkommenden
Verhaftungen und Verhandlungen eine bedeutend mildere
Sprache fahrte, wie früher.
Das Komitee hat ferner ein „Jahrbuch für sexuelle
Zwischenstufen*' herausgegeben, welches sich die all-
seitige Erforschung der Homosexualität zur Aufgabe setzte,
und hat für dieses Werk die Mitarbeiterschaft namhafter
Autoren und das Interesse ausgedehnter Kreise gewonnen.
In jedem Falle, wo wir von gerichtlichen Verwicke-
— 480 —
lungen Homosexueller erfuhren, haben wir sämtlichen be-
teiligten Richtern, Staatsanwälten Verteidigern und Sach-
verständigen aufklärendes Material übersandt, wir haben
mehrfach Urninge, die sich an uns wandten, aus den
Händen ihrer Erpresser befreit, indem wir letztere den
Gerichten übergaben, ohne dass den unglücklichen Opfern
Unannehmlichkeiten erwuchsen, wir haben auch wieder-
holt auf Wunsch von Urningen deren Angehörige auf-
geklärt
Unser Hauptziel rauss es bleiben, dass der ver-
hängnisvolle § 175 nicht wieder in das Strafgesetzbuch
aufgenommen wird, dessen Revision für die nächsten
Jahre in sicherer Aussicht steht Um das zu erreichen,
bedarf es noch eines rastlosen Kampfes gegenüber er-
erbten Vorurteilen und mangelnder Sachkenntnis. Wie
jeder Kampf, erfordert auch dieser Mittel. Die bis-
herigen, von einigen wenigen hochherzigen Männern ge-
spendeten, sind erschöpft. Eine weitere erspriessliche
Thätigkeit in dem geschilderten Sinne kann nur entfaltet
werden, wenn Geldmittel in grösserem Umfange als bis-
her zur Verfügung gestellt werden.
Mit diesem Aufruf treten wir an jeden, der will,
dass ein nicht mehr erträgliches Unrecht aufhört, mit der
dringenden Bitte heran, durch feste Jahresbeiträge einen
Fonds zur Befreiung der Homosexuellen zu schaffen,
mit dem wir rechnen und arbeiten können. Einige
Herren haben damit begonnen, ein Herr aus Köln, der
pro Jahr 300 Mk., einige andere, die Beträge zwischen
20 und 100 Mk. zeichneten. Jeder Zeichner wird das
Jahrbuch gratis erhalten, in welchem dem Geber unter
discreter Bezeichnung Quittung geleistet sowie über die
Verwendung der Gelder Nachweiss geführt werden wird.
Unterstützen Sie, helfen sie bei dieser Kulturthat, wie
sie einer unserer ersten Schriftsteller nannte, damit diese
— 461 —
Verfolgungen und Verkennungen, diese Untersuchungen
und „ Selbstmorde aus unbekannten Gründen" aufhören,
welche die Nachwelt einst in das traurigste Kapitel der
Menschheitsgeschichte einreihen wird. Die Beiträge nimmt
der Unterzeichnete entgegen.
Mit grösster Hochachtung
Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee.
I. A. Dr. med. M. Hirschfeld,
Arzt in Charlottenburg, Berlineretrasse 104.
Zweiter Anhang.
III. Abrechnung/)
Für den Fonds zur Befreiung der Homosexuellen
gingen bei dem wissenschaftlich-humanitären Comite" ein:
1899
Mk.
April 12. Cassa-Bestand
4.45
„ 19. Spende
von
Dr. B. in L. . . . .
. 20.—
Mai 3.
ff
K. H. in E
. 10.—
, 17-
»
»
C. W. in D
2.80
, 26.
*
Anonym aus V. . . .
5.—
Juni 27.
*
»
E. W. H. in L. . . .
5.—
Juli 1.
ff
»
G. R in L
. 3.—
» 2.
n
*
G. R. in L
2.65
. 7.
ff
C. W. in D
. 5.—
, 8.
*
«
C. M. in N
8.40
, 20.
*
n
P. F. 0
. 15.—
» 24.
ff
9
M. G. in G
3.—
. 31.
*
ff
F. R. in D
. 50.—
. 31.
*
W
Anonym aus V. . .
5.—
August 19.
n
»
K. H. in E
. 20.—
, 19.
*
11
G. F. in W
1.45
, 28.
n
9
E. R. in K .
. 20.—
, 29.
n
ff
Numa Praetorius . .
. 100.—
• 29.
n
ff
B. R. in M
. 14.70
, 29.
»
ff
W. S. in M
. 20.—
, 29.
n
ff
Dr. M. M. in Köln . .
. 15.—
Transport 330.45
*) Die letzte Abrechnung befindet sieh im I. Jahrgange des
„ Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen". Diese Abrechnung
sohliesst mit dem 31. Dezember 1899 ab, einige Betrüge bu ganz
speziellen Zwecken sind nicht aufgeführt.
— 483 -
Transport 330.45
Septbr. 7. Spende von sub. ,25 A. P." . . . 10.—
„ 13. - , „Dr. M. M. in Rom . . 10.—
„ 14. „ ., sub. „R, S. 123" in Köln 300.—
, 22. , „ G. H. in G 9.50
, 26. , , Dr. F. in C 20.-
, 29. , „ G. H. in G 10.—
Oktober 2. , , B. L. in München . . 1.30
2. , „ O. in H 25.—
4. „ , C. W. in D 5.—
„ 11. , „ H. H. d. Numa Praetorius 5. —
, l.u.fr. , „ Soh. in B. • 40.—
Novemb. 2. „ , C. C. S. in H 10.90
6. , , F. B. in B 20.80
6. , , P. S. in M 10.—
„ 20. , » F. J. in Florenz . . . 45.—
, 28. „ „ D. in S. 25.—
Dezemb. 1. , „ P. O. in Berlin . . . 25.—
„ 7. „ „ S. R. in K 5. —
, 12. , „ E. W. H. in L. ... 5.—
„ 23. , , K. in Dortmund . . . 15. —
Einnahmen Sa. Mk. 927.95
13./4. 1899 bis 5./3. 1900 Ausgaben der Geschäfts-
stelle in Leipzig für Druckarbeiten,
Schreiberlohn , Litteraturbeschafiung,
Porti, Papier, Reisespesen 466.95
13./4.1899bi8 5.,3.1900 Ausgaben der Geschäfts-
in Berlin für Fertigstellung und Ver-
sandt von 7500 Fragebogen an Geist-
liche, Porti, Schreibgebühren, Propa-
ganda etc. 461. —
Ausgaben Sa. Mk. 927.95
Verlag von Max Spohr in Leipzig.
Aurelius, Rubi. Novelle M. 3.—
Carpenter, Eduard. Die homogene Liebe und deren
Bedeutung in der freien Gesellschaft. M. 1.20
Ein Weib? Psychologisch-biographische Studie über eine
Konträrsexuelle. M. 4. —
Ellis und Simonds, Das konträre Geschlechtsgefühl.
M. 6.—
Ellis, Havelock, Mann und Weib. Anthropologische und
psychologische Untersuchung der sekundären Ge-
schlechtsunterschiede. M. 7. —
Eros vor dem Reichsgericht. Ein Wort an Juristen,
Mediziner und gebildete Laien zur Aufklärung über
die „griechische Liebe". Von einem Richter. M. 1. —
Frey, Ludwig. Der Eros und die Kunst. Ethische
Studien. M. 6.—
— Die Männer des Rätsels und der Paragraph 175 des
deutschen Reichsstrafgesetzbuches. Ein Beitrag zur
Lösung einer brennenden Frage. M. 4. —
Grabowsky, Dr. med. Norbert, Die verkehrte Geschlechts-
empflndung oder die mannmännliohe und weibweib-
liche Liebe. Dritte Aufl. M. 1.20
— Die mannweibliche Natur des Menschen mit Be-
rücksichtigung des psychosexuellen Hermaphroditis-
mus. M. 1. —
Grobe, Dr. Melchior. Der Urning vor Gericht. Ein
forensischer Dialog. M. — .50
Halm, M. Die Liebe des Uebermenschen. Ein neues
Lebensgesetz. M. 1. —
Hartmann, O. O. Das Problem der Homosexualität im
Lichte der Schopenhauer'schen Philosophie. M. 1. —
Hermann, Hans. Die Schuld der Väter oder Ist die
gleichgeschlechtliche Liebe eine Sünde? M. 2. —
Hirschfeld, Dr. med. M. Die homosexuelle Frage im
Urteile der Zeitgenossen und der Paragraph 175 des
Reichsstrafgesetzbuchs. M. 1.50
Ist -freie Liebe" Sittenlosigkeit? Vom Verfasser des
Buches »Der Konträrsexualismus inbezug auf Ehe
und Frauenfrage 14 . M. 2. —
Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen unter besonderer
Berücksichtigung der Homosexualität. Herausgegeben
unter Mitwirkung namhafter Autoren vom wissen-
schaftl.-humanitären Komitee. I. Jahrg. M. 5.—
Verlag von Mnx Spohr in Leipzig-
Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen. II. Jahrg. M. 7. —
de Joux, Otto. Die Enterbten des Liebesglückes oder
Das dritte Geschlecht. IL Aufl. M 4.—
— Die hellenische Liebe in der Gegenwart. Psycho-
logische Studien. Mit dem Portrait des Verfassers.
M. 4.—
Karsch, Privatdozent Dr. F., Tribadie und Päderastie
bei den Tieren. M. 1. —
Der Konträrsexualismus inbezug auf Ehe und Frauen-
frage. M. —.80
Laster oder Unglück? Oder besteht der § 175 des
deutschen Reichstrafsgesetzbuches zu Recht? Eine
Gewissensfrage an das deutsche Volk von einem
Freunde der Wahrheit. M. 1.20
Laurent Dr. Emil, früher Arzt im Hauptkrankenhauee der
Pariser Getängnisse. Die krankhalte Liebe. Eine
psycho-pathologische Studie. M. 4. —
— Die Zwitterbildungen. Gynäkomastie, Feminismus,
Hermaphroditismus. M. 5. —
Petition an die gesetzgebenden Körperschaften des
deutschen Reichs mit nahezu 1000 Unterschriften
bekannter Persönlichkeiten. M. — .25
Ramien, Dr. med. Th. Sappho und Sokrates oder Wie
erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu
Personen des eigenen Geschlechts? M. 1. —
Sero, Os. Der Fall Wilde und das Problem der Homo-
sexualität. Ein Prozess und ein Interview. M. 1.50
Der Roman eines Konträr-Sexuellen. Mit einer Ein-
leitung: Der Uranismus von Maro- Andr^-Raffalo witsch.
Autorisierte Ausgabe von Wilhelm Thal. M. 1.80
Ulrichs, Karl Heinrich, (Numa Numantius). Vindex.
Sozial-juristische Studien über mannmännliche Ge-
schlechtsliebe. M. 1. —
— Inclusa. Anthropologische Studien über mannmänn-
liche Geschlechtsliebe. M. 1.50
— Vindicta. Kampf für Freiheit von Verfolgung.
— Formatrix. Antropologische Studien über urnische
Liebe. M. 1.50
— Ära spei. Moralphilosophische und sozialphilosophische
Studien über urnische Liebe. M. 2. —
Verlag von Max Spohr in Leipzig.
Ulrichs, Karl Heinrichs, Gladlus furens. Das Natur-
rätsel der Urningsliebe und der Irrtum als Gesetz-
geher. M. 1. —
— Memnon. Die Geschlechtsnatur des mannliebenden
Urnings. Körperlich-seelischer Hermaphroditismua.
— Incubus. Urningsliebe und Blutgier. M. 1.50
— Argonauticus. Zastrow und die Urninge des pietist-
ischen, ultramontanen und freidenkenden Laders.
— Prometheus. Beiträge zur Erforschung des Natur-
rätsels des Uranismus und zur Erörterung der sitt-
lichen und gesellschaftlichen Interessen des Urning-
tums. M. 1.50
— Araxes. Ruf nach Befreiung der Urningsnatur vom
Strafgesetz. M. 1. —
— Kritische Pfeile. Denkschrift über die Bestrafung
der Urningsliebe. M. 2. —
Ton Wächter, Theodor, Ein Problem der Ethik. Die
Liebe als körperlich-seelische Kraftübertragung.
M. 2.40
Wilpert, James, Das Recht des dritten Geschlechts.
M. 1.—
Ferner empfohlen:
Erkelenz, Dr., Strafgesetz und widernatürliche Unzucht
M. 1.—
Guttzeit, Joh., Naturrecht oder Verbrechen? M. 1.20
Knifft-Ebing, Professor Dr., Psychopathia sexualls.
10. Aufl. M. 9.—
— Neue Forschungen auf dem Gebiete der Psycho-
pathia sexualls. 2. Aufl. M. 3.60
— Der Konträrsexuale vor dem Strafrichter. M. 3.—
Moll, Dr. Albert, Die konträre Sexualempfindung.
3. Aufl. M. 10.—
— Libidio sexualls. 2 Bände. M. 18.—
Raffalorlch, Marc Andr6, Die Entwlckelung der Homo-
sexualität M. 1.20
Im Verlage von Max Spohr in Leipzig erschien:
Bibliothek
für
Sozial'Wissenschaften
mit besonderer Rücksicht auf
Soziale Anthopologie und Pathologie.
In Gemeinschaft mit
Havelock Ellls, Enrico Ferri, Cesare Lomhroso, Gast. H. Schmidt,
Galseppe Sergl a. Werner Sombardt.
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Dp. HANS KURELLA.
fid 1. Die Vererbung« Psychologische Untersuchung ihrer Go-
setzu, Ethischen and Sozialen Konseqnenzen von Th. Bibot.
Preis 10 Mk., geb. 11 Mk. 25 Pfg.
ßd. 2. Natürliche Auslese und Rassenverbesserung
von John B. Haycraf t. Preis 6 Mk., geb. 6 Mk 25 Pfg.
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suchung der sekundären Geschlechtsunterschiede von Havelock
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Bd. 4. Verbrecher und Verbrechen von Havelock Ellis.
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Enrico Ferri. Preis 1 Mk 50 Pfg., geb. 2 Mk 75 Pfg.
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phrodismus von ÜSmile Laurent. Preis 6 Mk., geb. 6 Mk. 25 Pfg.
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Ellie und J. A. Symonds. Preis 6 Mk., geb. 7 Mk. 25 Pfg.
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züge der Kriminal-Soziologie von Enrico Ferri. Preis 7.50 Mk.,
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Lorenz. Preis 3 Mk. 50 Pfg, geb. 4 Mk. 75 Pfg.
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Bd. 11. Englische Sozial-Reformer. Herausgegeben von
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Preis 6 Mk. 50 Pfg., geb. 7 Mk. 76 Pfg.
Bd. 13. Dor Alkoholismus nach Wesen, Wirkung und Verbreitung.
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Jahrbuch
für sexuelle Zwischenstufen
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besonderer Berücksichtigung der Homosexualität,
herausgegeben
unter Mitwirkung
namhafter Autoren vom wissenschaftlich humanitären
Comitöa in Leipzig und Berlin.
I. Jahrgang.
Preis broschiert 5 Mk., ele^. geb. 6.50 Mk.
Das Werk enthält :
Die objektive Diagnose der Homosexualität mit wertvollen Urnings-
Photographien und einem Enquetbogen von Dr. med. Hirschfeld-
Charlottenburg.
Vier Originalbriefe von Karl H- Ulrichs an seine Verwandten,
die hier zum ersten Male veröffentlicht werden.
Einen Artikel von Ludwig Frey über das Erpressertum.
Eine Abhandlung über die Gesetzesbestimmung gegen Urninge
vom Attertum bis zur Neuzeit aus der Feder eines hervorragenden
Juristen.
Auazuge aus den Tagebüchern des Grafen August von Platen»
Von philologischer Seite eine mehrere hundert Buchtitel um-
fassende Bibliographie der Homosexualität.
Ferner die Petition an die gesetzgebenden Körperschaften des
deutschen Reichs mit nahezu 1000 Unterschriften bekannter Per-
sönlichkeiten, sowie die bisher sich daran anschliessenden Reiche-
ltagsverhandlungen laut stenographischen Berichten.
Endlich die Abrechnung des Fonds zur Befreiung der Homosexuel I en.
Dieser vielseitig Inhalt z*i#t wohl zur UenlijEre, wie bochhedeut-
sam und hochinteressant dieses Werk ist. Es wendet «ich nieht nur
an die akademischen Kreist, sondern an alle, denen das Goethe»*? hü
Wort: „Das hoch Ate Wtudiuni der Menschhait ist der Mensch" ein
Wahrwort ist, vor allen aueh an die konträrsexuellen Männer und
Kranen selbst.
Das Jahrbuch erscheint auf Veranlassung des Wissenschaft lich-
hu man itareu (Komitees, das sich im Mai 1897 zu Berlin und Leipzig
konstituierte, und im Sinne der fortgeschrittenen wissenschaftlichen Er-
kenntnis für die Abschaffung des Ummgsparagraijhcn thatig zu sein-
Druck von CK Reichardt, Groitzsch,